Zur Kritik der „Angstneurose“ 1895-006/1911
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    VIL
    Zur Kritik der ,Angstneurose^).

    In Nummer 2 des Neurologischen Zentralblattes
    von Mendel 1895 habe ich einen kleinen Aufsatz verôffent-
    licht, in welchem ich den Versuch wage, eine Reihe von nervösen
    Zuständen von der Neurasthenie abzutrennen, und unter dem
    Namen ,Angstneurose“ selbständig zu machen,?) Ich ließ mich
    hierzu bewegen durch ein konstantes Zusammentreffen klinischer
    und ätiologischer Charaktere, das ja überhaupt für eine Sonderung
    maßgebend sein darf. Ich fand nämlich, worin mir E. Hecker?)
    zuvorgekommen war, daß die in Rede stehenden neurotischen
    Symptome sich sämtlich zusammenfassen ließen als zum Aus-
    druck der Angst gehörig, und ich konnte aus meinen Bemü-
    hungen um die Atiologie der Neurosen hinzufügen, daß diese
    Teilstücke des Komplexes „Angstneurose“ besondere ätiologische
    Bedingungen erkennen lassen, die der Ätiologie der Neurasthenie
    nahezu gegensätzlich sind. Meine Erfahrungen hatten mich ge-
    lehrt, daß in der Atiologie der Neurosen (wenigstens der er-
    worbenen Fälle und erwerbbaren Formen) sexuelle Momente
    eine hervorragende und viel zu wenig gewürdigte Rolle spielen,
    so daß etwa die Behauptung, „die Ätiologie der Neurosen liege
    in der Sexualität“ bei all ihrer notwendigen Unrichtigkeit per
    excessum et defectum doch der Wahrheit näher kommt als die

    1) Wiener klinische Rundschau, 1895,

    2) Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten
    Symptomenkomplex als „Angstneurose“ abzutrennen, von Dr. Sigm,
    Freud.

    ⑨ Е. Hecker. Uber larvierte und abortive Angstzustinde bei
    Neurasthenie. Zentralblatt fiir Nervenheilkunde, Dez. 1893.

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    anderen, gegenwärtig herrschenden Lehren. Ein weiterer Satz, zu
    dem mich die Erfahrung drängte, ging dahin, daß die verschie-
    denen sexuellen Noxen nicht etwa unterschiedslos in der
    Ätiologie aller Neurosen zu finden seien, sondern daß unver-
    kennbar besondere Beziehungen einzelner Noxen zu einzelnen
    Neurosen bestünden. Ich durfte so annehmen, daß ich die
    spezifischen Ursachen der einzelnen Neurosen aufgedeckt
    habe. Ich suchte dann die Besonderheit der sexuellen Noxen,
    welche die Atiologie der Angstneurose ausmachen, in eine kurze
    Formel zu fassen, und gelangte (in Anlehnung an meine Auf-
    fassung des Sexualvorganges, 1. 0. p. 61) zu dem Satze: Angst-
    neurose schaffe alles, was die somatische Sexualspannung vom
    Psychischen abhalte, an ihrer psychischen Verarbeitung store.
    Wenn man auf die konkreten Verhältnisse zurückgeht, in denen
    sich dieses Moment zur Geltung bringt, so ergibt sich die Be-
    hauptung, daß freiwillige oder unfreiwillige Abstinenz, sexueller
    Verkehr mit unvollstindiger Befriedigung, Coitus interruptus,
    ‚Ablenkung des psychischen Interesses von der Sexualität u. dgl. m.,
    die spezifischen ütiologischen Faktoren der von mir Angstneurose
    genannten Zustände seien.

    Als ich meine hier erwähnte Mitteilung zur Veräffent-
    lichung brachte, täuschte ich mich keineswegs über deren Macht,
    Überzeugung zu erwecken. Zuniichst konnte ich mir ja sagen,
    daß ich nur eine knappe, unvollständige, stellenweise sogar
    schwer verständliche Darstellung gegeben hatte, vielleicht gerade
    genügend, um die Erwartung der Leser vorzubereiten. Sonst
    hatte ich kaum Beispiele angeführt und keine Zahlen genannt,
    die Technik der Erhebung der Anamnese nicht gestreift, zur
    Verhütung von Mibverständnissen nichts vorgesorgt, andere als
    die naheliegendsten Einwände nicht berücksichtigt, und von der
    Lehre selbst eben nur den Hauptsatz und nicht die Einschrün-
    kungen hervorgehoben. Demnach konnte auch wirklich ein jeder
    sich seine eigene Meinung von der Verbindlichkeit der ganzen
    Aufstellung bilden. Ich konnte aber noch auf eine andere Er-
    schwerung der Zustimmung rechnen. Ich weiß sehr wohl, daß
    ich mit der „sexuellen Atiologie“ der Neurosen nichts Neues
    vorgebracht habe, daf) die Unterstrómungen in der medizinischen
    Literatur, welche diesen Tatsachen Rechnung getragen, nie aus-

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    gegangen sind, und daß die offizielle Medizin der Schulen sie
    eigentlich auch gekannt hat. Allein die letztere hat so getan, als
    wüßte sie nichts davon; sie hat von ihrer Kenntnis keinen
    Gebrauch gemacht, keine Folgerung aus ihr gezogen. Solches
    Verhalten muß wohl eine tiefgehende Begründung haben, etwa
    in einer Art von Scheu, sexuelle Verhältnisse ins Auge zu
    fassen, oder in einer Reaktion gegen ältere, als überwunden
    betrachtete Erklärungsversuche. Jedenfalls mußte man vor-
    bereitet sein, auf Widerstand zu stoßen, wenn man den Ver-
    such wagte, Anderen etwas glaubwiirdig zu machen, was diese
    ohne jede Mühe auch selbst hätten entdecken können.

    Es wäre bei solcher Sachlage vielleicht zweckmäßiger, auf
    kritische Einwendungen nicht eher zu antworten, als bis ich
    mich über das komplizierte Thema selbst ausführlicher geäußert
    und besser verständlich gemacht hätte. Dennoch kann ich den
    Motiven nicht widerstehen, die mich veranlassen, einer Kritik
    meiner Lehre von der Angstneurose aus den letzten Tagen
    auch unverzüglich zu begegnen. Ich tue dies wegen der Person
    des Autors, L. Löwenfeld in München, des Verfassers der
    „Pathologie und Therapie der Neurasthenie und Hysterie“,
    dessen Urteil beim ärztlichen Publikum schwer ins Gewicht
    fallen dürfte, wegen einer mißverständlichen Auffassung, mit
    welcher mich die Darstellung Löwenfelds belastet, und weil
    ich von Anfang an den Eindruck bekämpfen möchte, als sei
    meine Lehre gar so mühelos durch die nächstbesten, im Vorbei-
    gehen angebrachten Einwendungen zu widerlegen.

    Löwenfeld!) findet mit sicherem Blick als das Wesent-
    liche meiner Arbeit heraus, daß ich für die Angstsymptome
    eine spezifische und einheitliche Ätiologie sexueller Natur
    behaupte. Ist dies nicht als Tatsache festzustellen, so entfällt
    auch der Hauptgrund für die Abtrennung einer selbständigen
    Angstneurose von der Neurasthenie. Es erübrigt dann allerdings
    eine Schwierigkeit, auf die ich aufmerksam gemacht habe, daß
    nämlich die Angstsymptome so unverkennbare Beziehungen auch

    り L. Löwenfeld. Über die Verknüpfung neurasthenischer und
    hysterischer Symptome in Anfallsform nebst Bemerkungen über die Freud-
    sche Angstneurose. Münchener med. Wochenschr. Nr. 13, 1895.

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    zur Hysterie haben, so daß durch die Entscheidung im Sinne
    Lôwenfelds die Sonderung von Hysterie und Neurasthenie
    zu Schaden kommt; allein dieser Schwierigkeit wird durch die
    später zu wiirdigende Berufung auf die Heredität als gemein-
    same Ursache all dieser Neurosen begegnet,

    Durch welche Argumente stützt nun Läwenfeld den
    Einspruch gegen meine Lehre?

    1. Ich habe als wesentlich fiir das Verständnis der Angst-
    neurose hervorgehoben, daB die Angst derselben eine psychische
    Ableitung nicht zuläft, das heißt, daß man die Angetbereit-
    schaft, die den Kern der Neurose bildet, nicht durch einen ein- |
    maligen oder wiederholten, psychisch berechtigten Schreckaffekt
    erwerben kann. Durch Schreck entstiinde wohl eine Hysterie oder
    traumatische Neurose, aber keine Angstneurose. Es ist diese
    Leugnung, wie man leicht einsieht, nichts anderes als das Gegen-
    stiick zu meiner Behauptung positiven Inhalts, die Angst meiner
    Neurose entspreche somatischer und vom Psychischen abge-
    lenkter Sexualspannung, die sich sonst als Libido geltend ge-
    macht hätte. |

    Dagegen betont nun Lówenfeld, daß in einer Anzahl
    von Fällen ,Angstzustände unmittelbar oder einige Zeit nach
    einem psychischen Shok (bloBem Schreck oder Unfällen, die mit
    Schrecken verbunden waren) auftreten, und daB zum Teil hier-
    bei Verhältnisse bestehen, welche die Mitwirkung sexueller Schäd-
    lichkeiten der angegebenen Art höchst unwahrscheinlich machen“,
    Er teilt als besonders prägnantes Beispiel eine Krankenbeob-
    achtung (anstatt vieler) in Kürze mit. In diesem Beispiel handelt
    es sich um eine 30jährige, seit vier Jahren verheiratete Frau,
    erblich belastet, die vor einem Jahre eine erste schwierige Ent-
    bindung hatte. Wenige Wochen nach ihrer Niederkunft erschrak
    sie über einen Krankheitsanfall ihres Mannes, lief in ihrer Auf-
    regung im Hemd im kalten Zimmer herum. Von da an krank,
    zuerst mit abendlichen Angstzuständen und Herzklopfen, später
    kamen Anfälle von konvulsivischem Zittern und in weiterer Folge
    Phobien u. dgl.: das Bild einer voll entwickelten Angstneurose,
    „Hier sind die Angstzustände“, schließt Löwenfeld, „offenbar
    psychisch abgeleitet, durch den einmaligen Schrecken herbei-
    geführt.“

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    Ich bezweifle nicht, daß der geehrte Autor über viele ähn-
    liche Fille verfügt; kann ich docheselbst mit einer großen Reihe
    analoger Beispiele dienen. Wer solche Fälle von Ausbruch der
    Angstneurose nach psychischem Shok, überaus häufige Vor-
    kommnisse, nicht gesehen hätte, dürfte sich nicht anmaßen, in
    Sachen der Angstneurose mitzusprechen. Ich will nur dabei an-
    merken, daß in der Atiologie solcher Fälle nicht jedesmal
    Schreck oder ängstliche Erwartung nachweisbar sein muß; eine
    beliebige andere Gemütsbewegung tut es auch. Wenn ich rasch
    einige Fälle aus meiner Erinnerung mustere, so fällt mir ein
    Mann von 45 Jahren ein, der den ersten Angstanfall (mit
    Herzkollaps) auf die Nachricht vom Tode seines betagten Vaters
    bekam; von da an entwickelte sich volle und typische Angst-
    neurose mit Agoraphobie; ferner ein junger Mann, der in die-
    selbe Neurose durch die Erregung über die Zwistigkeiten zwischen
    seiner jungen Frau und seiner Mutter verfiel und nach jedem
    neuen häuslichen Zank neuerdings agoraphobisch wurde; ein
    Student, der, einigermaßen verbummelt, die ersten Angstanfälle
    in einer Periode scharfer Prüfungsarbeit unter dem Sporn
    våterlicher Ungnade produzierte; eine selbst kinderlose Frau,
    die infolge der Angst um die Gesundheit einer kleinen Nichte
    erkrankte, u. dgl. m. An der Tatsache selbst, die Löwenfeld
    gegen mich verwertet, besteht nicht der leiseste Zweifel.

    Wohl aber an ihrer Deutung. Es fragt sich, soll man hier
    ohne weiteres auf das post hoc ergo propter hoc eingehen, sich
    jede kritische Verarbeitung des Rohmaterials ersparen? Man
    kennt ja Beispiele genug dafür, daß die letzte auslösende Ur-
    sache sich vor der kritischen Analyse nicht als causa efficiens
    bewähren konnte. Man denke an das Verhältnis von Trauma
    und Gicht beispielsweise! Die Rolle des Traumas ist hier, bei
    der Provokation eines Gichtanfalles in dem vom Trauma be-
    troffenen Glied, wahrscheinlich keine andere, als sie in der
    Ätiologie der Tabes und der Paralyse sein dürfte; nur scheint
    im Beispiel der Gicht bereits für jede Einsicht absurd, daß das
    Trauma die Gicht „verursacht“ anstatt provoziert haben sollte.
    Man muß doch nachdenklich werden, wenn man åtiologische
    Momente solcher Art — banale möchte ich sie nennen — in
    der Ätiologie der mannigfaltigsten Krankheitszustände antrifft.

    Freud, Neurosenlehre. I. 2, Auflage. vi

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    Gemiitshewegung, Schreck ist auch solch ein banales Moment;
    Chorea, Apoplexie, Paralysis agitans und was nicht alles sonst
    kann der Schreck geradeso hervorrufen wie eine Angstneurose.
    Nun darf ich freilich nicht weiter argumentieren, wegen dieser
    Ubiquität genügten die banalen Ursachen unseren Anforderun-
    gen nicht, es müßte außerdem spezifische Ursachen geben.
    Das hieBe den Satz, den ich erweisen will, vorwegnehmen. Ich
    bin aber berechtigt, folgenderart zu schließen: Wenn sich die
    nämliche spezifische Ursache in der Atiologie aller oder der
    allermeisten Fälle von Angstneurose nachweisen läßt, dann
    braucht sich unsere Auffassung nicht dadurch beirren lassen,
    daß der Ausbruch der Krankheit erst nach der Einwirkung des
    einen. oder andern banalen Momentes, wie es Gemütsbewegung
    ist, erfolgt.

    So war es nun in meinen Fällen von Angstneurose. Der
    Mann, der — rätselhafterweise — auf die Nachricht vom
    Tode seines Vaters erkrankte (ich mache diese Randglosse, weil
    dieser Tod nicht unerwartet und nicht unter ungewöhnlichen,
    erschütternden Umständen erfolgte), dieser Mann lebte seit elf
    Jahren im Coitus interruptus mit seiner Ehefrau, welche er
    meistens zu befriedigen trachtete; der junge Mann, der den
    Streitigkeiten zwischen seiner Frau und seiner Mutter nicht ge-
    wachsen war, hatte bei seiner jungen Frau von Anfang an das
    Zuriickziehen geübt, um sich die Belastung mit Nachkommen-
    schaft zu ersparen; der Student, der sich durch Uberarbeitung
    eine Angstneurose zuzog anstatt der zu erwartenden Cerebras-
    thenie, unterhielt seit drei Jahren ein Verhältnis mit einem
    Mädchen, das er nicht schwiingern durfte; die Frau, die, selbst
    kinderlos, iiber die Krankheit einer Nichte der Angstneurose
    verfiel, war mit einem impotenten Mann verheiratet und sexuell
    nie befriedigt worden u. dgl. Nicht alle diese Fille sind
    gleich klar oder fiir meine These gleich gut beweisend; aber
    wenn ich sie an die sehr beträchtliche Anzahl von Fällen
    anreihe, in denen die Atiologie nichts anderes als das spezi-
    fische Moment aufweist, fügen sie sich der von mir aufgestellten
    Lehre widerspruchslos ein und gestatten eine Erweiterung
    unseres ätiologischen Verständnisses über die bisher geltenden
    Grenzen.

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    99

    Wenn mir jemand nachweisen will, daß ich in vorstehen-
    der Betrachtung die Bedeutung der banalen ätiologischen
    Momente ungebiihrlich zurückgesetzt habe, so muß er mir Be-
    obachtungen entgegenhalten, in denen mein spezifisches Moment
    vermißt wird, also Fille von Entstehung der Angstneurose nach
    psychischem Shok bei (im ganzen) normaler Vita sexualis.
    Man urteile nun, ob der Fall von Lówenfeld diese Bedingung
    erfüllt. Mein geehrter Gegner hat sich diese Anforderung offen-
    bar nicht klar gemacht, sonst würde er uns über die Vita
    sexualis seiner Patientin nicht so völlig im unklaren lassen. Ich
    will es beiseite lassen, daß der Fall der ⑧0jahrigen Dame
    offenbar mit einer Hysterie kompliziert ist, an deren psychischer
    Ableitbarkeit ich am wenigsten zweifle; ich gebe die Angst-
    neurose neben dieser Hysterie natürlich ohne Einspruch zu.
    Aber ehe ich einen Fall fiir oder gegen die Lehre von der
    sexuellen Atiologie der Neurosen verwerte, muß ich das sexuelle
    Verhalten der Patientin eingehender als Löwenfeld hier
    studiert haben. Ich werde mich nicht mit dem Schlusse be-
    gnügen: da die Dame zur Zeit des psychischen Shoks kurz
    nach einer Entbindung war, dürfte der Coitus interruptus im
    letzten Jahre keine Rolle gespielt haben und somit sexuelle
    Noxen hier entfallen. Ich kenne Fälle von Angstneurose bei
    jährlich wiederholter Gravidität, weil (unglaublicherweise) von
    dem befruchtenden Koitus an jeder Verkehr eingestellt wurde,
    so daß die kinderreiche Frau all die Jahre über an Entbehrung
    litt. Es ist keinem Arzte unbekannt, daß Frauen von sehr wenig
    potenten Männern konzipieren, die nicht imstande sind, ihnen
    Befriedigung zu verschaffen, und endlich gibt es, womit gerade
    die Vertreter der Hereditätsätiologie. rechnen sollten, Frauen
    genug, die mit einer kongenitalen Angstneurose behaftet sind,
    d. h. die eine solche Vita sexualis mitbringen respektive ohne
    nachweisbare äußere Störung entwickeln, wie man sie sonst
    durch Coitus interruptus und ähnliche Noxen erwirbt. Bei einer
    Anzahl dieser Frauen kann man eine hysterische Erkrankung
    der Jugendjahre eruieren, seit welcher die Vita sexualis gestört
    und eine Ablenkung der Sexualspannung vom Psychischen her-
    gestellt ist. Frauen mit solcher Sexualität sind einer wirklichen
    Befriedigung selbst durch normalen Koitus unfähig und ent-

    7*

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    wickeln Angstneurose entweder spontan oder nach dem Zutritt
    weiterer wirksamer Momente. Was von alledem mag in dem
    Falle Lowenfelds vorgelegen haben? Ich weiß es nicht, aber
    ich wiederhole, gegen mich beweisend ist dieser Fall nur, wenn
    die Dame, die auf einmaligen Schreck mit einer Angstneurose
    antwortete, sich vorher einer normalen Vita sexualis erfreut hat,

    Wir können unmöglich 4101021806 Forschungen aus der
    Anamnese betreiben, wenn wir die Anamnese so hinnehmen, wie
    der Kranke sie gibt, oder uns mit dem begnügen, was er uns
    preisgeben will. Wenn die Syphilodologen die Zurückführung
    eines Initialaffektes an den Genitalien auf sexuellen Verkehr
    noch von der Aussage des Patienten abhängen ließen, würden
    sie eine ganz stattliche Anzahl von Schankern bei angeblich
    virginalen Individuen von Erkältung herleiten können, und die
    Gynäkologen fänden kaum Schwierigkeiten, das Wunder der
    Parthenogenesis an ihren unverheirateten Klientinnen zu bestä-
    “tigen. Ich hoffe, es wird dereinst durchdringen, daß auch die
    Neuropathologen bei der Erhebung der Anamnese großer Neu-
    rosen von ähnlichen ätiologischen Vorurteilen ausgehen dürfen.

    2. Ferner sagt Löwenfeld, er habe wiederholt Angst-
    zustände auftauchen und verschwinden gesehen, wo eine Ände-
    rung im sexuellen Leben sicher nicht statthatte, dagegen andere
    Faktoren im Spiele waren.

    Ganz dieselbe Erfahrung habe ich auch gemacht, ohne
    daß sie mich beirrt hätte. Auch ich habe die Angstzufälle durch
    psychische Behandlung, Allgemeinbesserung u. dgl. zum Schwin-
    den gebracht. Ich habe natürlich daraus nicht geschlossen, daß
    der Mangel an Behandlung die Ursache der Angstanfälle war.
    Nicht etwa, daß ich Löwenfeld einen derartigen Schluß
    unterschieben wollte; ich will mit obiger scherzhafter Bemerkung
    nur andeuten, daß die Sachlage leicht kompliziert genug sein
    kann, um den Einwand von Löwenfeld völlig zu entwerten.
    Ich habe es nicht schwer gefunden, die hier vorgebrachte Tat-
    sache mit der Behauptung der spezifischen Ätiologie der Angst-
    neurose zu vereinigen. Man wird mir gerne zugestehen, daß es
    ätiologisch wirksame Momente gibt, die, um ihre Wirkung zu
    üben, in einer gewissen Intensität (oder Quantität) und über
    einen gewissen Zeitraum wirken müssen, die sich also sum-

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    mieren; die Alkoholwirkung ist ein Vorbild fiir solche Ver-
    ursachung durch Summation. Demnach wird es einen Zeitraum
    geben diirfen, in dem die spezifische Atiologie in ihrer Arbeit
    begriffen, aber deren Wirkung noch nicht manifest ist. Während
    solcher Zeit ist die Person noch nicht krank, aber sie ist zur
    bestimmten Erkrankung, in unserem Falle zur Angstneurose,
    disponiert, und nun wird der Zutritt einer banalen Noxe die
    Neurose auslösen können, geradeso wie eine weitere Steigerung
    in der Einwirkung der spezifischen Noxe. Man kann dies auch
    so ausdrücken: Es reicht nicht hin, daß das spezifische ätio-
    logische Moment vorhanden ist, es muß auch ein bestimmtes
    Maß davon voll werden, und bei der Erreichung dieser Grenze
    kann eine Quantität spezifischer Noxe durch einen Betrag ba-
    naler Schiidlichkeit ersetzt werden. Wird letzterer wieder weg-
    genommen, so befindet man sich unterhalb einer Schwelle; die
    Krankheitserscheinungen treten wieder zurück. Die ganze Therapie
    der Neurosen beruht darauf, daß man die Gesamtbelastung des
    Nervensystems, welcher dieses erliegt, durch sehr verschieden-
    artige Beeinflussungen der ätiologischen Mischung unter die
    Schwelle bringen kann. Auf Fehlen oder Existenz einer spezifi-
    schen Atiologie ist aus diesen Verhältnissen kein Schluß zu
    ziehen,

    Das sind doch gewiß einwurfsfreie und gesicherte Er-
    wägungen. Wem sie noch nicht genügen, der möge folgendes
    Argument auf sich wirken lassen. Nach der Ansicht Löwen-
    felds und so vieler anderer ist in der Heredität die Ätio-
    logie der Angstzustinde. Die Heredität ist nun gewiß einer
    Anderung entzogen; wenn Angstneurose durch Behandlung ge-
    heilt wird, sollte man nun mit Löwenfeld schließen dürfen,
    daß die Heredität nicht die Ätiologie enthalten kann.

    Übrigens, ich hätte mir die Verteidigung gegen die beiden
    angeführten Einwände von Löwenfeld ersparen können, wenn
    mein geehrter Gegner meiner Arbeit selbst größere Aufmerksam-
    keit geschenkt hätte. Die beiden Einwendungen sind in meiner
    Arbeit selbst vorgesehen und beantwortet (p. 73 ff.); ich könnte
    die Ausführungen von dort hier nur wiederholen, ich habe mit
    Absicht selbst die nämlichen Krankheitsfälle hier neuerdings
    analysiert. Auch die ätiologischen Formeln, auf die ich eben

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    102

    vorhin Wert legte, sind im Texte meiner Abhandlung enthalten.
    Ich will sie hier nochmals wiederholen. Ich behaupte: Es gibt
    für die Angstneurose ein spezifisches 1010 8
    Moment, welches in seiner Wirkung von banalen
    Schüdlichkeiten zwar quantitativ vertreten, aber
    nicht qualitativ ersetzt werden kann. Ferner: Dieses
    spezifische Moment bestimmt vor allem die Form
    der Neurose; ob eine neurotische Erkrankung über-
    haupt zustande kommt, hängt von der Gesamt-
    belastung des Nervensystems (im Verhältnis zu
    dessen Tragfähigkeit) ab. In der Regel sind die Neurosen
    überdeterminiert, d.h. es wirken in ihrer Ätiologie mehrere
    Faktoren zusammen.

    3. Um die Widerlegung der nächsten Bemerkungen
    Löwenfelds brauche ich mich weniger zu bemühen, da die-
    selben einerseits meiner Lehre wenig anhaben, anderseits
    Schwierigkeiten hervorheben, die ich als vorhanden anerkenne.
    Löwenfeld sagt: „Die Freudsche Theorie ist aber ganz und
    gar ungenügend, das Auftreten und Ausbleiben der Angst-
    anfälle im einzelnen zu erklären. Wenn die Angstzustände, i. e.
    die Erscheinungen der Angstneurose, lediglich durch subkorti-
    kale Aufspeicherung der somatischen Sexualerregung und ab-
    norme Verwendung derselben zustande kommen würden, so
    müßte jeder mit Angstzuständen Behaftete, so lange keine
    Anderungen in seinem sexuellen Leben eintreten, von Zeit zu
    Zeit einen Angstanfall haben, wie der Epileptische seinen Anfall
    von grand und petit mal hat. Dies ist aber, wie die alltägliche
    Erfahrung zeigt, durchaus nicht der Fall. Die Angstanfälle
    treten weit überwiegend nur bei bestimmten Anlässen ein; wenn
    der Patient diese meidet oder durch irgend eine Vorkehrung
    deren Einfluß zu paralysieren weiß, so bleibt er von Angst-
    anfällen verschont, er mag dem Congressus interruptus oder
    der Abstinenz andauernd huldigen oder sich einer normalen
    Vita sexualis erfreuen.“

    Darüber ist nun sehr viel zu sagen. Zunächst, daß
    Löwenfeld meiner Theorie eine Folgerung aufnötigt, die sie
    nicht zu akzeptieren braucht. Daß es bei der Aufspeicherung
    der somatischen Sexualerregung so zugehen müsse wie bei der

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    Anhäufung des Reizes zum epileptischen Krampfe, ist eine allzu
    detaillierte Aufstellung, zu welcher ich keinen Anlaß gegeben
    habe, und ist nicht die einzige, die sich darbietet. Ich brauche
    nur anzunehmen, daß das Nervensystem ein gewisses Maß von
    somatischer Sexualerregung, auch wenn diese von ihrem Ziele
    abgelenkt sei, zu bewältigen vermöge, und daß Störungen nur
    dann entstehen, wenn das Quantum dieser Erregung eine plötz-
    liche Steigerung erfährt, und die Anforderung Löwenfelds
    wäre beseitigt. Ich habe mich nicht getraut, meine Theorie
    nach dieser Richtung hin auszubauen, hauptsächlich darum,
    weil ich keine sicheren Stützpunkte auf dem Wege dahin zu
    finden erwartete. Ich will bloß andeuten, daß wir uns die Pro-
    duktion von Sexualspannung nicht unabhängig von ihrer Ver-
    ausgabung vorstellen dürfen, daß im normalen Sexualleben diese
    Produktion bei Anregung durch das Sexualobjekt sich wesent-
    lich anders gestaltet als bei psychischer Ruhe u. dgl.

    Zuzugeben ist, daß die Verhältnisse hier wohl anders
    liegen als bei epileptischer Krampfneigung, und daß sie aus der
    Theorie der Aufspeicherung somatischer Sexualerregung noch
    nicht im Zusammenhange abzuleiten sind.

    Der weiteren Behauptung Löwenfelds, daß die Angst-
    zustände nur bei gewissen Anlässen auftreten, bei deren Ver-
    meidung sie ausbleiben, gleichgültig, welches die Vita sexualis
    des Betreffenden sein mag, ist entgegenzuhalten, daß Löwen-
    feld hierbei offenbar nur die Angst der Phobien im Auge
    hat, wie auch die an die zitierte Stelle geknüpften Beispiele
    zeigen. Von den spontanen Angstanfällen, deren Inhalt Schwindel,
    Herzklopfen, Atemnot, Zittern, Schweiß u. dgl. ist, spricht er
    gar nicht. Das Auftreten und Ausbleiben dieser Angstanfälle
    zu erklären, scheint meine Theorie aber keineswegs untüchtig.
    In einer ganzen Reihe solcher Fälle von Angstneurose ergibt
    sich nämlich wirklich der Anschein einer Periodizität des Auf-
    tretens von Angstzuständen ähnlich der bei Epilepsie beobach-
    teten, nur daß hier der Mechanismus dieser Periodizität durch-
    sichtiger wird. Bei näherer Erforschung findet man nämlich mit
    großer Regelmäßigkeit einen aufregenden sexuellen Vorgang auf
    (d. h. einen solchen, der imstande ist, somatische Sexualspan-
    nung zu entbinden), an welchen sich mit Einhaltung eines be-

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    stimmten, oft ganz konstanten Zeitintervalles der Angstanfall
    anschlieBt. Diese Rolle spielen bei abstinenten Frauen die
    menstruale Erregung, die gleichfalls periodisch wiederkehrenden
    nächtlichen Pollutionen, vor allem der (in seiner Unvollständig-
    keit schädliche) sexuelle Verkehr selbst, der diesen seinen Wir-
    kungen, den Angstanfällen, die eigene Periodizität überträgt.
    Kommen Angstanfälle, welche die gewohnte Periodizität durch-
    brechen, so gelingt es zumeist, sie auf eine Gelegenheitsursache
    von seltenerem und unregelmäßigem Vorkommen zurückzuführen,
    ein vereinzeltes sexuelles Erlebnis, Lektüre, Schaustellung u. dgl.
    Das Intervall, das ich erwähnt habe, beträgt einige Stunden
    bis zu zwei Tagen; es ist dasselbe, mit welchem bei anderen
    Personen auf dieselben Veranlassungen hin die bekannte Sexual-
    migräne auftritt, die ihre sicheren Beziehungen zum Symptomen-
    komplex der Angstneurose hat.

    Daneben gibt es reichlich Fälle, in denen der einzelne
    Angstzustand durch das Hinzutreten eines banalen Momentes,
    durch Aufregung beliebiger Art, provoziert wird, Es gilt also
    für die Atiologie des einzelnen Angstanfalles dieselbe Vertre-
    tung wie für die Verursachung der ganzen Neurose, Daß die
    Angst der Phobien anderen Bedingungen folgt, ist nicht sehr
    verwunderlich; die Phobien haben ein komplizirteres Gefüge
    als die einfach somatischen Angstanfälle. Bei ihnen ist die
    Angst mit einem bestimmten Vorstellungs- oder Wahrnehmungs-
    inhalt verknüpft, und die Erweckung dieses psychischen Inhaltes
    ist die Hauptbedingung für das Auftreten dieser Angst. Die
    Angst wird dann „entbunden“, ähnlich wie z. B. die Sexual-
    spannung durch die Erweckung libidinöser Vorstellungen; aber
    dieser Vorgang ist allerdings in seinem Zusammenhange mit der
    Theorie der Angstneurose noch nicht aufgeklärt.

    Ich sehe nicht ein, weshalb ich streben sollte, Lücken und
    Schwächen meiner Theorie zu verbergen. Die Hauptsache an
    dem Problem der Phobien scheint mir zu sein, daß Phobien
    bei normaler Vita sexualis — d. i. bei Nichterfüllung der
    spezifischen Bedingung von Störung der Vita sexualis im Sinne
    einer Ablenkung des Somatischen vom Psychischen — über-
    haupt nicht zustande kommen. Mag sonst am Mechanis-
    mus der Phobien noch so Vieles dunkel sein, meine Lehre ist

  • S.

    105

    erst widerlegt, wenn man mir Phobien bei normaler Vita sexualis
    oder selbst bei nicht spezifisch bestimmter Störung derselben
    nachweist.

    4. Ich übergehe nun zu einer Bemerkung, die ich meinem
    geehrten Herrn Kritiker nicht unwidersprochen lassen darf.

    Ich hatte in meiner Mitteilung über die Angstneurose
    (1. с. p. 69) geschrieben:

    „In manchen Fällen von Angstneurose läßt sich eine
    Atiologie überhaupt nicht erkennen. Es ist bemerkenswert, daß
    in solchen Fällen der Nachweis einer schweren hereditären Be-
    lastung selten auf Schwierigkeiten stößt.“

    „Wo man aber Grund hat, die Neurose für eine erwor-
    bene zu halten, da findet man bei sorgfältigem, dahin zielendem
    Examen als ätiologisch wirksame Momente eine Reihe von
    Schädlichkeiten und Einflüssen aus dem Sexualleben....“
    Löwenfeld druckt diese Stelle ab und knüpft an sie folgende
    Glosse: „Als „erworben“ scheint demnach F. die Neurose immer
    zu betrachten, wenn Gelegenheitsursachen derselben aufzufin-
    den sind.“

    Wenn sich dieser Sinn zwanglos aus meinem Texte ab-
    leiten läßt, so gibt letzterer meinem Gedanken sehr entstellten
    Ausdruck. Ich mache darauf aufmerksam, daß ich vorhin in
    der Wertschätzung der Gelegenheitsursachen mich weit strenger
    als Löwenfeld erwiesen habe. Sollte ich die Meinung meiner
    Sätze selbst erläutern, so würde ich es tun, indem ich nach der
    Bedingung: Wo man aber Grund hat, die Neurose fiir
    eine erworbene zu halten ‥ 。 einschalte: weil der (im
    vorigen Satz erwähnte) Nachweis hereditärer Be-
    lastung nicht gelingt. Der Sinn ist: Ich halte den Fall
    fiir einen erworbenen, in dem sich Heredität nicht nachweisen
    lit. Ich benehme mich dabei wie alle Welt, vielleicht mit dem
    kleinen Unterschiede, daß andere den Fall auch dann für here-
    ditär bedingt erklären, wo Heredität nicht besteht, so daß sie
    die ganze Kategorie erworbener Neurosen iibersehen. Dieser
    Unterschied aber läuft zu meinen Gunsten. Ich gestehe jedoch
    zu, daß ich solches Mifiverstindnis durch die Redewendung im
    ersten Satze: „es läßt sich eine Ätiologie überhaupt nicht er-
    kennen“, selbst verschuldet habe. Ich werde sicherlich auch von

  • S.

    106

    anderer Seite zu hören bekommen, ich schaffe mir mit der
    Suche nach den spezifischen Ursachen der Neurosen überflüssige
    Miihe. Die wirkliche Atiologie der Angstneurosen wie der Neu-
    rosen überhaupt sei ja bekannt, es sei die Heredität, und zwei
    wirkliche Ursachen könnten nebeneinander nicht bestehen. Die
    ätiologische Rolle der Heredität leugnete ich wohl nicht? Dann
    aber seien alle anderen Atiologien — Gelegenheitsursachen und
    einander gleichwertig oder gleich minderwertig.

    Ich teile diese Anschauung über die Rolle der Heredität
    nicht, und da ich gerade dieses Thema in meiner kurzen Mit-
    teilung über die Angstneurose am wenigsten gewürdigt habe,
    will ich versuchen, hier etwas vom Unterlassenen nachzuholen
    und den Eindruck zu verwischen, als hätte ich mich bei der
    Abfassung meiner Arbeit nicht um alle zugehörigen Rätsel-
    fragen gemiiht.

    Ich glaube, man ermöglicht sich eine Darstellung der
    wahrscheinlich sehr komplizierten ätiologischen Verhältnisse, die
    in der Pathologie der Neurosen obwalten, wenn man sich fol-
    gende ätiologische Begriffe festlegt:

    a) Bedingung, b) spezifische Ursache, ¢) kon-
    kurrierende Ursache und, als den vorigen nicht gleich-
    wertigen Terminus, d) Veranlassung oder auslösende
    Ursache.

    Um allen Möglichkeiten zu genügen, nehme man an, es
    handle sich um ätiologische Momente, die einer quantitativen
    Veränderung, also der Steigerung oder Verringerung fähig sind.

    Läßt man sich die Vorstellung einer mehrgliedrigen ätio-
    logischen Gleichung gefallen, die erfüllt sein muß, wenn der
    Effekt zustande kommen soll, so charakterisiert sich als Ver-
    anlassung oder auslösende Ursache diejenige, welche zuletzt
    in die Gleichung eintritt, so daß sie dem Erscheinen des
    Effektes unmittelbar vorhergeht. Nur dieses zeitliche Moment
    macht das Wesen der Veranlassung aus, jede der andersartigen
    Ursachen kann im Einzelfalle auch die Rolle der Veranlassung
    spielen; in derselben ätiologischen Häufung kann diese Rolle
    wechseln.

    Als Bedingungen sind solche Momente zu bezeichnen,
    bei deren Abwesenheit der Effekt nie zustande käme, die aber

    .

  • S.

    107

    fiir sich allein auch unfähig sind, den Effekt zu erzeugen, sie
    mögen in noch so großem Ausmaße vorhanden sein. Es fehlt
    dazu noch die spezifische Ursache.

    Als spezifische Ursache gilt diejenige, die in keinem
    Falle von Verwirklichung des Effektes vermißt wird, und die in
    entsprechender Quantität oder Intensität auch hinreicht, den
    Effekt zu erzielen, wenn nur noch die Bedingungen erfiillt sind.

    Als konkurrierende Ursachen darf man solche Mo-
    mente auffassen, welche weder jedesmal vorhanden sein müssen,
    noch imstande sind, in beliebigem Ausmaße ihrer Wirkung fiir
    sich allein den Effekt zu erzeugen, welche aber neben den Be-
    dingungen und der spezifischen Ursache zur Erfüllung der åtio-
    logischen Gleichung mitwirken.

    Die Besonderheit der konkurrierenden oder Hilfsursachen
    scheint klar; wie unterscheidet man aber Bedingungen und
    spezifische Ursachen, da sie beide unentbehrlich und doch keines
    von ihnen allein zur Verursachung geniigend sind?

    Da scheint denn folgendes Verhalten eine Entscheidung
    zu gestatten. Unter den „notwendigen Ursachen“ findet
    man mehrere, die auch in den ätiologischen Gleichungen vieler
    anderer Effekte wiederkehren, daher keine besondere Beziehung
    zum einzelnen Effekte verraten; eine dieser Ursachen aber stellt
    sich den anderen gegenüber, dadurch, daß sie in keiner andern
    oder in sehr wenigen ätiologischen Formeln aufzufinden ist, und
    diese hat den Anspruch, spezifische Ursache des betreffenden
    Effektes zu heißen. Ferner sondern sich Bedingungen und
    spezifische Ursache besonders deutlich in solchen Fällen, in
    denen die Bedingungen den Charakter von lange bestehenden
    und wenig veränderlichen Zuständen haben, die spezifische Ur-
    sache einem rezent einwirkenden Faktor entspricht.

    Ich will ein Beispiel für dieses vollständige ätiologische
    Schema versuchen:

    Effekt: Phthisis pulmonum.

    Bedingung: Disposition, meist hereditär durch Organ-
    beschaffenheiten gegeben.

    Spezifische Ursache: Der Bazillus Kochii.

    Hilfsursachen: Alles Depotenzierende: Gemütsbewe-
    gungen wie Eiterungen oder Erkältungen.

  • S.

    108

    Das Schema fiir die Atiologie der Angstneurose scheint
    mir ähnlich zu lauten:

    Bedingung: Heredität.

    Spezifische Ursache: Ein sexuelles Moment im Sinne
    einer Ablenkung der Sexualspannung vom Psychischen.

    Hilfsursachen: Alle banalen Schädigungen: Gemüts-
    bewegung, Schreck, wie physische Erschöpfung durch Krankheit
    oder Überleistung.

    Wenn ich diese ätiologische Formel für die Angstneurose
    im einzelnen diskutiere, kann ich noch folgende Bemerkungen
    hinzufügen: Ob eine besondere persönliche Beschaffenheit (die
    nicht hereditär bezeugt zu sein brauchte) für die Angstneurose
    unbedingt erfordert wird, oder ob jeder normale Mensch durch
    etwaige quantitative Steigerung des spezifischen Momentes zur
    Angstneurose gebracht werden kann, weiß ich nicht sicher zu
    entscheiden, neige aber sehr zur letzteren Meinung. — Die
    hereditäre Disposition ist die wichtigste Bedingung der Angst-
    neurose, aber keine unentbehrliche, da sie in einer Reihe
    von Grenzfällen vermißt wird. — Das spezifische sexuelle Mo-
    ment wird in der übergroßen Zahl der Fälle mit Sicherheit
    nachgewiesen, in einer Reihe von Fällen (kongenitalen) sondert
    es sich von der Bedingung der Heredität nicht ab, sondern ist
    durch diese miterfüllt, d. h. die Kranken bringen jene Besonder-
    heit der Vita sexualis als Stigma mit (die psychische Unzuläng-
    lichkeit zur Bewältigung der somatischen Sexualspannung), über
    welche sonst der Weg zur Erwerbung der Neurose führt; in
    einer andern Reihe von Grenzfällen ist die spezifische Ursache
    in einer konkurrierenden enthalten, wenn nämlich die besagte
    psychische Unzulänglichkeit durch Erschöpfung u. dgl. zustande
    kommt. Alle diese Fälle bilden fließende Reihen, nicht abgeson-
    derte Kategorien; durch alle zieht sich indes das ähnliche Ver-
    halten im Schicksal der Sexualspannung, und für die meisten
    gilt die Sonderung von Bedingung, spezifischer und Hilfsursache,
    konform der oben gegebenen Auflösung der ätiologischen
    Gleichung.

    Ich kann, wenn ich meine Erfahrungen danach befrage,
    ein gegensätzliches Verhalten von hereditärer Disposition und
    spezifischem sexuellem Moment für die Angstneurose nicht auf-

  • S.

    109

    finden. Im Gegenteile, die beiden ütiologischen Faktoren unter-
    stützen und ergänzen einander. Das sexuelle Moment wirkt
    meistens nur bei jenen Personen, die eine hereditüre Be-
    lastung mit dazu bringen; die Hereditüt allein ist meistens nicht
    imstande, eine Angstneurose zu erzeugen, sondern wartet auf
    das Eintreffen eines genügenden Maßes der spezifischen sexuellen
    Schädlichkeit. Die Konstatierung der Heredität überhebt darum
    nicht der Suche nach einem spezifischen Moment, an dessen
    Auffindung sich übrigens auch alles therapeutische Interesse
    knüpft. Denn was will man therapeutisch mit der Hereditåt als
    Atiologie anfangen? Sie hat seit jeher bei dem Kranken be-
    standen und wird bis an dessen Ende weiter bestehen. Sie ist
    an und für sich weder geeignet, das episodische Auftreten einer
    Neurose, noch deren Aufhóren durch Behandlung verstehen zu
    lassen. Sie ist nichts als eine Bedingung der Neurose, eine
    unsüglich wichtige zwar, aber doch eine zum Schaden der
    Therapie und des theoretischen Verstándnisses überschützte. Man
    denke nur, um sich durch den Kontrast der Tatsachen über-
    zeugen zu lassen, an die Fülle von familiären Nervenkrankheiten
    (Chorea chronica, Thomsensche Krankheit u. dgl), in denen
    die Hereditüt alle ätiologischen Bedingungen in sich vereinigt.

    Ich möchte zum Schlusse die wenigen Sätze wiederholen,
    durch welche ich in erster Annäherung an die Wirklichkeit die
    gegenseitigen Beziehungen der verschiedenen ätiologischen Fak-
    toren auszudrücken pflege:

    1. Ob überhaupt eine neurotische Erkrankung zu-

    stande kommt, hängt von einem quantitativen Faktor ab,
    von der Gesamtbelastung des Nervensystems im Verhältnis zu
    dessen Resistenzfähigkeit. Alles was diesen Faktor unter einem
    gewissen Schwellenwert halten oder zurückbringen kann, hat
    therapeutische Wirksamkeit, indem es die ätiologische Gleichung
    unerfüllt 1äßt.
    : Was man unter ,Gesamtbelastung“, was man unter ,Re-
    sistenzfiihigkeit“ des Nervensystems zu verstehen habe, das ließe
    sich mit Zugrundelegung gewisser Hypothesen iiber die Nerven-
    funktion wohl deutlicher ausführen.

    2. Welchen Umfang die Neurose erreicht, das hängt in
    erster Linie von dem Maß hereditärer Belastung ab. Die He-

  • S.

    110

    redität wirkt wie ein in den Stromkreis eingeschalteter Multi-
    plikator, der den Ausschlag der Nadel um das Vielfache ver-
    groBert. &

    3. Welche Form aber die Neurose annimmt — den Sinn
    des Ausschlages — dies bestimmt allein das aus dem Sexual-
    leben stammende spezifische ätiologische Moment.

    Ich hoffe, daß im ganzen, obwohl ich mir der vielen noch
    unerledigten Schwierigkeiten des Gegenstandes bewußt bin, meine
    Aufstellung der Angstneurose sich für das Verständnis der
    Neurosen fruchtbarer erweisen wird, als Löwenfelds Versuch,
    denselben Tatsachen Rechnung zu tragen durch die Konstatie-
    rung „einer Verknüpfung neurasthenischer und hyste-
    rischer Symptome in Anfallsform“.

    Wien, anfangs Mai 1895.