Die Freudsche psychoanalytische Methode 1904-001/1911
  • S.

    [213]

    XIII.
    Die Freudsche psychoanalytische Methode1).

    „Die eigentümliche Methode der Psychotherapie, die
    Freud ausübt und als Psychoanalyse bezeichnet, ist aus dem
    sogenannten kathartischen Verfahren hervorgegangen, über wel-
    ches er seinerzeit in den „Studien über Hysterie“ 1895 in
    Gemeinschaft mit J. Breuer berichtet hat. Die kathartische
    Therapie war eine Erfindung Breuers, der mit ihrer Hilfe
    zuerst etwa ein Dezennium vorher eine hysterische Kranke her-
    gestellt und dabei Einsicht in die Pathogenese ihrer Symptome
    gewonnen hatte. Infolge einer persönlichen Anregung Breuers
    nahm dann Freud das Verfahren wieder auf und erprobte es
    an einer größeren Anzahl von Kranken.

    Das kathartische Verfahren setzte voraus, daß der Patient
    hypnotisierbar sei und beruhte auf der Erweiterung des Bewußt-
    seins, die in der Hypnose eintritt. Es setzte sich die Beseiti-
    gung der Krankheitssymptome zum Ziele und erreichte dies,
    indem es den Patienten sich in den psychischen Zustand zurück-
    versetzen ließ, in welchem das Symptom zum ersten Male auf-
    getreten war. Es tauchten dann bei dem hypnotisierten Kranken
    Erinnerungen, Gedanken und Impulse auf, die in seinem Be-
    wußtsein bisher ausgefallen waren, und wenn er diese seine
    seelischen Vorgänge unter intensiven Affektäußerungen dem
    Arzte mitgeteilt hatte, war das Symptom überwunden, die
    Wiederkehr desselben aufgehoben. Diese regelmäßig zu wieder-
    holende Erfahrung erläuterten die beiden Autoren in ihrer ge-
    meinsamen Arbeit dahin, daß das Symptom an Stelle von
    unterdrückten und nicht zum Bewußtsein gelangten psychischen

    1) Aus: Löwenfeld, Psychische Zwangserscheinungen, 1904.

  • S.

    214

    Vorgängen stehe, also eine Umwandlung („Konversion“) der
    letzteren darstelle. Die therapeutische Wirksamkeit ihres Ver-
    fahrens erklärten sie sich aus der Abfuhr des bis dahin gleich-
    sam „eingeklemmten“ Affektes, der an den unterdrückten seeli-
    schen Aktionen gehaftet hatte („Abreagieren“). Das einfache
    Schema des therapeutischen Eingriffes komplizierte sich aber
    nahezu alle Male, indem sich zeigte, daß nicht ein einzelner
    („traumatischer“) Eindruck, sondern meist eine schwer zu über-
    sehende Reihe von solchen an der Entstehung des Symptoms
    beteiligt sei.

    Der Hauptcharakter der kathartischen Methode, der sie
    in Gegensatz zu allen anderen Verfahren der Psychotherapie
    setzt, liegt also darin, daß bei ihr die therapeutische Wirksam-
    keit nicht einem suggestiven Verbot des Arztes übertragen wird.
    Sie erwartet vielmehr, daß die Symptome von selbst verschwin-
    den werden, wenn es dem Eingriff, der sich auf gewisse Voraus-
    setzungen über den psychischen Mechanismus beruft, gelungen
    ist, seelische Vorgänge zu einem andern als dem bisherigen
    Verlaufe zu bringen, der in die Symptombildung einge-
    mündet hat.

    Die Abänderungen, welche Freud an dem kathartischen
    Verfahren Breuers vornahm, waren zunächst Änderungen
    der Technik; diese brachten aber neue Ergebnisse und haben
    in weiterer Folge zu einer andersartigen, wiewohl der früheren
    nicht widersprechenden, Auffassung der therapeutischen Arbeit
    genötigt.

    Hatte die kathartische Methode bereits auf die Suggestion
    verzichtet, so unternahm Freud den weiteren Schritt, auch die
    Hypnose aufzugeben. Er behandelt gegenwärtig seine Kranken,
    indem er sie ohne andersartige Beeinflussung eine bequeme
    Rückenlage auf einem Ruhebett einnehmen läßt, während er
    selbst ihrem Anblick entzogen auf einem Stuhle hinter ihnen
    sitzt. Auch den Verschluß der Augen fordert er von ihnen
    nicht und vermeidet jede Berührung sowie jede andere Proze-
    dur, die an Hypnose mahnen könnte. Eine solche Sitzung ver-
    läuft also wie ein Gespräch zwischen zwei gleich wachen Per-
    sonen, von denen die eine sich jede Muskelanstrengung und
    jeden ablenkenden Sinneseindruck erspart, die sie in der Kon-

  • S.

    215

    zentration ihrer Aufmerksamkeit auf ihre eigene seelische Tätig-
    keit stören könnten.

    Da das Hypnotisiertwerden, trotz aller Geschicklichkeit des
    Arztes, bekanntlich in der Willkür des Patienten liegt, und eine
    große Anzahl neurotischer Personen durch kein Verfahren in
    Hypnose zu versetzen ist, so war durch den Verzicht auf die
    Hypnose die Anwendbarkeit des Verfahrens auf eine unein-
    geschränkte Anzahl von Kranken gesichert. Anderseits fiel die
    Erweiterung des Bewußtseins weg, welche dem Arzt gerade
    jenes psychische Material an Erinnerungen und Vorstellungen
    geliefert hatte, mit dessen Hilfe sich die Umsetzung der Sym-
    ptome und die Befreiung der Affekte vollziehen ließ. Wenn für
    diesen Ausfall kein Ersatz zu schaffen war, konnte auch von
    einer therapeutischen Einwirkung keine Rede sein.

    Einen solchen völlig ausreichenden Ersatz fand nun Freud
    in den Einfällen der Kranken, d. h. in den ungewollten, meist
    als störend empfundenen und darum unter gewöhnlichen Ver-
    hältnissen beseitigten Gedanken, die den Zusammenhang einer
    beabsichtigten Darstellung zu durchkreuzen pflegen. Um sich
    dieser Einfälle zu bemächtigen, fordert er die Kranken auf, sich
    in ihren Mitteilungen gehen zu lassen, „wie man es etwa in
    einem Gespräche tut, bei welchem man aus dem Hundertsten
    in das Tausendste gerät“. Er schärft ihnen, ehe er sie zur de-
    taillierten Erzählung ihrer Krankengeschichte auffordert, ein,
    alles mit zu sagen, was ihnen dabei durch den Kopf geht, auch
    wenn sie meinen, es sei unwichtig, oder es gehöre nicht dazu,
    oder es sei unsinnig. Mit besonderem Nachdrucke aber wird von
    ihnen verlangt, daß sie keinen Gedanken oder Einfall darum
    von der Mitteilung ausschließen, weil ihnen diese Mitteilung
    beschämend oder peinlich ist. Bei den Bemühungen, dieses
    Material an sonst vernachlässigten Einfällen zu sammeln, machte
    nun Freud die Beobachtungen, die für seine ganze Auffassung
    bestimmend geworden sind. Schon bei der Erzählung der Kranken-
    geschichte stellen sich bei den Kranken Lücken der Erinnerung
    heraus, sei es, daß tatsächliche Vorgänge vergessen worden, sei
    es, daß zeitliche Beziehungen verwirrt oder Kausalzusammen-
    hänge zerrissen worden sind, so daß sich unbegreifliche Effekte
    ergeben. Ohne Amnesie irgend einer Art gibt es keine neuro-

  • S.

    216

    tische Krankengeschichte. Drängt man den Erzählenden, diese
    Lücken seines Gedächtnisses durch angestrengte Arbeit der
    Aufmerksamkeit auszufüllen, so merkt man, daß die hierzu sich
    einstellenden Einfälle von ihm mit allen Mitteln der Kritik
    zurückgedrängt werden, bis er endlich das direkte Unbehagen
    verspürt, wenn sich die Erinnerung wirklich eingestellt hat.
    Aus dieser Erfahrung schließt Freud, daß die Amnesien das
    Ergebnis eines Vorganges sind, den er Verdrängung heißt,
    und als dessen Motiv er Unlustgefühle erkennt. Die psychischen
    Kräfte, welche diese Verdrängung herbeigeführt haben, meint
    er in dem Widerstand, der sich gegen die Wiederherstellung
    erhebt, zu verspüren.

    Das Moment des Widerstandes ist eines der Fundamente
    seiner Theorie geworden. Die sonst unter allerlei Vorwänden
    (wie sie die obige Formel aufzählt) beseitigten Einfälle be-
    trachtet er aber als Abkömmlinge der verdrängten psychischen
    Gebilde (Gedanken und Regungen), als Entstellungen derselben
    infolge des gegen ihre Reproduktion bestehenden Widerstandes.

    Je größer der Widerstand, desto ausgiebiger diese Ent-
    stellung. In dieser Beziehung der unbeabsichtigten Einfälle zum
    verdrängten psychischen Material ruht nun ihr Wert für die
    therapeutische Technik. Wenn man ein Verfahren besitzt, wel-
    ches ermöglicht, von den Einfällen aus zu dem Verdrängten,
    von den Entstellungen zum Entstellten zu gelangen, so kann
    man auch ohne Hypnose das früher Unbewußte im Seelenleben
    dem Bewußtsein zugänglich machen.

    Freud hat darauf eine Deutungskunst ausgebildet,
    welcher diese Leistung zufällt, die gleichsam aus den Erzen
    der unbeabsichtigten Einfälle den Metallgehalt an verdrängten
    Gedanken darstellen soll. Objekt dieser Deutungsarbeit sind
    nicht allein die Einfälle der Kranken, sondern auch seine
    Träume, die den direktesten Zugang zur Kenntnis des Un-
    bewußten eröffnen, seine unbeabsichtigten, wie planlosen Hand-
    lungen (Symptomhandlungen) und die Irrungen seiner Leistungen
    im Alltagsleben (Versprechen, Vergreifen u. dgl.). Die Details
    dieser Deutungs- oder Übersetzungstechnik sind von Freud
    noch nicht veröffentlicht werden. Es sind nach seinen Andeu-
    tungen eine Reihe von empirisch gewonnenen Regeln, wie aus

  • S.

    217

    den Einfällen das unbewußte Material zu konstruieren ist, An-
    weisungen, wie man es zu verstehen habe, wenn die Einfälle
    des Patienten versagen, und Erfahrungen über die wichtigsten
    typischen Widerstände, die sich im Laufe einer solchen Behand-
    lung einstellen. Ein umfangreiches Buch über „Traumdeutung“,
    1900 von Freud publiziert, ist als Vorläufer einer solchen Ein-
    führung in die Technik anzusehen.

    Man könnte aus diesen Andeutungen über die Technik
    der psychoanalytischen Methode schließen, daß deren Erfinder
    sich überflüssige Mühe verursacht und Unrecht getan hat, das
    wenig komplizierte hypnotische Verfahren zu verlassen. Aber
    einerseits ist die Technik der Psychoanalyse viel leichter aus-
    zuüben, wenn man sie einmal erlernt hat, als es bei einer Be-
    schreibung den Anschein hat, anderseits führt kein anderer
    Weg zum Ziele, und darum ist der mühselige Weg noch der
    kürzeste. Der Hypnose ist vorzuwerfen, daß sie den Widerstand
    verdeckt und dadurch dem Arzt den Einblick in das Spiel der
    psychischen Kräfte verwehrt hat. Sie räumt aber mit dem
    Widerstande nicht auf, sondern weicht ihm nur aus und ergibt
    dagegen nur unvollständige Auskünfte und nur vorübergehende
    Erfolge.

    Die Aufgabe, welche die psychoanalytische Methode zu
    lösen bestrebt ist, läßt sich in verschiedenen Formeln aus-
    drücken, die aber ihrem Wesen nach äquivalent sind. Man kann
    sagen: Aufgabe der Kur sei, die Amnesien aufzuheben. Wenn
    alle Erinnerungslücken ausgefüllt, alle rätselhaften Effekte des
    psychischen Lebens aufgeklärt sind, ist der Fortbestand, ja eine
    Neubildung des Leidens unmöglich gemacht. Man kann die
    Bedingung anders fassen: es seien alle Verdrängungen rück-
    gängig zu machen; der psychische Zustand ist dann derselbe,
    in dem alle Amnesien ausgefüllt sind. Weittragender ist eine
    andere Fassung: es handle sich darum, das Unbewußte dem
    Bewußtsein zugänglich zu machen, was durch Überwindung der
    Widerstände geschieht. Man darf aber dabei nicht vergessen,
    daß ein solcher Idealzustand auch beim normalen Menschen
    nicht besteht, und daß man nur selten in die Lage kommen
    kann, die Behandlung annähernd so weit zu treiben. So wie
    Gesundheit und Krankheit nicht prinzipiell geschieden, sondern

  • S.

    218

    nur durch eine praktisch bestimmbare Summationsgrenze ge-
    sondert sind, so wird man sich auch nie etwas anderes zum
    Ziel der Behandlung setzen als die praktische Genesung des
    Kranken, die Herstellung seiner Leistungs- und Genußfähigkeit.
    Bei unvollständiger Kur oder unvollkommenem Erfolge der-
    selben erreicht man vor allem eine bedeutende Hebung des
    psychischen Allgemeinzustandes, während die Symptome, aber
    mit geminderter Bedeutung für den Kranken, fortbestehen
    können, ohne ihn zu einem Kranken zu stempeln.

    Das therapeutische Verfahren bleibt, von geringen Mo-
    difikationen abgesehen, das nämliche für alle Symptombilder
    der vielgestaltigen Hysterie und ebenso für alle Ausbildungen
    der Zwangsneurose. Von einer unbeschränkten Anwendbarkeit
    desselben ist aber keine Rede. Die Natur der psychoanaly-
    tischen Methode schafft Indikationen und Gegenanzeigen so-
    wohl von seiten der zu behandelnden Personen, als auch
    mit Rücksicht auf das Krankheitsbild. Am günstigsten für
    die Psychoanalyse sind die chronischen Fälle von Psycho-
    neurosen mit wenig stürmischen oder gefahrdrohenden Sym-
    ptomen, also zunächst alle Arten der Zwangsneurose, Zwangs-
    denken und Zwangshandeln, und Fälle von Hysterie, in denen
    Phobien und Abulien die Hauptrolle spielen, weiterhin aber
    auch alle somatischen Ausprägungen der Hysterie, insoferne
    nicht, wie bei der Anorexie, rasche Beseitigung der Symptome
    zur Hauptaufgabe des Arztes wird. Bei akuten Fällen von
    Hysterie wird man den Eintritt eines ruhigeren Stadiums abzu-
    warten haben; in allen Fällen, bei denen die nervöse Er-
    schöpfung obenan steht, wird man ein Verfahren vermeiden,
    welches selbst Anstrengung erfordert, nur langsame Fortschritte
    zeitigt und auf die Fortdauer der Symptome eine Zeitlang keine
    Rücksicht nehmen kann.

    An die Person, die man mit Vorteil der Psychoanalyse
    unterziehen soll, sind mehrfache Forderungen zu stellen. Sie
    muß erstens eines psychischen Normalzustandes fähig sein; in
    Zeiten der Verworrenheit oder melancholischer Depression
    ist auch bei einer Hysterie nichts auszurichten. Man darf
    ferner ein gewisses Maß natürlicher Intelligenz und ethischer
    Entwicklung fordern; bei wertlosen Personen läßt den Arzt

  • S.

    219

    bald das Interesse im Stiche, welches ihn zur Vertiefung in
    das Seelenleben des Kranken befähigt. Ausgeprägte Charakter-
    verbildungen, Züge von wirklich degenerativer Konstitution
    äußern sich bei der Kur als Quelle von kaum zu überwindenden
    Widerständen. Insoweit setzt überhaupt die Konstitution eine
    Grenze für die Heilbarkeit durch Psychotherapie. Auch eine
    Altersstufe in der Nähe des fünften Dezenniums schafft un-
    günstige Bedingungen für die Psychoanalyse. Die Masse des
    psychischen Materials ist dann nicht mehr zu bewältigen, die
    zur Herstellung erforderliche Zeit wird zu lang, und die
    Fähigkeit, psychische Vorgänge rückgängig zu machen, beginnt
    zu erlahmen.

    Trotz aller dieser Einschränkungen ist die Anzahl der
    für die Psychoanalyse geeigneten Personen eine außerordentlich
    große, und die Erweiterung unseres therapeutischen Könnens
    durch dieses Verfahren nach den Behauptungen Freuds eine
    sehr beträchtliche. Freud beansprucht lange Zeiträume, ½ Jahr
    bis 3 Jahre für eine wirksame Behandlung; er gibt aber die
    Auskunft, daß er bisher infolge verschiedener leicht zu erratender
    Umstände meist nur in die Lage gekommen ist, seine Behandlung
    an sehr schweren Fällen zu erproben, Personen mit vieljähriger
    Krankheitsdauer und völliger Leistungsunfähigkeit, die, durch
    alle Behandlungen getäuscht, gleichsam eine letzte Zuflucht bei
    seinem neuen und viel angezweifelten Verfahren gesucht haben.
    In Fällen leichterer Erkrankung dürfte sich die Behandlungs-
    dauer sehr verkürzen und ein außerordentlicher Gewinn an
    Vorbeugung für die Zukunft erzielen lassen.“