Ansprache im Frankfurter Goethe-Haus 1930-051/1934
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    ANSPRACHE IM FRANKFURTER GOETHE-HAUS

    Meine Lebensarbeit war auf ein einziges Ziel eingestellt. Ich beobachtete
    die feineren Störungen der seelischen Leistung bei Gesunden und Kranken
    und wollte aus welchen Anzeichen erschließen, — oder, wenn Sie es lieber
    hören: erraten, — wie der Apparat gebaut ist, der diesen Leistungen dient,
    und welche Kräfte in ihm zusammen- und gegeneinanderwirken. Was wir,
    ich, meine Freunde und Mitarbeiter, auf diesem Wege lernen konnten,
    erschien uns bedeutsam für den Aufbau einer Seelenkunde, die normale
    wie pathologische Vorgänge als Teile des nämlichen natürlichen Geschehens
    verstehen läßt.
    Von solcher Einengung ruft mich Ihre mich überraschende Auszeich-
    nung zurück. Indem sie die Gestalt des großen Universellen heraufbeschwört,
    der in diesem Hause geboren wurde, in diesen Räumen seine Kindheit
    erlebte, mahnt sie, sich gleichsam vor ihm zu rechtfertigen, wirft sie die
    Frage auf, wie er sich verhalten hätte, wenn sein für jede Neuerung der
    Wissenschaft aufmerksamer Blick auch auf die Psychoanalyse gefallen
    wäre.
    An Vielseitigkeit kommt sie Leonardo da Vinci, dem Meister
    der Renaissance, nahe, der Künstler und Forscher war wie er. Aber Menschen-
    bilder können sich nie wiederholen, es fehlt auch nicht an tiefgehenden
    Unterschieden zwischen den beiden Großen. In Leonardos Natur vertrug
    sich der Forscher nicht mit dem Künstler, er störte ihn und erdrückte ihn
    vielleicht am Ende. In Goethes Leben fanden beide Persönlichkeiten Raum
    nebeneinander, sie lösten einander zeitweise in der Vorherrschaft ab. Es
    liegt nahe, die Störung bei Leonardo mit jener Entwicklungshemmung
    zusammenzubringen, die alles Erotische und damit die Psychologie seinem
    Interesse entrückte. In diesem Punkt durfte Goethes Wesen sich freier
    entfalten.
    Ich denke, Goethe hätte nicht, wie so viele unserer Zeitgenossen, die
    Psychoanalyse unfreundlichen Sinnes abgelehnt. Er war ihr selbst in manchen
    Stücken nahegekommen, hatte in eigener Einsicht vieles erkannt, was wir
    seither bestätigen konnten, und manche Auffassungen, die uns Kritik und
    Spott eingetragen haben, werden von ihm wie selbstverständlich vertreten. So
    war ihm z. B. die unvergleichliche Stärke der ersten affektiven Bindungen
    des Menschenkindes vertraut. Er feierte sie in der Zueignung der „Faust
    Dichtung in Worten, die wir für jede unserer Analysen wiederholen könnten:

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    „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
    Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.
    Versuch’ ich wohl, euch diesmal festzuhalten?“
    . . . . . . . .
    „Gleich einem alten, halbverklungen Sage
    Kommt erste Lieb’ und Freundschaft mit herauf.“

    Von der stärksten Liebesbeziehung, die er als reifer Mann erfuhr, gab
    er sich Rechenschaft, indem er der Geliebten zurief: „Ach, du warst in
    abgelebten Zeiten meine Schwester oder meine Frau.“
    Er stellte somit nicht in Abrede, daß diese unvergänglichen ersten
    Neigungen Personen des eigenen Familienkreises zum Objekt nehmen.
    Den Inhalt des Traumlebens umschreibt Goethe mit den so stimmungs-
    vollen Worten:

    „Was von Menschen nicht gewußt
    Oder nicht bedacht,
    Durch das Labyrinth der Brust
    Wandelt in der Nacht.“

    Hinter diesem Zauber erkennen wir die alterwürdige, unbestreitbar
    richtige Aussage des Aristoteles, das Träumen sei die Fortsetzung unserer
    Seelentätigkeit in den Schlafzustand, vereint mit der Anerkennung des
    Unbewußten, die erst die Psychoanalyse hinzufügt hat. Nur das Rätsel
    der Traumstellung findet dabei keine Auflösung.

    In seiner vielleicht erhabensten Dichtung, der „Iphigenie“, zeigt uns
    Goethe ein ergreifendes Beispiel einer Entsühnung, einer Befreiung der
    leidenden Seele von dem Druck der Schuld, und er läßt diese Katharsis sich
    vollziehen durch einen leidenschaftlichen Gefühlsausbruch unter dem wohl-
    tätigen Einfluß einer liebevollen Teilnahme. Ja, er hat sich selbst wieder-
    holt, in psychischer Hilfestellung versucht, so an jenem Unglücklichen,
    der in den Briefen Kraft genannt wird, an dem Professor **P l e s s i n g**, von
    dem er in der „Campagne in Frankreich“ erzählt, und das Verfahren,
    das er anwendete, geht über das Vorgehen der katholischen Beichte hinaus
    und berührt sich in merkwürdigen Einzelheiten mit der Technik unserer
    Psychoanalyse. Ein von Goethe als scherzhaft bezeichnetes Beispiel einer
    psychotherapeutischen Beeinflussung möchte ich hier ausführlich mitteilen,
    weil es vielleicht weniger bekannt und doch sehr charakteristisch ist. Aus
    einem Brief an Frau **v. S t e i n** (N. 1444 vom 5. September 1785):

    „Gestern Abend habe ich ein psychologisches Kunststück gemacht. Die Her-
    der war immer noch auf das Hypochondrische gespannt über alles, was ihr im
    Carlsbad unangemesses begegnet war, Besonders von ihrer Hausgenossin. Ich ließ
    mir alles erzählen und beichten, fremde Untaten und eigene Fehler mit der

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    kleinsten Umständen und Folgen und zuletzt absolvierte ich sie und machte ihr
    scherzhaft unter dieser Formel begreiflich, daß diese Dinge nun abgethan und
    in die Tiefe des Meeres geworfen seyen. Sie ward selbst lustig darüber und ist
    wirklich kurirt.“

    Den Eros hat **Goethe** immer hochgehalten, seine Macht nie zu ver-
    kleinern versucht, in seinen primitiven oder selbst unwilligen Äußerungen
    nicht minder achtungsvoll gefolgt, wie seinen hochsublimierten und hat,
    wie mir scheint, seine Wesenseinheit durch alle seine Erscheinungsformen
    nicht weniger entschieden vertreten als vor Zeiten Plato. Ja, vielleicht
    ist es mehr als zufälliges Zusammentreffen, wenn er in den „Wahlver-
    wandtschaften“ eine Idee aus dem Vorstellungskreis der Chemie auf das
    Liebesleben anwendete, eine Beziehung, von der der Name selbst der
    Psychoanalyse zeugt.

    Ich bin auf den Vorwurf vorbereitet, wir Analytiker hätten das Recht
    verwirkt, uns unter die Patronanz **Goethe**s zu stellen, weil wir die ihm
    schuldige Ehrfurcht verletzt haben, indem wir die Analyse auf ihn selbst
    anzuwenden versuchten, den großen Mann zum Objekt der analytischen
    Forschung erniedrigten. Ich aber bestreite zunächst, daß dies eine Er-
    niedrigung beabsichtigt oder bedeutet.

    Was alle, die wir **Goethe** verehren, lassen uns doch ohne viel Sträuben die
    Bemühungen der Biographen gefallen, der sein Leben aus den vorhandenen
    Berichten und Aufzeichnungen wiederherstellen wollen. Was aber sollen
    uns diese Biographien leisten? Auch die beste und vollständigste könnte
    die beiden Fragen nicht beantworten, die allein wissenswert scheinen.

    Sie würde die Rätsel der unübersehbaren Begabung nicht aufklären, die
    den Künstler macht, und sie könnte uns nicht helfen, den Wert und die
    Wirkung seiner Werke besser zu erfassen. Und doch ist es unzweifelhaft,
    daß eine solche Biographie ein starkes Bedürfnis bei uns befriedigt. Wir
    verspüren dies so deutlich, wenn die Ungunst der historischen Überliefe-
    rung diesem Bedürfnis die Befriedigung versagt hat, z. B. im Falle **Shake-
    speare**s. Es ist uns allen unleugbar peinlich, daß wir noch immer nicht
    wissen, wer die Komödien, Trauerspiele und Sonette **Shakespeare**s verfaßt
    hat, ob wirklich der ungelehrte Sohn des Strafforder Kleinburghers, der in
    London eine bescheidene Stellung als Schauspieler erreicht, oder doch eher
    der hochgeborene und feingebildete, leidenschaftlich unordentliche, einiger-
    maßen deklassierte Aristokrat **E d w a r d  d e  V e r e**, siebzehnter Earl of Oxford,
    erblicher Lord Great Chamberlain von England. Wie rechtfertigt sich aber
    ein solches Bedürfnis, von den Lebensumständen eines Mannes Kunde zu
    erhalten, wenn dessen Werke für uns so bedeutungsvoll geworden sind?

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    Man sagt allgemein, es sei das Verlangen, uns einen solchen Mann auch
    menschlich näherzubringen. Lassen wir das gelten; es ist also das Bedürfnis,
    affektive Beziehungen zu solchen Menschen zu gewinnen, sie den Vätern,
    Lehrern, Vorbildern anzureihen, die wir gekannt oder deren Einfluß wir
    bereits erfahren haben, unter der Erwartung, daß ihre Persönlichkeiten
    ebenso großartig und bewundernswert sein werden wie die Werke, die wir
    von ihnen besitzen.

    Immerhin wollen wir zugestehen, daß noch ein anderes Motiv im Spiele
    ist. Die Rechtfertigung der Biographen enthält auch ein Bekenntnis. Nicht
    herabsetzen zwar will der Biograph den Heros, sondern ihn uns näher
    bringen. Aber das heißt doch die Distanz, die uns von ihm trennt, verringern,
    wirkt doch in der Richtung einer Erniedrigung. Und es ist unvermeidlich,
    wenn wir vom Leben eines Großen mehr erfahren, werden wir auch von
    Gelegenheiten hören, in denen er es wirklich nicht besser gemacht hat
    als wir, uns menschlich wirklich nahe gekommen ist. Dennoch meine ich,
    wir erklären die Bemühungen der Biographik für legitim. Unsere Einstel-
    lung zu Vätern und Lehrern ist nun einmal eine ambivalente, denn unsere
    Verehrung für sie deckt regelmäßig eine Komponente von feindseliger
    Auflehnung. Das ist ein psychologisches Verhāngnis, läßt sich ohne ge-
    waltsame Unterdrückung der Wahrheit nicht ändern und muß sich auf
    unser Verhältnis zu den großen Männern, deren Lebensgeschichte wir er-
    forschen wollen, fortsetzen.

    Wenn die Psychoanalyse sich in den Dienst der Biographik begibt, hat
    sie natürlich das Recht, nicht härter behandelt zu werden als diese selbst.
    Die Psychoanalyse kann manche Aufschlüsse bringen, die auf anderen
    Wegen nicht zu erhalten sind, und so neue Zusammenhänge aufzeigen in
    dem Webermeisterstück, das sich zwischen den Triebanlagen, den Erleb-
    nissen und den Werken eines Künstlers ausbreitet. Da es eine der haupt-
    sächlichsten Funktionen unseres Denkens ist, den Stoff der Außenwelt
    psychisch zu bewältigen, meine ich, man müßte der Psychoanalyse danken,
    wenn sie auf den großen Mann angewendet zum Verständnis seiner großen
    Leistung beiträgt. Aber ich gestehe, im Falle von **Goethe** haben wir es
    noch nicht weit gebracht. Das rührt daher, daß **Goethe** nicht nur als
    Dichter ein großer Bekenner war, sondern auch trotz der Fülle autobio-
    graphischer Aufzeichnungen ein sorgsamer Verhüller. Wir können nicht
    umhin, hier der Worte **Mephisto**s zu gedenken:

    „Das Beste, was du wissen kannst,
    Darfst du den Buben doch nicht sagen.“