Die Freud’sche psychoanalytische Methode 1904-001/1906
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    XIII.
    Die Freud’sche psychoanalytische Methode.1)

    „Die eigentümliche Methode der Psychotherapie, die
    Freud ausübt und als Psychoanalyse bezeichnet, ist aus
    dem sogenannten kathartischen Verfahren hervorgegangen,
    über welches er seinerzeit in den „Studien über Hysterie“
    1895 in Gemeinschaft mit J. Breuer berichtet hat. Die
    kathartische Therapie war eine Erfindung Breuer’s, der mit
    ihrer Hilfe zuerst etwa ein Dezennium vorher eine hysterische
    Kranke hergestellt und dabei Einsicht in die Pathogenese
    ihrer Symptome gewonnen hatte. Infolge einer persönlichen
    Anregung Breuer’s nahm dann Freud das Verfahren wieder
    auf und erprobte es an einer größeren Anzahl von Kranken.

    Das kathartische Verfahren setzte voraus, daß der Patient
    hypnotisierbar sei und beruhte auf der Erweiterung des Be-
    wußtseins, die in der Hypnose eintritt. Es setzte sich die
    Beseitigung der Krankheitssymptome zum Ziele und erreichte
    dies, indem es den Patienten sich in den psychischen Zustand
    zurückversetzen ließ, in welchem das Symptom zum ersten
    Male aufgetreten war. Es tauchten dann bei dem hypnotisierten
    Kranken Erinnerungen, Gedanken und Impulse auf, die in
    seinem Bewußtsein bisher ausgefallen waren, und wenn er
    diese seine seelischen Vorgänge unter intensiven Affekt-
    äußerungen dem Arzte mitgeteilt hatte, war das Symptom
    überwunden, die Wiederkehr desselben aufgehoben. Diese
    regelmäßig zu wiederholende Erfahrung erläuterten die beiden
    Autoren in ihrer gemeinsamen Arbeit dahin, daß das Symptom
    an Stelle von unterdrückten und nicht zum Bewußtsein ge-
    langten psychischen Vorgängen stehe, also eine Umwandlung
    („Konversion“) der letzteren darstelle. Die therapeutische

    1) Aus: Löwenfeld, Psychische Zwangserscheinungen, 1904.

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    Wirksamkeit ihres Verfahrens erklärten sie sich aus der
    Abfuhr des bis dahin gleichsam „eingeklemmten“ Affektes,
    der an den unterdrückten seelischen Aktionen gehaftet hatte
    („Abreagieren“). Das einfache Schema des therapeutischen
    Eingriffs komplizierte sich aber nahezu alle Male, indem
    sich zeigte, daß nicht ein einzelner („traumatischer“) Ein-
    druck, sondern meist eine schwer zu übersehende Reihe von
    solchen an der Entstehung des Symptoms beteiligt sei.

    Der Hauptcharakter der kathartischen Methode, der sie
    in Gegensatz zu allen anderen Verfahren der Psychotherapie
    setzt, liegt also darin, daß bei ihr die therapeutische Wirk-
    samkeit nicht einem suggestiven Verbot des Arztes über-
    tragen wird. Sie erwartet vielmehr, daß die Symptome von
    selbst verschwinden werden, wenn es dem Eingriff, der sich
    auf gewisse Voraussetzungen über den psychischen Mecha-
    nismus beruft, gelungen ist, seelische Vorgänge zu einem
    anderen als dem bisherigen Verlauf zu bringen, der in die
    Symptombildung eingemündet hat.

    Die Abänderungen, welche Freud an dem kathartischen
    Verfahren Breuer’s vornahm, waren zunächst Änderungen
    der Technik; diese brachten aber neue Ergebnisse und haben
    in weiterer Folge zu einer andersartigen, wiewohl der früheren
    nicht widersprechenden, Auffassung der therapeutischen Arbeit
    genötigt.

    Hatte die kathartische Methode bereits auf die Suggestion
    verzichtet, so unternahm Freud den weiteren Schritt, auch
    die Hypnose aufzugeben. Er behandelt gegenwärtig seine
    Kranken, indem er sie ohne andersartige Beeinflussung eine
    bequeme Rückenlage auf einem Ruhebett einnehmen läßt,
    während er selbst ihrem Anblick entzogen auf einem Stuhle
    hinter ihnen sitzt. Auch den Verschluß der Augen fordert er
    von ihnen nicht und vermeidet jede Berührung sowie jede
    andere Prozedur, die an Hypnose mahnen könnte. Eine
    solche Sitzung verläuft also wie ein Gespräch zwischen zwei
    gleich wachen Personen, von denen die eine sich jede Muskel-
    anstrengung und jeden ablenkenden Sinneseindruck erspart,
    die sie in der Konzentration ihrer Aufmerksamkeit auf ihre
    eigene seelische Tätigkeit stören könnten.

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    Da das Hypnotisiertwerden, trotz aller Geschicklichkeit
    des Arztes, bekanntlich in der Willkür des Patienten liegt,
    und eine große Anzahl neurotischer Personen durch kein
    Verfahren in Hypnose zu versetzen ist, so war durch den
    Verzicht auf die Hypnose die Anwendbarkeit des Verfahrens
    auf eine uneingeschränkte Anzahl von Kranken gesichert.
    Andererseits fiel die Erweiterung des Bewußtseins weg,
    welche dem Arzt gerade jenes psychische Material an Er-
    innerungen und Vorstellungen geliefert hatte, mit dessen
    Hilfe sich die Umsetzung der Symptome und die Befreiung
    der Affekte vollziehen ließ. Wenn für diesen Ausfall kein
    Ersatz zu schaffen war, konnte auch von einer therapeutischen
    Einwirkung keine Rede sein.

    Einen solchen völlig ausreichenden Ersatz fand nun
    Freud in den Einfällen der Kranken, d. h. in den ungewollten,
    meist als störend empfundenen und darum unter gewöhnlichen
    Verhältnissen beseitigten Gedanken, die den Zusammenhang
    einer beabsichtigten Darstellung zu durchkreuzen pflegen. Um
    sich dieser Einfälle zu bemächtigen, fordert er die Kranken
    auf, sich in ihren Mitteilungen gehen zu lassen, „wie man
    es etwa in einem Gespräch tut, bei welchem man aus dem
    Hundertsten in das Tausendste gerät“. Er schärft ihnen, ehe
    er sie zur detaillierten Erzählung ihrer Krankengeschichte
    auffordert, ein, alles mit zu sagen, was ihnen dabei durch
    den Kopf geht, auch wenn sie meinen, es sei unwichtig, oder
    es gehöre nicht dazu, oder es sei unsinnig. Mit besonderem
    Nachdruck aber wird von ihnen verlangt, daß sie keinen
    Gedanken oder Einfall darum von der Mitteilung ausschließen,
    weil ihnen diese Mitteilung beschämend oder peinlich ist. Bei
    den Bemühungen, dieses Material an sonst vernachlässigten
    Einfällen zu sammeln, machte nun Freud die Beobachtungen,
    die für seine ganze Auffassung bestimmend geworden sind. Schon
    bei der Erzählung der Krankengeschichte stellen sich bei den
    Kranken Lücken der Erinnerung heraus, sei es, daß, tatsächliche
    Vorgänge vergessen worden, sei es, daß zeitliche Beziehungen
    verwirrt oder Kausalzusammenhänge zerrissen worden sind,
    so daß sich unbegreifliche Effekte ergeben. Ohne Amnesie
    irgend einer Art gibt es keine neurotische Krankengeschichte.

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    Drängt man den Erzählenden, diese Lücken seines Gedächt-
    nisses durch angestrengte Arbeit der Aufmerksamkeit auszu-
    füllen, so merkt man, daß die hierzu sich einstellenden Ein-
    falle von ihm mit allen Mitteln der Kritik zurückgedrängt
    werden, bis er endlich das direkte Unbehagen verspürt, wenn
    sich die Erinnerung wirklich eingestellt hat. Aus dieser Erfahrung
    schließt Freud, daß die Amnesien das Ergebnis eines Vorgangs
    sind, den er Verdrängung heißt, und als dessen Motiv er
    Unlustgefühle erkennt. Die psychischen Kräfte, welche diese Ver-
    drängung herbeigeführt haben, meint. er in dem Widerstand,
    der sich gegen die Wiederherstellung erhebt, zu verspüren.

    Das Moment des Widerstandes ist eines der Fundamente
    seiner Theorie geworden. Die sonst unter allerlei Vorwänden
    (wie sie die obige Formel aufzählt) beseitigten Einfälle be-
    trachtet er aber als Abkömmlinge der verdrängten psychischen
    Gebilde (Gedanken und Regungen), als Entstellungen derselben
    infolge des gegen ihre Reproduktion bestehenden Widerstandes.

    Je größer der Widerstand, desto ausgiebiger diese Ent-
    stellung. In dieser Beziehung der unbeabsichtigten Einfälle
    zum verdrängten psychischen Material ruht nun ihr Wert für
    die therapeutische Technik. Wenn man ein Verfahren besitzt,
    welches ermöglicht, von den Einfällen aus zu dem Verdrängten,
    von den Entstellungen zum Entstellten zu gelangen, so kann
    man auch ohne Hypnose das früher Unbewußte im Seelenleben
    dem Bewußtsein zugänglich machen.

    Freud hat darauf eine Deutungskunst ausgebildet,
    welcher diese Leistung zufällt, die gleichsam aus den Erzen
    der unbeabsichtigten Einfälle den Metallgehalt an verdrängten
    Gedanken darstellen soll. Objekt dieser Deutungsarbeit sind
    nicht allein die Einfalle der Kranken, sondern auch seine
    Träume, die den direktesten Zugang zur Kenntnis des Un-
    bewußten eröffnen, seine unbeabsichtigten, wie planlosen
    Handlungen (Symptomhandlungen) und die Irrungen seiner
    Leistungen im Alltagsleben (Versprechen, Vergreifen u. dgl..)
    Die Details dieser Deutungs- oder Übersetzungstechnik sind
    von Freud noch nicht veröffentlicht worden. Es sind nach
    seinen Andeutungen eine Reihe von empirisch gewonnenen
    Regeln, wie aus den Einfällen das unbewußte Material zu

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    konstruieren ist, Anweisungen, wie man es zu verstehen habe,
    wenn die Einfälle des Patienten versagen, und Erfahrungen
    über die wichtigsten typischen Widerstände, die sich im Laufe
    einer solchen Behandlung einstellen. Ein umfangreiches Buch
    über „Traumdeutung“, 1900 von Freud publiziert, ist als
    Vorläufer einer solchen Einführung in die Technik anzusehen.

    Man könnte aus diesen Andeutungen über die Technik
    der psychoanalytischen Methode schließen, daß deren Erfinder
    sich überflüssige Mühe verursacht und Unrecht getan hat,
    das wenig komplizierte hypnotische Verfahren zu verlassen.
    Aber einerseits ist die Technik der Psychoanalyse viel leichter
    auszuüben, wenn man sie einmal erlernt hat, als es bei einer
    Beschreibung den Anschein hat, anderseits führt kein
    anderer Weg zum Ziele, und darum ist der mühselige Weg
    noch der kürzeste. Der Hypnose ist vorzuwerfen, daß sie
    den Widerstand verdeckt und dadurch dem Arzt den Einblick
    in das Spiel der psychischen Kräfte verwehrt hat. Sie räumt
    aber mit dem Widerstande nicht auf, sondern weicht ihm
    nur aus und ergibt dagegen nur unvollständige Auskünfte
    und nur vorübergehende Erfolge.

    Die Aufgabe, welche die psychoanalytische Methode zu
    lösen bestrebt ist, läßt sich in verschiedenen Formeln aus-
    drücken, die aber ihrem Wesen nach äquivalent sind. Man
    kann sagen: Aufgabe der Kur sei, die Amnesien aufzuheben.
    Wenn alle Erinnerungslücken ausgefüllt, alle rätselhaften
    Effekte des psychischen Lebens aufgeklärt sind, ist der Fort-
    bestand, ja eine Neubildung des Leidens unmöglich gemacht.
    Man kann die Bedingung anders fassen: es seien alle Ver-
    drängungen rückgängig zu machen; der psychische Zustand
    ist dann derselbe, in dem alle Amnesien ausgefüllt sind.
    Weittragender ist eine andere Fassung: es handle sich darum,
    das Unbewußte dem Bewußtsein zugänglich zu machen, was
    durch Überwindung der Widerstände geschieht. Man darf
    aber dabei nicht vergessen, daß ein solcher Idealzustand
    auch beim normalen Menschen nicht besteht, und daß man
    nur selten in die Lage kommen kann, die Behandlung an-
    nähernd so weit zu treiben. So wie Gesundheit und Krankheit
    nicht prinzipiell geschieden, sondern nur durch eine praktisch

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    bestimmbare Summationsgrenze gesondert sind, so wird man
    sich auch nie etwas anderes zum Ziel der Behandlung setzen
    als die praktische Genesung des Kranken, die Herstellung
    seiner Leistungs- und Genußfähigkeit. Bei unvollständiger
    Kur oder unvollkommenem Erfolge derselben erreicht man
    vor allem eine bedeutende Hebung des psychischen Allgemein-
    zustandes, während die Symptome, aber mit geminderter Be-
    deutung für den Kranken, fortbestehen können, ohne ihn zu
    einem Kranken zu stempeln.

    Das therapeutische Verfahren bleibt, von geringen Mo-
    difikationen abgesehen, das nämliche für alle Symptombilder
    der vielgestaltigen Hysterie und ebenso für alle Ausbildungen
    der Zwangsneurose. Von einer unbeschränkten Anwendbarkeit
    desselben ist aber keine Rede. Die Natur der psychoanaly-
    tischen Methode schafft Indikationen und Gegenanzeigen
    sowohl von seiten der zu behandelnden Personen, als auch
    mit Rücksicht auf das Krankheitsbild. Am günstigsten für
    die Psychoanalyse sind die chronischen Fälle von Psycho-
    neurosen mit wenig stürmischen oder gefahrdrohenden
    Symptomen, also zunächst alle Arten der Zwangsneurose,
    Zwangsdenken und Zwangshandeln, und Fälle von Hysterie,
    in denen Phobien und Abulien die Hauptrolle spielen, weiter-
    hin aber auch alle somatischen Ausprägungen der Hysterie,
    insoferne nicht, wie bei der Anorexie, rasche Beseitigung der
    Symptome zur Hauptaufgabe des Arztes wird. Bei akuten
    Fällen von Hysterie wird man den Eintritt eines ruhigeren
    Stadiums abzuwarten haben; in allen Fällen, bei denen die
    nervöse Erschöpfung obenan steht, wird man ein Verfahren
    vermeiden, welches selbst Anstrengung erfordert, nur lang-
    same Fortschritte zeitigt und auf die Fortdauer der Symptome
    eine Zeitlang keine Rücksicht nehmen kann.

    An die Person, die man mit Vorteil der Psychoanalyse
    unterziehen soll, sind mehrfache Forderungen zu stellen. Sie
    muß erstens eines psychischen Normalzustandes fähig sein;
    in Zeiten der Verworrenheit oder melancholischer Depression
    ist auch bei einer Hysterie nichts auszurichten. Man darf
    ferner ein gewisses Maß natürlicher Intelligenz und ethischer
    Entwicklung fordern; bei wertlosen Personen läßt den Arzt

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    bald das Interesse im Stiche, welches ihn zur Vertiefung in
    das Seelenleben des Kranken befähigt. Ausgeprägte Charakter-
    verbildungen, Züge von wirklich degenerativer Konstitution
    äußern sich bei der Kur als Quelle von kaum zu über-
    windenden Widerständen. Insoweit setzt überhaupt die
    Konstitution eine Grenze für die Heilbarkeit durch Psycho-
    therapie. Auch eine Altersstufe in der Nähe des fünften
    Dezenniums schafft ungünstige Bedingungen für die Psycho-
    analyse. Die Masse des psychischen Materials ist dann nicht
    mehr zu bewältigen, die zur Herstellung erforderliche Zeit
    wird zu lang, und die Fähigkeit, psychische Vorgänge rück-
    gängig zu machen, beginnt zu erlahmen.

    Trotz aller dieser Einschränkungen ist die Anzahl der
    für die Psychoanalyse geeigneten Personen eine außerordentlich
    große, und die Erweiterung unseres therapeutischen Könnens
    durch dieses Verfahren nach den Behauptungen Freuds eine
    sehr beträchtliche. Freud beansprucht lange Zeiträume,
    ½ Jahr bis 3 Jahre für eine wirksame Behandlung; er gibt
    aber die Auskunft, daß er bisher infolge verschiedener leicht
    zu erratender Umstände meist nur in die Lage gekommen
    ist, seine Behandlung an sehr schweren Fällen zu erproben,
    Personen mit vieljähriger Krankheitsdauer und völliger
    Leistungsunfähigkeit, die, durch alle Behandlungen getäuscht,
    gleichsam eine letzte Zuflucht bei seinem neuen und viel
    angezweifelten Verfahren gesucht haben. In Fällen leichterer
    Erkrankung dürfte sich die Behandlungsdauer sehr verkürzen
    und ein außerordentlicher Gewinn an Vorbeugung für die
    Zukunft erzielen lassen.“