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XIII.
Die Freudsche psychoanalytische Methode1).„Die eigentümliche Methode der Psychotherapie, die
Freud ausübt und als Psychoanalyse bezeichnet, ist aus dem
sogenannten kathartischen Verfahren hervorgegangen, über wel-
ches er seinerzeit in den „Studien über Hysterie“ 1895 in
Gemeinschaft mit J. Breuer berichtet hat. Die kathartische
Therapie war eine Erfindung Breuers, der mit ihrer Hilfe
zuerst etwa ein Dezennium vorher eine hysterische Kranke her-
gestellt und dabei Einsicht in die Pathogenese ihrer Symptome
gewonnen hatte. Infolge einer persönlichen Anregung Breuers
nahm dann Freud das Verfahren wieder auf und erprobte es
an einer größeren Anzahl von Kranken.Das kathartische Verfahren setzte voraus, daß der Patient
hypnotisierbar sei und beruhte auf der Erweiterung des Bewußt-
seins, die in der Hypnose eintritt. Es setzte sich die Beseiti-
gung der Krankheitssymptome zum Ziele und erreichte dies,
indem es den Patienten sich in den psychischen Zustand zurück-
versetzen ließ, in welchem das Symptom zum ersten Male auf-
getreten war. Es tauchten dann bei dem hypnotisierten Kranken
Erinnerungen, Gedanken und Impulse auf, die in seinem Be-
wußtsein bisher ausgefallen waren, und wenn er diese seine
seelischen Vorgänge unter intensiven Affektäußerungen dem
Arzte mitgeteilt hatte, war das Symptom überwunden, die
Wiederkehr desselben aufgehoben. Diese regelmäßig zu wieder-
holende Erfahrung erläuterten die beiden Autoren in ihrer ge-
meinsamen Arbeit dahin, daß das Symptom an Stelle von
unterdrückten und nicht zum Bewußtsein gelangten psychischen1) Aus: Löwenfeld, Psychische Zwangserscheinungen, 1904.
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Vorgängen stehe, also eine Umwandlung („Konversion“) der
letzteren darstelle. Die therapeutische Wirksamkeit ihres Ver-
fahrens erklärten sie sich aus der Abfuhr des bis dahin gleich-
sam „eingeklemmten“ Affektes, der an den unterdrückten seeli-
schen Aktionen gehaftet hatte („Abreagieren“). Das einfache
Schema des therapeutischen Eingriffes komplizierte sich aber
nahezu alle Male, indem sich zeigte, daß nicht ein einzelner
(„traumatischer“) Eindruck, sondern meist eine schwer zu über-
sehende Reihe von solchen an der Entstehung des Symptoms
beteiligt sei.Der Hauptcharakter der kathartischen Methode, der sie
im Gegensatz zu allen anderen Verfahren der Psychotherapie
setzt, liegt also darin, daß bei ihr die therapeutische Wirksam-
keit nicht einem suggestiven Verbot des Arztes übertragen wird.
Sie erwartet vielmehr, daß die Symptome von selbst verschwin-
den werden, wenn es dem Eingriff, der sich auf gewisse Voraus-
setzungen über den psychischen Mechanismns beruft, gelungen
ist, seelische Vorgänge zu einem andern als dem bisherigen
Verlaufe zu bringen, der in die Symptombildung einge-
mündet hat.Die Abänderungen, welche Freud an dem kathartischen
Verfahren Breuers vornahm, waren zunächst Änderungen
der Technik; diese brachten aber neue Ergebnisse und haben
in weiterer Folge zu einer andersartigen, wiewohl der früheren
nicht widersprechenden, Auffassung der therapeutischen Arbeit
genötigt.Hatte die kathartische Methode bereits auf die Suggestion
verzichtet, so unternahm Freud den weiteren Schritt, auch die
Hypnose aufzugeben. Er behandelt gegenwärtig seine Kranken,
indem er sie ohne andersartige Beeinflussung eine bequeme
Rückenlage auf einem Ruhebett einnehmen läßt, während er
selbst ihrem Anblick entzogen auf einem Stuhle hinter ihnen
sitzt. Auch den Verschluß der Augen fordert er von ihnen
nicht und vermeidet jede Berührung sowie jede andere Proze-
dur, die an Hypnose mahnen könnte. Eine solche Sitzung ver-
läuft also wie ein Gespräch zwischen zwei gleich wachen Per-
sonen, von denen die eine sich jede Muskelanstrengung und
jeden ablenkenden Sinneseindruck erspart, die sie in der Kon-S.
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zentration ihrer Aufmerksamkeit auf ihre eigene seelische Tätig-
keit stören könnten.Da das Hypnotisiertwerden, trotz aller Geschicklichkeit des
Arztes, bekanntlich in der Willkür des Patienten liegt, und eine
große Anzahl neurotischer Personen durch kein Verfahren in
Hypnose zu versetzen ist, so war durch den Verzicht auf die
Hypnose die Anwendbarkeit des Verfahrens auf eine unein-
geschränkte Anzahl von Kranken gesichert. Anderseits fiel die
Erweiterung des Bewußtseins weg, welche dem Arzt gerade
jenes psychische Material an Erinnerungen und Vorstellungen
geliefert hatte, mit dessen Hilfe sich die Umsetzung der Sym-
ptome und die Befreiung der Affekte vollziehen ließ. Wenn für
diesen Ausfall kein Ersatz zu schaffen war, konnte auch von
einer therapeutischen Einwirkung keine Rede sein.Einen solchen völlig ausreichenden Ersatz fand nun Freud
in den Einfällen der Kranken, d. h. in den ungewollten, meist
als störend empfundenen und darum unter gewöhnlichen Ver-
hältnissen beseitigten Gedanken, die den Zusammenhang einer
beabsichtigten Darstellung zu durchkreuzen pflegen. Um sich
dieser Einfälle zu bemächtigen, fordert er die Kranken auf, sich
in ihren Mitteilungen gehen zu lassen, „wie man es etwa in
einem Gespräche tut, bei welchem man aus dem Hundertsten
in das Tausendste gerät“. Er schärft ihnen, ehe er sie zur de-
taillierten Erzählung ihrer Krankengeschichte auffordert, ein,
alles mit zu sagen, was ihnen dabei durch den Kopf geht, auch
wenn sie meinen, es sei unwichtig, oder es gehöre nicht dazu,
oder es sei unsinnig. Mit besonderem Nachdrucke aber wird von
ihnen verlangt, daß sie keinen Gedanken oder Einfall darum
von der Mitteilung ausschließen, weil ihnen diese Mitteilung
beschämend oder peinlich ist. Bei den Bemühungen, dieses
Material an sonst vernachlässigten Einfällen zu sammeln, machte
nun Freud die Beobachtungen, die für seine ganze Auffassung
bestimmend geworden sind. Schon bei der Erzählung der Kranken-
geschichte stellen sich bei den Kranken Lücken der Erinnerung
heraus, sei es, daß tatsächliche Vorgänge vergessen worden, sei
es, daß zeitliche Beziehungen verwirrt oder Kausalzusammen-
hänge zerrissen worden sind, so daß sich unbegreifliche Effekte
ergeben. Ohne Amnesie irgend einer Art gibt es keine neuro-S.
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tische Krankengeschichte. Drängt man den Erzählenden, diese
Lücken seines Gedächtnisses durch angestrengte Arbeit der
Aufmerksamkeit auszufüllen, so merkt man, daß die hierzu sich
einstellenden Einfälle von ihm mit allen Mitteln der Kritik
zurückgedrängt werden, bis er endlich das direkte Unbehagen
verspürt, wenn sich die Erinnerung wirklich eingestellt hat.
Aus dieser Erfahrung schließt Freud, daß die Amnesien das
Ergebnis eines Vorganges sind, den er Verdrängung heißt,
und als dessen Motiv er Unlustgefühle erkennt. Die psychischen
Kräfte, welche diese Verdrängung herbeigeführt haben, meint
er in dem Widerstand, der sich gegen die Wiederherstellung
erhebt, zu verspüren.Das Moment des Widerstandes ist eines der Fundamente
seiner Theorie geworden. Die sonst unter allerlei Vorwänden
(wie sie die obige Formel aufzählt) beseitigten Einfälle be-
trachtet er aber als Abkömmlinge der verdrängten psychischen
Gebilde (Gedanken und Regungen), als Entstellungen derselben
infolge des gegen ihre Reproduktion bestehenden Widerstandes.Je größer der Widerstand, desto ausgiebiger diese Ent-
stellung. In dieser Beziehung der unbeabsichtigten Einfälle zum
verdrängten psychischen Material ruht nun ihr Wert für die
therapeutische Technik. Wenn man ein Verfahren besitzt, wel-
ches ermöglicht, von den Einfällen aus zu dem Verdrängten,
von den Entstellungen zum Entstellten zu gelangen, so kann
man auch ohne Hypnose das früher Unbewußte im Seelenleben
dem Bewußtsein zugänglich machen.Freud hat darauf eine Deutungskunst ausgebildet,
welcher diese Leistung zufällt, die gleichsam aus den Erzen
der unbeabsichtigten Einfälle den Metallgehalt an verdrängten
Gedanken darstellen soll. Objekt dieser Deutungsarbeit sind
nicht allein die Einfälle der Kranken, sondern auch seine
Träume, die den direktesten Zugang zur Kenntnis des Un-
bewußten eröffnen, seine unbeabsichtigten, wie planlosen Hand-
lungen (Symptomhandlungen) und die Irrungen seiner Leistungen
im Alltagsleben (Versprechen, Vergreifen u. dgl.). Die Details
dieser Deutungs- oder Übersetzungstechnik sind von Freud
noch nicht veröffentlicht worden. Es sind nach seinen Andeu-
tungen eine Reihe von empirisch gewonnenen Regeln, wie ausS.
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den Einfällen das unbewußte Material zu konstruieren ist, An-
weisungen, wie man es zu verstehen habe, wenn die Einfälle
des Patienten versagen, und Erfahrungen über die wichtigsten
typischen Widerstände, die sich im Laufe einer solchen Behand-
lung einstellen. Ein umfangreiches Buch über „Traumdeutung“,
1900 von Freud publiziert, ist als Vorläufer einer solchen Ein-
führung in die Technik anzusehen.Man könnte aus diesen Andeutungen über die Technik
der psychoanalytischen Methode schließen, daß deren Erfinder
sich überflüssige Mühe verursacht und Unrecht getan hat, das
wenig komplizierte hypnotische Verfahren zu verlassen. Aber
einerseits ist die Technik der Psychoanalyse viel leichter aus-
zuüben, wenn man sie einmal erlernt hat, als es bei einer Be-
schreibung den Anschein hat, anderseits führt kein anderer
Weg zum Ziele, und darum ist der mühselige Weg noch der
kürzeste. Der Hypnose ist vorzuwerfen, daß sie den Widerstand
verdeckt und dadurch dem Arzt den Einblick in das Spiel der
psychischen Kräfte verwehrt hat. Sie räumt aber mit dem
Widerstande nicht auf, sondern weicht ihm nur aus und ergibt
dagegen nur unvollständige Auskünfte und nur vorübergehende
Erfolge.Die Aufgabe, welche die psychoanalytische Methode zu
lösen bestrebt ist, läßt sich in verschiedenen Formeln aus-
drücken, die aber ihrem Wesen nach äquivalent sind. Man kann
sagen: Aufgabe der Kur sei, die Amnesien aufzuheben. Wenn
alle Erinnerungslücken ausgefüllt, alle rätselhaften Effekte des
psychischen Lebens aufgeklärt sind, ist der Fortbestand, ja eine
Neubildung des Leidens unmöglich gemacht. Man kann die
Bedingung anders fassen: es seien alle Verdrängungen rück-
gängig zu machen; der psychische Zustand ist dann derselbe,
in dem alle Amnesien ausgefüllt sind. Weittragender ist eine
andere Fassung: es handle sich darum, das Unbewußte dem
Bewußtsein zugänglich zu machen, was durch Überwindung der
Widerstände geschieht. Man darf aber dabei nicht vergessen,
daß ein solcher Idealzustand auch beim normalen Menschen
nicht besteht, und daß man nur selten in die Lage kommen
kann, die Behandlung annähernd so weit zu treiben. So wie
Gesundheit und Krankheit nicht prinzipiell geschieden, sondernS.
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nur durch eine praktisch bestimmbare Summationsgrenze ge-
sondert sind, so wird man sich auch nie etwas anderes zum
Ziel der Behandlung setzen als die praktische Genesung des
Kranken, die Herstellung seiner Leistungs- und Genußfähigkeit.
Bei unvollständiger Kur oder unvollkommenem Erfolge der-
selben erreicht man vor allem eine bedeutende Hebung des
psychischen Allgemeinzustandes, während die Symptome, aber
mit geminderter Bedeutung für den Kranken, fortbestehen
können, ohne ihn zu einem Kranken zu stempeln.Das therapeutische Verfahren bleibt, von geringen Mo-
difikationen abgesehen, das nämliche für alle Symptombilder
der vielgestaltigen Hysterie und ebenso für alle Ausbildungen
der Zwangsneurose. Von einer unbeschränkten Anwendbarkeit
desselben ist aber keine Rede. Die Natur der psychoanaly-
tischen Methode schafft Indikationen und Gegenanzeigen so-
wohl von seiten der zu behandelnden Personen, als auch
mit Rücksicht auf das Krankheitsbild. Am günstigsten für
die Psychoanalyse sind die chronischen Fälle von Psycho-
neurosen mit wenig stürmischen oder gefahrdrohenden Sym-
ptomen, also zunächst alle Arten der Zwangsneurose, Zwangs-
denken und Zwangshandeln, und Fälle von Hysterie, in denen
Phobien und Abulien die Hauptrolle spielen, weiterhin aber
auch alle somatischen Ausprägungen der Hysterie, insoferne
nicht, wie bei der Anorexie, rasche Beseitigung der Symptome
zur Hauptaufgabe des Arztes wird. Bei akuten Fällen von
Hysterie wird man den Eintritt eines ruhigeren Stadiums abzu-
warten haben; in allen Fällen, bei denen die nervöse Er-
schöpfung obenan steht, wird man ein Verfahren vermeiden,
welches selbst Anstrengung erfordert, nur langsame Fortschritte
zeitigt und auf die Fortdauer der Symptome eine Zeitlang keine
Rücksicht nehmen kann.An die Person, die man mit Vorteil der Psychoanalyse
unterziehen soll, sind mehrfache Forderungen zu stellen. Sie
muß erstens eines psychischen Normalzustandes fähig sein; in
Zeiten der Verworrenheit oder melancholischer Depression
ist auch bei einer Hysterie nichts auszurichten. Man darf
ferner ein gewisses Maß natürlicher Intelligenz und ethischer
Entwicklung fordern; bei wertlosen Personen läßt den ArztS.
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bald das Interesse im Stiche, welches ihn zur Vertiefung in
das Seelenleben des Kranken befähigt. Ausgeprägte (Charakter-
verbildungen, Züge von wirklich degenerativer Konstitution
äußern sich bei der Kur als Quelle von kaum zu überwindenden
Widerständen. Insoweit setzt überhaupt die Konstitution eine
Grenze für die Heilbarkeit durch Psychotherapie. Auch eine
Altersstufe in der Nähe des fünften Dezenniums schafft un-
günstige Bedingungen für die Psychoanalyse. Die Masse des
psychischen Materials ist dann nicht mehr zu bewältigen, die
zur Herstellung erforderliche Zeit wird zu lang, und die
Fähigkeit, psychische Vorgänge rückgängig zu machen, beginnt
zu erlahmen.Trotz aller dieser Einschränkungen ist die Anzahl der
für die Psychoanalyse geeigneten Personen eine außerordentlich
große, und die Erweiterung unseres therapeutischen Könnens
durch dieses Verfahren nach den Behauptungen Freuds eine
sehr beträchtliche. Freud beansprucht lange Zeiträume, ½ Jahr
bis 3 Jahre für eine wirksame Behandlung; er gibt aber die
Auskunft, daß er bisher infolge verschiedener leicht zu erratender
Umstände meist nur in die Lage gekommen ist, seine Behandlung
an sehr schweren Fällen zu erproben, Personen mit vieljähriger
Krankheitsdauer und völliger Leistungsunfähigkeit, die, durch
alle Behandlungen getäuscht, gleichsam eine letzte Zuflucht bei
seinem neuen und viel angezweifeltem Verfahren gesucht haben.
In Fällen leichterer Erkrankung dürfte sich die Behandlungs-
dauer sehr verkürzen und ein außerordentlicher Gewinn an
Vorbeugung für die Zukunft erzielen lassen.“
sksn13
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