S.
In.
Zwangshandlungen und Religionsübung?.Ich bin gewiß nicht der erste, dem die Ähnlichkeit der
sogenannten Zwangshandlungen Nervóser mit den Verrichtungen
aufgefallen ist, durch welche der Gläubige seine Frömmigkeit
bezeugt. Der Name ,Zeremoniell^ bürgt mir dafür, mit dem
man gewisse dieser Zwangshandlungen belegt hat. Doch scheint
mir diese Ähnlichkeit eine mehr als oberflüchliche zu Sein, so
daß man aus einer Einsicht in die Entstehung des neurotischen
Zeremoniells Analogieschliisse auf die seelischen Vorgänge des
religiösen Lebens wagen dürfte,Die Leute, die Zwangshandlungen oder Zeremoniell aus-
üben, gehóren nebst jenen, die an Zwangsdenken, Zwangsvor-
stellungen, Zwangsimpulsen u. dgl. leiden, zu einer besonderen
klinischen Einheit, für deren Affektion der Name , Zwangsneurose“
gebräuchlich ist?). Man möge aber nicht versuchen, die Eigen-
art dieses Leidens aus seinem Namen abzuleiten, denn streng
genommen haben andersartige krankhafte Seelenerscheinungen
den gleichen Anspruch auf den sogenannten ,Zwangscharakter“.
An Stelle einer Definition muß derzeit noch die Detailkenntnis.
dieser Zustände treten, da es bisher nicht gelungen ist, das.
wahrscheinlich tief liegende Kriterium der Zwangsneurose auf-
zuzeigen, dessen Vorhandensein man doch in ihren Äußerungen
allenthalben zu spüren vermeint.Das neurotische Zeremoniell besteht in kleinen Ver-
richtungen, Zutaten, Einschränkungen, Anordnungen, die bei1) Zeitschrift für Religionspsychologie, herausgegeben von Bresler
und Vorbrodt, Bd. I, Heft 1, 1907.
2) Vel. Lówenfeld, Die psychischen Zwangserscheinungen, 1904.S.
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gewissen Handlungen des täglichen Lebens in immer gleicher
oder gesetzmäßig abgeänderter Weise vollzogen werden. Diese
Tätigkeiten machen uns den Eindruck von bloßen „Formalitäten“;
sie erscheinen uns völlig bedeutungslos. Nicht anders erscheinen
sie dem Kranken selbst, und doch ist er unfähig, sie zu unter-
lassen, denn jede Abweichung von dem Zeremoniell straft sich
durch unerträgliche Angst, die sofort die Nachholung des Unter-
lassenen erzwingt. Ebenso kleinlich wie die Zeremoniellhandlungen
selbst sind die Anlässe und Tätigkeiten, welche durch das
Zeremoniell verziert, erschwert und jedenfalls auch verzögert
werden, z. B. das Ankleiden und Auskleiden, das Zubette-
gehen, die Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse. Man kann
die Ausübung eines Zeremoniells beschreiben, indem man es
gleichsam durch eine Reihe ungeschriebener Gesetze ersetzt, also
z. B. für das Bettzeremoniell: der Sessel muß in solcher be-
stimmter Stellung vor dem Bette stehen, auf ihm die Kleider
in gewisser Ordnung gefaltet liegen; die Bettdecke muß am
Fußende eingesteckt sein, das Bettuch glatt gestrichen; die
Polster müssen so und so verteilt liegen, der Körper selbst in
einer genau bestimmten Lage sein; dann erst darf man ein-
schlafen. In leichten Fällen sieht das Zeremoniell so der Über-
treibung einer gewohnten und berechtigten Ordnung gleich. Aber
die besondere Gewissenhaftigkeit der Ausführung und die Angst
bei der Unterlassung kennzeichnen das Zeremoniell als „heilige
Handlung“. Störungen derselben werden meist schlecht vertragen;
die Öffentlichkeit, die Gegenwart anderer Personen während der
Vollziehung ist fast immer ausgeschlossen.Zu Zwangshandlungen im weiteren Sinne können alle be-
liebigen Tätigkeiten werden, wenn sie durch kleine Zutaten
verziert, durch Pausen und Wiederholungen rhythmiert werden.
Eine scharfe Abgrenzung des „Zeremoniells“ von den „Zwangs-
handlungen“ wird man zu finden nicht erwarten. Meist sind die
Zwangshandlungen aus Zeremoniell hervorgegangen. Neben diesen
beiden bilden den Inhalt des Leidens Verbote und Verhinderungen
(Abulien), die ja eigentlich das Werk der Zwangshandlungen
nur fortsetzen, indem dem Kranken einiges überhaupt nicht
erlaubt ist, anderes nur unter Befolgung des vorgeschriebenen
Zeremoniells,S.
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Merkwiirdig ist, daß Zwang wie Verbote (das eine tun
müssen, das andere nicht tun dürfen) anfänglich nur die einsamen
Tätigkeiten der Menschen betreffen und deren soziales Verhalten
lange Zeit unbeeintrichtigt lassen; daher können solche Kranke
ihr Leiden durch viele Jahre als ihre Privatsache behandeln und
verbergen. Auch leiden viel mehr Personen an solchen Formen
der Zwangsneurose, als den Ärzten bekannt wird. Das Verbergen
wird ferner vielen Kranken durch den Umstand erleichtert, daß
sie sehr wohl imstande sind, über einen Teil des Tages ihre
sozialen Pflichten zu erfüllen, nachdem sie eine Anzahl von
Stunden in melusinenhafter Abgeschiedenheit ihrem geheimnis-
vollen Tun gewidmet haben. 2Es ist leicht einzusehen, worin die Ahnlichkeit des neuroti-
schen Zeremoniells mit den heiligen Handlungen des religiösen
Ritus gelegen ist, in der Gewissensangst bei der Unterlassung,
in der vollen Isolierung von allem andern Tun (Verbot der
Störung) und in der Gewissenhaftigkeit der Ausführung im
kleinen. Aber ebenso augenfällig sind die Unterscheidungen, von
denen einige so grell sind, daB sie den Vergleich zu einem
sakrilegischen werden lassen. Die größere individuelle Mannig-
faltigkeit der Zeremoniellhandlungen im Gegensatze zur Stereotypie
des Ritus (Gebet, Proskinesis usw.), der Privatcharakter der-
selben im Gegensatze zur Öffentlichkeit und Gemeinsamkeit der
Religionsiibung; vor allem aber der eine Unterschied, daß die
kleinen Zutaten des religiösen Zeremoniells sinnvoll und symbo-
lisch gemeint sind, während die des neurotischen läppisch und
sinnlos erscheinen. Die Zwangsneurose liefert hier ein halb
komisches, halb trauriges Zerrbild einer Privatreligion. Indes
wird gerade dieser einschneidendste Unterschied zwischen neu-
rotischem und religiósem Zeremoniell beseitigt, wenn man mit
Hilfe der psychoanalytischen Untersuchungstechnik zum Ver-
ståndnis der Zwangshandlungen durchdringt?). Bei dieser Unter-
suchung wird der Anschein, als ob Zwangshandlungen läppisch
und sinnlos wären, gründlich zerstört und die Begründung dieses
Scheines aufgedeckt. Man erfährt, daß die Zwangshandlungen
durchwegs und in all ihren Einzelheiten sinnvoll sind, im Diensteり Vgl. Freud, Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre..
Wien 1906.S.
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von bedeutsamen Interessen der Persönlichkeit stehen und fort-
wirkende Erlebnisse sowie affektbesetzte Gedanken derselben
zum Ausdrucke bringen. Sie tun dies in zweierlei Art, entweder
als direkte oder als symbolische Darstellungen; sie sind demnach
entweder historisch oder symbolisch zu deuten.Einige Beispiele, die diese Behauptung erläutern sollen,
darf ich mir hier wohl nicht ersparen. Wer mit den Ergebnissen
der psychoanalytischen Forschung bei den Psychoneurosen ver-
traut ist, wird nicht überrascht sein zu hören, daß das durch
die Zwangshandlungen oder das Zeremoniell Dargestellte sich
aus dem intimsten, meist aus dem sexuellen Erleben der Be-
troffenen ableitet:a) Ein Mädchen meiner Beobachtung stand unter dem
Zwange, nach dem Waschen die Waschschüssel mehrmals her-
umzuschwenken. Die Bedeutung dieser Zeremoniellhandlung lag
in dem sprichwörtlichen Satze: Man soll schmutziges Wasser
nicht ausgießen, ehe man reines hat. Die Handlung war dazu
bestimmt, ihre geliebte Schwester zu mahnen und zurückzuhalten,
daß sie sich von ihrem unerfreulichen Manne nicht eher scheiden
lasse, als bis sie eine Beziehung zu einem besseren ange-
knüpft habe.b) Eine von ihrem Manne getrennt lebende Frau folgte
beim Essen dem Zwange, das Beste stehen zu lassen, z. B. von
einem Stück gebratenen Fleisch nur die Ränder zu genießen.
Dieser Verzicht erklärte sich durch das Datum seiner Entstehung.
Er war am Tage aufgetreten, nachdem sie ihrem Manne den
ehelichen Verkehr gekündigt, d. h. aufs Beste verzichtet hatte.c) Dieselbe Patientin konnte eigentlich nur auf einem
einzigen Sessel sitzen und konnte sich nur mit Schwierigkeit von
ihm erheben. Der Sessel symbolisierte ihr mit Beziehung auf
bestimmte Details ihres Ehelebens den Mann, dem sie die Treue
hielt. Sie fand zur Aufklärung ihres Zwanges den Satz: „Man
trennt sich so schwer von einem (Manne, Sessel), auf dem man
einmal gesessen ist.“d) Sie pflegte eine Zeit hindurch eine besonders auffällige
und sinnlose Zwangshandlung zu wiederholen. Sie lief dann aus
ihrem Zimmer in ein anderes, in dessen Mitte ein Tisch stand,
rückte die auf ihm liegende Tischdecke in gewisser Art zurecht,S.
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schellte dem Stubenmädchen, das an den Tisch herantreten
mußte, und entlieB sie wieder mit einem gleichgültigen Auftrag.
Bei den Bemühungen, diesen Zwang aufzuklären, fiel ihr ein,
daß die betreffende Tischdecke an einer Stelle einen mißfarbigen
Fleck hatte, und daß sie jedesmal die Decke so legte, daß der
Fleck dem Stubenmidchen in die Augen fallen mußte. Das
Ganze war dann eine Reproduktion eines Erlebnisses aus ihrer
Ehe, welches ihren Gedanken später ein Problem zu lösen ge-
geben hatte. Thr Mann war in der Brautnacht von einem nicht
ungewöhnlichen Mißgeschick befallen worden. Er fand sich
impotent und „kam viele Male im Laufe der Nacht aus seinem
Zimmer in ihres gerannt“, um den Versuch, ob es nicht doch
gelinge, zu wiederholen. Am Morgen äußerte er, er müsse sich
ja vor dem Hotelstubenmädchen schämen, welches die Betten
in Ordnung bringen werde, ergriff darum ein Flischchen mit
roter Tinte und goß dessen Inhalt über das Bettuch aus, aber
so ungeschickt, daß der rote Fleck an einer fiir seine Absicht
sehr ungeeigneten Stelle zustande kam. Sie spielte also Braut-
nacht mit jener Zwangshandlung. „Tisch und Bett“ machen
zusammen die Ehe aus.e) Wenn sie den Zwang angenommen hatte, die Nummer
jeder Geldnote zu notieren, ehe sie dieselbe aus ihren Hånden
gab, so war dies gleichfalls historisch aufzuklåren. Zur Zeit, als
sie sich noch mit der Absicht trug, ihren Mann zu verlassen,
wenn sie einen andern, vertrauenswiirdigeren finde, lieB sie
sich in einem Badeorte die hóflichen Bemühungen eines Herrn
gefallen, iiber dessen Bereitschaft Ernst zu machen sie doch im
Zweifel blieb. Eines Tages um Kleingeld verlegen, bat sie ihn,
ihr ein Fiinfkronenstiick zu wechseln. Er tat es, steckte das
große Geldstiick ein und äußerte galant, er gedenke sich von
diesem nie wieder zu trennen, da es durch ihre Hand gegangen
sei. Bei spåterem Beisammensein war sie nun oft in Versuchung,
ihn aufzufordern, er möge ihr das Fiinfkronenstiick vorzeigen,
gleichsam um sich so zu iiberzeugen, ob sie seinen Huldigungen
Glauben schenken diirfe. Sie unterlieB es aber mit der guten
Begriindung, daB man gleichwertige Miinzen nicht voneinander
unterscheiden könne. Der Zweifel blieb also ungelóst; er hinter-
lieB ihr den Zwang, die Nummern der Geldnoten, durch welcheS.
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jede einzelne von allen ihr gleichwertigen individuell unterschieden
ist, zu notieren,Diese wenigen Beispiele, aus der Fülle meiner Erfahrung
herausgehoben, sollen nur den Satz, daß alles an den Zwangs-
handlungen sinnvoll und deutbar ist, erläutern. Das Gleiche gilt
für das eigentliche Zeremoniell, nur daß hier der Beweis um-
ständlichere Mitteilung erfordern würde. Ich verkenne es keines-
wegs, wie sehr wir uns bei den Aufklärungen der Zwangs-
handlungen vom Gedankenkreise der Religion zu entfernen
scheinen.Es gehört zu den Bedingungen des Krankseins, daß die
dem Zwange folgende Person ihn ausübe, ohne seine Bedeutung
— wenigstens seine Hauptbedeutung — zu kennen. Erst durch
die Bemühung der psychoanalytischen Therapie wird ihr der
Sinn der Zwangshandlung und damit die zu ihr treibenden
Motive bewußt gemacht. Wir sprechen diesen bedeutsamen
Sachverhalt in den Worten aus, daB die Zwangshandlung un-
bewuBten Motiven und Vorstellungen zum Ausdruck diene.
Darin scheint nun ein neuerlicher Unterschied gegen die Religions-
übung zu liegen; aber man muß daran denken, daß auch der
einzelne Fromme in der Regel das religiöse Zeremoniell ausübt,
ohne nach dessen Bedeutung zu fragen, während allerdings der
Priester und der Forscher mit dem meist symbolischen Sinn des
Ritus bekannt sein mögen. Die Motive, die zur Religionsiibung
driingen, sind aber allen Gliubigen unbekannt oder werden in
ihrem Bewußtsein durch vorgeschobene Motive vertreten.Die Analyse der Zwangshandlungen hat uns bereits eine
Art von Einsicht in die Verursachung derselben und in die
Verkettung der fiir sie maßgebenden Motive ermöglicht. Man
kann sagen, der an Zwang und Verboten Leidende benimmt
sich so, als stehe er unter der Herrschaft eines Schuld-
bewuBtseins, von dem er allerdings nichts weiß, eines un-
bewußten SchuldbewuBtseins also, wie man es ausdrücken muß
mit Hinwegsetzung über das Striuben der hier zusammen-
treffenden Worte. Dies Schuldbewuftsein hat seine Quelle in
gewissen friihzeitigen Seelenvorgången, findet aber eine bestän-
dige Auffrischung in der bei jedem rezenten Anlaß erneuerten
Versuchung und läßt anderseits eine immer lauernde Er-S.
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wartungsangst, Unheilserwartung, entstehen, die durch den
Begriff der Bestrafung an die innere Wahrnehmung der
Versuchung gekniipft ist. Zu Beginn der Zeremoniellbildung
wird dem Kranken noch bewußt, daß er dies oder jenes tun
miisse, sonst werde Unheil geschehen, und in der Regel wird
die Art des zu erwartenden Unheils noch seinem Bewußtsein
genannt. Der jedesmal nachweisbare Zusammenhang zwischen
dem Anlasse, bei dem die Erwartungsangst auftritt, und dem
Inhalte, mit dem sie droht, ist dem Kranken bereits verhiillt.
Das Zeremoniell beginnt so als Abwehr- oder Versiche-
rungshandlung, Schutzmabregel.Dem Schuldbewubtsein der Zwangsneurotiker entspricht
die Beteuerung der Frommen, sie wiiBten, daß sie im Herzen
arge Sünder seien; den Wert von Abwebr- und SchutzmaBregeln
scheinen die frommen Ubungen (Gebete, Anrufungen usw.) zu
haben, mit denen sie jede Tätigkeit des Tages und zumal jede
außergewöhnliche Unternehmung einleiten.Einen tieferen Einblick in den Mechanismus der Zwangs-
neurose gewinnt man, wenn man die ihr zugrundeliegende erste
Tatsache in Würdigung zieht: diese ist allemal die Verdrän-
gung einer Triebregung (einer Komponente des Sexual-
triebes), welche in der Konstitution der Person enthalten war,
im kindlichen Leben derselben sich eine Weile äußern durfte
und darauf der Unterdrückung verfiel. Eine spezielle, auf die
Ziele dieses Triebes gerichtete Gewissenhaftigkeit wird bei
der Verdrängung desselben geschaffen, aber diese psychische
Reaktionsbildung fühlt sich nicht sicher, sondern von dem im
Unbewußten lauernden Triebe beständig bedroht. Der Einfluß
des verdrängten Triebes wird als Versuchung empfunden, beim
Prozeß der Verdrängung selbst entsteht die Angst, die sich als
Erwartungsangst der Zukunft bemächtigt. Der Verdrängungs-
prozeß, der zur Zwangsneurose führt, ist als ein unvollkommen
gelungener zu bezeichnen, der immer mehr zu mißlingen droht.
Er ist daher einem nicht abzuschließenden Konflikt zu ver-
gleichen; es werden immer neue psychische Anstrengungen er-
fordert, um dem konstanten Andrängen des Triebes das Gleich-
gewicht zu halten. Die Zeremoniell- und Zwangshandlungen ent-
stehen so teils zur Abwehr der Versuchung, teils zum SchutzeS.
129
gegen das erwartete Unheil. Gegen die Versuchung scheinen die
Schutzhandlungen bald nicht auszureichen; es treten dann die
Verbote auf, welche die Situation der Versuchung ferne legen
sollen. Verbote ersetzen Zwangshandlungen, wie man sieht, ebenso
wie eine Phobie einen hysterischen Anfall zu ersparen bestimmt
ist. Anderseits stellt das Zeremoniell die Summe der Bedingungen
dar, unter denen anderes noch nicht absolut Verbotenes erlaubt
ist, ganz ähnlich wie das kirchliche Ehezeremoniell dem Frommen
die Gestattung des sonst sündhaften Sexualgenusses bedeutet.
Zum Charakter der Zwangsneurose wie aller ähnlichen Affek-
tionen gehört noch, daß ihre Äußerungen (Symptome, darunter
auch die Zwangshandlungen) die Bedingung eines Kompromisses
zwischen den streitenden seelischen Mächten erfüllen. Sie bringen
also auch immer etwas von der Lust wieder, die sie zu ver-
hüten bestimmt sind, dienen dem verdrängten Triebe nicht
minder als den ihn verdrängenden Instanzen. Ja, mit dem
Fortschritte der Krankheit nähern sich die ursprünglich eher
die Abwehr besorgenden Handlungen immer mehr den ver-
pönten Aktionen an, durch welche sich der Trieb in der Kind-
heit äußern durfte.Von diesen Verhältnissen wäre etwa folgendes auch auf
dem Gebiete des religiösen Lebens wiederzufinden. Auch der
Religionsbildung scheint die Unterdrückung, der Verzicht auf
gewisse Triebregungen zugrunde zu liegen; es sind aber nicht
wie bei der Neurose ausschließlich sexuelle Komponenten, sondern
eigensüchtige, sozialschädliche Triebe, denen übrigens ein sexueller
Beitrag meist nicht versagt ist. Das Schuldbewußtsein in der
Folge der nicht erlöschenden Versuchung, die Erwartungsangst
als Angst vor göttlichen Strafen sind uns ja auf religiösem Ge-
biete früher bekannt worden als auf dem der Neurose. Vielleicht
wegen der beigemengten sexuellen Komponenten, vielleicht in-
folge allgemeiner Eigenschaften der Triebe erweist sich die
Triebunterdrückung auch im religiösen Leben als eine unzu-
reichende und nicht abschließbare. Volle Rückfälle in die Sünde
sind beim Frommen sogar häufiger als beim Neurotiker und be-
gründen eine neue Art von religiösen Betitigungen, die Buf-
handlungen, zu denen man in der Zwangsneurose die Gegen-
stücke findet.Freud, Neurosenlehre. II. 9
S.
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Einen eigentiimlichen und entwiirdigenden Charakter der
Zwangsneurose sahen wir darin, daß das Zeremoniell sich an
kleine Handlungen des täglichen Lebens anschließt und sich in
låppischen Vorschriften und Einschränkungen derselben äußert.
Man versteht diesen auffälligen Zug in der Gestaltung des
Krankheitsbildes erst, wenn man erfährt, daß der Mechanismus
der psychischen Verschiebung, den ich zuerst bei der Traum-
bildung") aufgefunden, die seelischen Vorgänge der Zwangs-
neurose beherrscht. In den wenigen Beispielen von Zwangshand-
Jungen ist bereits ersichtlich, wie durch eine Verschiebung vom
Bigentlichen, Bedeutsamen, auf ein ersetzendes Kleines, vom
Mann auf den Sessel z. B., die Symbolik und das Detail der
Ausführung zustandekommen. Diese Neigung zur Verschiebung
ist es, die das Bild der Krankheitserscheinungen immer weiter
abändert und es endlich dahin bringt, das scheinbar Gering-
fügigste zum Wichtigsten und Dringendsten zu machen. Es ist
nicht zu verkennen, daß auf dem religiösen Gebiete eine ähn-
liche Neigung zur Verschiebung des psychischen Wertes, und
zwar in gleichem Sinne, besteht, so daß allmählich das kleinliche
Zeremoniell der Religionsiibung zum Wesentlichen wird, welches
deren Gedankeninhalt beiseite gedrängt hat. Darum unterliegen
die Religionen auch ruckweise einsetzenden Reformen, welche
das ursprüngliche Wertverhältnis herzustellen bemüht sind.Der Kompromißcharakter der Zwangshandlungen als neuro-
tischer Symptome wird an dem entsprechenden religiösen Tun
am wenigsten “dentlich zu erkennen sein. Und doch wird man
auch an diesen Zug der Neurose gemahnt, wenn man erinnert,
wie häufig alle Handlungen, welche die Religion verpönt — Äuße-
rungen der von der Religion unterdrückten Triebe — gerade
im Namen und angeblich zugunsten der Religion vollführt werden.Nach diesen Übereinstimmungen und Analogien könnte
man sich getrauen, die Zwangsneurose als pathologisches Gegen-
stück zur Religionsbildung aufzufassen, die Neurose als eine
individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangs-
neurose zu bezeichnen. Die wesentlichste Übereinstimmung läge
in dem zugrundeliegenden Verzicht auf die Betätigung vonり Vgl. Freud, Die Traumdeutung, 1900, 2. Aufl., 1909.
S.
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konstitutionell gegebenen Trieben; der entscheidendste Unter-
schied in der Natur dieser Triebe, die bei der Neurose aus-
schlieBlich sexueller, bei der Religion egoistischer Herkunft sind.Ein fortschreitender Verzicht auf konstitutionelle Triebe,
deren Betätigung dem Ich primäre Lust gewähren könnte, scheint
eine der Grundlagen der menschlichen Kulturentwicklung zu
sein. Ein Stück dieser Triebverdringung wird von den Religionen
geleistet, indem sie den einzelnen seine Trieblust der Gottheit
zum Opfer bringen lassen. „Die Rache ist mein“, spricht der
Herr. An der Entwicklung der alten Religionen glaubt man zu
erkennen, daß vieles, worauf der Mensch als „Frevel“ verzichtet
hatte, dem Gotte abgetreten und noch im Namen des Gottes
erlaubt war, so daß die Überlassung an die Gottheit der Weg
war, auf welchem sich der Mensch von der Herrschaft böser,
sozialschädlicher Triebe befreite. Es ist darum wohl kein Zufall,
daß den alten Göttern alle menschlichen Eigenschaften — mit
den aus ihnen folgenden Missetaten — in uneingeschränktem
Maße zugeschrieben wurden, und kein Widerspruch, daß es doch
nicht erlaubt war, die eigenen Frevel durch das göttliche Beispiel
zu rechtfertigen.9
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