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[Briefkopf Wien] 30. 3. 22
Lieber Freund
Nach mehr als 14 Tagen entschließe ich mich, Ihren lieben Privatbrief nochmals durchzulesen, und entdecke Ihren Wunsch nach einem Sonderabdruck, der mir beim Empfang aus irgendeinem Grund keinen Eindruck hinterlassen hatte.
Mit Vergnügen tauche ich in die Fülle Ihrer wissenschaftlichen Einsichten und Absichten ein, frage mich nur, warum Sie meiner letzten Vermutung über die Natur der Manie nach Melancholie (in der Massenpsychologie) gar nicht gedenken. Sollte das etwa das Motiv meines Vergessens an »Trauer und Melancholie« sein? Für die Analyse ist doch kein Unsinn unmöglich. Zur Aussprache über alle diese Dinge – besonders mit Ihnen – verspürte ich noch Lust, zum Schreiben darüber keine Möglichkeit. Ich bin doch am Abend faul, und vor allem stehen die unaufschiebbaren »geschäftlichen« Korrespondenzen, Absagen von Vorträgen, Reisen, Mitarbeiterschaften u. dgl., einem vernünftigen Gedankenaustausch mit Freunden im Wege. Ich bin jetzt doppelt froh, daß wir die Rundbriefe eingeführt haben. Bei acht- und bald neunstündiger Arbeit komme ich auch nicht zur Sammlung, derer es für eine wissenschaftliche Leistung bedarf. In Gastein, vom 1. Juli – 1. August, hoffe ich einige kleine Dinge, wie ich sie Ihnen im Harz erzählt habe, fixieren zu können.
Der weitere Sommer, vom 1. August bis Mitte September, ist noch so unausgefüllt, wie die -
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Landkarte von Innerafrika in meiner Lernzeit war. Der österreichische Sommer wird ein schweres Problem. Vorläufig ist auch noch der Frühling grauslich.
Meine Tochter werden Sie früher sehen als ich und mit meinen beiden Söhnen sind Sie gewiß auch in Fühlung. Unser Haus ist recht einsam, gegenwärtig nur durch die amerikanische halbjunge Nichte belebt. Von Ihren amerikanischen Hörern ist jetzt nur noch einer hier, Dr. Polon. Dr. Frink soll aber am 26. April wiederkommen. Mrs. Strachey war gefährlich erkrankt, so daß sie wie ihr Mann8 die Analyse abgebrochen haben. Ersatz rückt
immer pünktlich ein, gegenwärtig habe ich drei Schweizer: Sarasin, die Kempner, und einen jungen Dr. Blum aus Zürich, drei Engländer, Rickman,die stolze Riviere, die Sie gewiß vom Haag erinnern, und einen morgen antretenden Prof. Tansley aus Cambridge und zwei Amerikaner – darunter der einzige Vollpatient. Zu Ostern soll eine eben promovierte holländische Dottoressa den Polon ablösen. Ich finde die Charakteranalysen bei den Schülern in mancher Hinsicht schwieriger als die bei Berufsneurotikern, habe aber freilich die neue Technik noch nicht heraus.
Grüßen Sie mir Ihre liebe Frau und die beiden rasch wachsenden Kinder herzlich. Ich wußte nichts davon, daß Ihre Frau eine so hartnäckige Ischias erworben hat.
Lassen Sie [sich] selbst wieder einmal zu einem Privatbrief hinreißen
an Ihren getreuen Freud
Berggasse 19
Wien 1090
Österreich
Bismarckallee 14
Berlin – Grunewald 14193
Deutschland
C15F2