Zwangshandlungen und Religionsübung 1907-002/1909
  • S.

    In.
    Zwangshandlungen und Religionsübung?.

    Ich bin gewiß nicht der erste, dem die Ähnlichkeit der
    sogenannten Zwangshandlungen Nervóser mit den Verrichtungen
    aufgefallen ist, durch welche der Gläubige seine Frömmigkeit
    bezeugt. Der Name ,Zeremoniell^ bürgt mir dafür, mit dem
    man gewisse dieser Zwangshandlungen belegt hat. Doch scheint
    mir diese Ähnlichkeit eine mehr als oberflüchliche zu Sein, so
    daß man aus einer Einsicht in die Entstehung des neurotischen
    Zeremoniells Analogieschliisse auf die seelischen Vorgänge des
    religiösen Lebens wagen dürfte,

    Die Leute, die Zwangshandlungen oder Zeremoniell aus-
    üben, gehóren nebst jenen, die an Zwangsdenken, Zwangsvor-
    stellungen, Zwangsimpulsen u. dgl. leiden, zu einer besonderen
    klinischen Einheit, für deren Affektion der Name , Zwangsneurose“
    gebräuchlich ist?). Man möge aber nicht versuchen, die Eigen-
    art dieses Leidens aus seinem Namen abzuleiten, denn streng
    genommen haben andersartige krankhafte Seelenerscheinungen
    den gleichen Anspruch auf den sogenannten ,Zwangscharakter“.
    An Stelle einer Definition muß derzeit noch die Detailkenntnis.
    dieser Zustände treten, da es bisher nicht gelungen ist, das.
    wahrscheinlich tief liegende Kriterium der Zwangsneurose auf-
    zuzeigen, dessen Vorhandensein man doch in ihren Äußerungen
    allenthalben zu spüren vermeint.

    Das neurotische Zeremoniell besteht in kleinen Ver-
    richtungen, Zutaten, Einschränkungen, Anordnungen, die bei

    1) Zeitschrift für Religionspsychologie, herausgegeben von Bresler

    und Vorbrodt, Bd. I, Heft 1, 1907.
    2) Vel. Lówenfeld, Die psychischen Zwangserscheinungen, 1904.

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    gewissen Handlungen des täglichen Lebens in immer gleicher
    oder gesetzmäßig abgeänderter Weise vollzogen werden. Diese
    Tätigkeiten machen uns den Eindruck von bloßen „Formalitäten“;
    sie erscheinen uns völlig bedeutungslos. Nicht anders erscheinen
    sie dem Kranken selbst, und doch ist er unfähig, sie zu unter-
    lassen, denn jede Abweichung von dem Zeremoniell straft sich
    durch unerträgliche Angst, die sofort die Nachholung des Unter-
    lassenen erzwingt. Ebenso kleinlich wie die Zeremoniellhandlungen
    selbst sind die Anlässe und Tätigkeiten, welche durch das
    Zeremoniell verziert, erschwert und jedenfalls auch verzögert
    werden, z. B. das Ankleiden und Auskleiden, das Zubette-
    gehen, die Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse. Man kann
    die Ausübung eines Zeremoniells beschreiben, indem man es
    gleichsam durch eine Reihe ungeschriebener Gesetze ersetzt, also
    z. B. für das Bettzeremoniell: der Sessel muß in solcher be-
    stimmter Stellung vor dem Bette stehen, auf ihm die Kleider
    in gewisser Ordnung gefaltet liegen; die Bettdecke muß am
    Fußende eingesteckt sein, das Bettuch glatt gestrichen; die
    Polster müssen so und so verteilt liegen, der Körper selbst in
    einer genau bestimmten Lage sein; dann erst darf man ein-
    schlafen. In leichten Fällen sieht das Zeremoniell so der Über-
    treibung einer gewohnten und berechtigten Ordnung gleich. Aber
    die besondere Gewissenhaftigkeit der Ausführung und die Angst
    bei der Unterlassung kennzeichnen das Zeremoniell als „heilige
    Handlung“. Störungen derselben werden meist schlecht vertragen;
    die Öffentlichkeit, die Gegenwart anderer Personen während der
    Vollziehung ist fast immer ausgeschlossen.

    Zu Zwangshandlungen im weiteren Sinne können alle be-
    liebigen Tätigkeiten werden, wenn sie durch kleine Zutaten
    verziert, durch Pausen und Wiederholungen rhythmiert werden.
    Eine scharfe Abgrenzung des „Zeremoniells“ von den „Zwangs-
    handlungen“ wird man zu finden nicht erwarten. Meist sind die
    Zwangshandlungen aus Zeremoniell hervorgegangen. Neben diesen
    beiden bilden den Inhalt des Leidens Verbote und Verhinderungen
    (Abulien), die ja eigentlich das Werk der Zwangshandlungen
    nur fortsetzen, indem dem Kranken einiges überhaupt nicht
    erlaubt ist, anderes nur unter Befolgung des vorgeschriebenen
    Zeremoniells,

  • S.

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    Merkwiirdig ist, daß Zwang wie Verbote (das eine tun
    müssen, das andere nicht tun dürfen) anfänglich nur die einsamen
    Tätigkeiten der Menschen betreffen und deren soziales Verhalten
    lange Zeit unbeeintrichtigt lassen; daher können solche Kranke
    ihr Leiden durch viele Jahre als ihre Privatsache behandeln und
    verbergen. Auch leiden viel mehr Personen an solchen Formen
    der Zwangsneurose, als den Ärzten bekannt wird. Das Verbergen
    wird ferner vielen Kranken durch den Umstand erleichtert, daß
    sie sehr wohl imstande sind, über einen Teil des Tages ihre
    sozialen Pflichten zu erfüllen, nachdem sie eine Anzahl von
    Stunden in melusinenhafter Abgeschiedenheit ihrem geheimnis-
    vollen Tun gewidmet haben. 2

    Es ist leicht einzusehen, worin die Ahnlichkeit des neuroti-
    schen Zeremoniells mit den heiligen Handlungen des religiösen
    Ritus gelegen ist, in der Gewissensangst bei der Unterlassung,
    in der vollen Isolierung von allem andern Tun (Verbot der
    Störung) und in der Gewissenhaftigkeit der Ausführung im
    kleinen. Aber ebenso augenfällig sind die Unterscheidungen, von
    denen einige so grell sind, daB sie den Vergleich zu einem
    sakrilegischen werden lassen. Die größere individuelle Mannig-
    faltigkeit der Zeremoniellhandlungen im Gegensatze zur Stereotypie
    des Ritus (Gebet, Proskinesis usw.), der Privatcharakter der-
    selben im Gegensatze zur Öffentlichkeit und Gemeinsamkeit der
    Religionsiibung; vor allem aber der eine Unterschied, daß die
    kleinen Zutaten des religiösen Zeremoniells sinnvoll und symbo-
    lisch gemeint sind, während die des neurotischen läppisch und
    sinnlos erscheinen. Die Zwangsneurose liefert hier ein halb
    komisches, halb trauriges Zerrbild einer Privatreligion. Indes
    wird gerade dieser einschneidendste Unterschied zwischen neu-
    rotischem und religiósem Zeremoniell beseitigt, wenn man mit
    Hilfe der psychoanalytischen Untersuchungstechnik zum Ver-
    ståndnis der Zwangshandlungen durchdringt?). Bei dieser Unter-
    suchung wird der Anschein, als ob Zwangshandlungen läppisch
    und sinnlos wären, gründlich zerstört und die Begründung dieses
    Scheines aufgedeckt. Man erfährt, daß die Zwangshandlungen
    durchwegs und in all ihren Einzelheiten sinnvoll sind, im Dienste

    り Vgl. Freud, Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre..
    Wien 1906.

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    von bedeutsamen Interessen der Persönlichkeit stehen und fort-
    wirkende Erlebnisse sowie affektbesetzte Gedanken derselben
    zum Ausdrucke bringen. Sie tun dies in zweierlei Art, entweder
    als direkte oder als symbolische Darstellungen; sie sind demnach
    entweder historisch oder symbolisch zu deuten.

    Einige Beispiele, die diese Behauptung erläutern sollen,
    darf ich mir hier wohl nicht ersparen. Wer mit den Ergebnissen
    der psychoanalytischen Forschung bei den Psychoneurosen ver-
    traut ist, wird nicht überrascht sein zu hören, daß das durch
    die Zwangshandlungen oder das Zeremoniell Dargestellte sich
    aus dem intimsten, meist aus dem sexuellen Erleben der Be-
    troffenen ableitet:

    a) Ein Mädchen meiner Beobachtung stand unter dem
    Zwange, nach dem Waschen die Waschschüssel mehrmals her-
    umzuschwenken. Die Bedeutung dieser Zeremoniellhandlung lag
    in dem sprichwörtlichen Satze: Man soll schmutziges Wasser
    nicht ausgießen, ehe man reines hat. Die Handlung war dazu
    bestimmt, ihre geliebte Schwester zu mahnen und zurückzuhalten,
    daß sie sich von ihrem unerfreulichen Manne nicht eher scheiden
    lasse, als bis sie eine Beziehung zu einem besseren ange-
    knüpft habe.

    b) Eine von ihrem Manne getrennt lebende Frau folgte
    beim Essen dem Zwange, das Beste stehen zu lassen, z. B. von
    einem Stück gebratenen Fleisch nur die Ränder zu genießen.
    Dieser Verzicht erklärte sich durch das Datum seiner Entstehung.
    Er war am Tage aufgetreten, nachdem sie ihrem Manne den
    ehelichen Verkehr gekündigt, d. h. aufs Beste verzichtet hatte.

    c) Dieselbe Patientin konnte eigentlich nur auf einem
    einzigen Sessel sitzen und konnte sich nur mit Schwierigkeit von
    ihm erheben. Der Sessel symbolisierte ihr mit Beziehung auf
    bestimmte Details ihres Ehelebens den Mann, dem sie die Treue
    hielt. Sie fand zur Aufklärung ihres Zwanges den Satz: „Man
    trennt sich so schwer von einem (Manne, Sessel), auf dem man
    einmal gesessen ist.“

    d) Sie pflegte eine Zeit hindurch eine besonders auffällige
    und sinnlose Zwangshandlung zu wiederholen. Sie lief dann aus
    ihrem Zimmer in ein anderes, in dessen Mitte ein Tisch stand,
    rückte die auf ihm liegende Tischdecke in gewisser Art zurecht,

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    schellte dem Stubenmädchen, das an den Tisch herantreten
    mußte, und entlieB sie wieder mit einem gleichgültigen Auftrag.
    Bei den Bemühungen, diesen Zwang aufzuklären, fiel ihr ein,
    daß die betreffende Tischdecke an einer Stelle einen mißfarbigen
    Fleck hatte, und daß sie jedesmal die Decke so legte, daß der
    Fleck dem Stubenmidchen in die Augen fallen mußte. Das
    Ganze war dann eine Reproduktion eines Erlebnisses aus ihrer
    Ehe, welches ihren Gedanken später ein Problem zu lösen ge-
    geben hatte. Thr Mann war in der Brautnacht von einem nicht
    ungewöhnlichen Mißgeschick befallen worden. Er fand sich
    impotent und „kam viele Male im Laufe der Nacht aus seinem
    Zimmer in ihres gerannt“, um den Versuch, ob es nicht doch
    gelinge, zu wiederholen. Am Morgen äußerte er, er müsse sich
    ja vor dem Hotelstubenmädchen schämen, welches die Betten
    in Ordnung bringen werde, ergriff darum ein Flischchen mit
    roter Tinte und goß dessen Inhalt über das Bettuch aus, aber
    so ungeschickt, daß der rote Fleck an einer fiir seine Absicht
    sehr ungeeigneten Stelle zustande kam. Sie spielte also Braut-
    nacht mit jener Zwangshandlung. „Tisch und Bett“ machen
    zusammen die Ehe aus.

    e) Wenn sie den Zwang angenommen hatte, die Nummer
    jeder Geldnote zu notieren, ehe sie dieselbe aus ihren Hånden
    gab, so war dies gleichfalls historisch aufzuklåren. Zur Zeit, als
    sie sich noch mit der Absicht trug, ihren Mann zu verlassen,
    wenn sie einen andern, vertrauenswiirdigeren finde, lieB sie
    sich in einem Badeorte die hóflichen Bemühungen eines Herrn
    gefallen, iiber dessen Bereitschaft Ernst zu machen sie doch im
    Zweifel blieb. Eines Tages um Kleingeld verlegen, bat sie ihn,
    ihr ein Fiinfkronenstiick zu wechseln. Er tat es, steckte das
    große Geldstiick ein und äußerte galant, er gedenke sich von
    diesem nie wieder zu trennen, da es durch ihre Hand gegangen
    sei. Bei spåterem Beisammensein war sie nun oft in Versuchung,
    ihn aufzufordern, er möge ihr das Fiinfkronenstiick vorzeigen,
    gleichsam um sich so zu iiberzeugen, ob sie seinen Huldigungen
    Glauben schenken diirfe. Sie unterlieB es aber mit der guten
    Begriindung, daB man gleichwertige Miinzen nicht voneinander
    unterscheiden könne. Der Zweifel blieb also ungelóst; er hinter-
    lieB ihr den Zwang, die Nummern der Geldnoten, durch welche

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    jede einzelne von allen ihr gleichwertigen individuell unterschieden
    ist, zu notieren,

    Diese wenigen Beispiele, aus der Fülle meiner Erfahrung
    herausgehoben, sollen nur den Satz, daß alles an den Zwangs-
    handlungen sinnvoll und deutbar ist, erläutern. Das Gleiche gilt
    für das eigentliche Zeremoniell, nur daß hier der Beweis um-
    ständlichere Mitteilung erfordern würde. Ich verkenne es keines-
    wegs, wie sehr wir uns bei den Aufklärungen der Zwangs-
    handlungen vom Gedankenkreise der Religion zu entfernen
    scheinen.

    Es gehört zu den Bedingungen des Krankseins, daß die
    dem Zwange folgende Person ihn ausübe, ohne seine Bedeutung
    — wenigstens seine Hauptbedeutung — zu kennen. Erst durch
    die Bemühung der psychoanalytischen Therapie wird ihr der
    Sinn der Zwangshandlung und damit die zu ihr treibenden
    Motive bewußt gemacht. Wir sprechen diesen bedeutsamen
    Sachverhalt in den Worten aus, daB die Zwangshandlung un-
    bewuBten Motiven und Vorstellungen zum Ausdruck diene.
    Darin scheint nun ein neuerlicher Unterschied gegen die Religions-
    übung zu liegen; aber man muß daran denken, daß auch der
    einzelne Fromme in der Regel das religiöse Zeremoniell ausübt,
    ohne nach dessen Bedeutung zu fragen, während allerdings der
    Priester und der Forscher mit dem meist symbolischen Sinn des
    Ritus bekannt sein mögen. Die Motive, die zur Religionsiibung
    driingen, sind aber allen Gliubigen unbekannt oder werden in
    ihrem Bewußtsein durch vorgeschobene Motive vertreten.

    Die Analyse der Zwangshandlungen hat uns bereits eine
    Art von Einsicht in die Verursachung derselben und in die
    Verkettung der fiir sie maßgebenden Motive ermöglicht. Man
    kann sagen, der an Zwang und Verboten Leidende benimmt
    sich so, als stehe er unter der Herrschaft eines Schuld-
    bewuBtseins, von dem er allerdings nichts weiß, eines un-
    bewußten SchuldbewuBtseins also, wie man es ausdrücken muß
    mit Hinwegsetzung über das Striuben der hier zusammen-
    treffenden Worte. Dies Schuldbewuftsein hat seine Quelle in
    gewissen friihzeitigen Seelenvorgången, findet aber eine bestän-
    dige Auffrischung in der bei jedem rezenten Anlaß erneuerten
    Versuchung und läßt anderseits eine immer lauernde Er-

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    wartungsangst, Unheilserwartung, entstehen, die durch den
    Begriff der Bestrafung an die innere Wahrnehmung der
    Versuchung gekniipft ist. Zu Beginn der Zeremoniellbildung
    wird dem Kranken noch bewußt, daß er dies oder jenes tun
    miisse, sonst werde Unheil geschehen, und in der Regel wird
    die Art des zu erwartenden Unheils noch seinem Bewußtsein
    genannt. Der jedesmal nachweisbare Zusammenhang zwischen
    dem Anlasse, bei dem die Erwartungsangst auftritt, und dem
    Inhalte, mit dem sie droht, ist dem Kranken bereits verhiillt.
    Das Zeremoniell beginnt so als Abwehr- oder Versiche-
    rungshandlung, Schutzmabregel.

    Dem Schuldbewubtsein der Zwangsneurotiker entspricht
    die Beteuerung der Frommen, sie wiiBten, daß sie im Herzen
    arge Sünder seien; den Wert von Abwebr- und SchutzmaBregeln
    scheinen die frommen Ubungen (Gebete, Anrufungen usw.) zu
    haben, mit denen sie jede Tätigkeit des Tages und zumal jede
    außergewöhnliche Unternehmung einleiten.

    Einen tieferen Einblick in den Mechanismus der Zwangs-
    neurose gewinnt man, wenn man die ihr zugrundeliegende erste
    Tatsache in Würdigung zieht: diese ist allemal die Verdrän-
    gung einer Triebregung (einer Komponente des Sexual-
    triebes), welche in der Konstitution der Person enthalten war,
    im kindlichen Leben derselben sich eine Weile äußern durfte
    und darauf der Unterdrückung verfiel. Eine spezielle, auf die
    Ziele dieses Triebes gerichtete Gewissenhaftigkeit wird bei
    der Verdrängung desselben geschaffen, aber diese psychische
    Reaktionsbildung fühlt sich nicht sicher, sondern von dem im
    Unbewußten lauernden Triebe beständig bedroht. Der Einfluß
    des verdrängten Triebes wird als Versuchung empfunden, beim
    Prozeß der Verdrängung selbst entsteht die Angst, die sich als
    Erwartungsangst der Zukunft bemächtigt. Der Verdrängungs-
    prozeß, der zur Zwangsneurose führt, ist als ein unvollkommen
    gelungener zu bezeichnen, der immer mehr zu mißlingen droht.
    Er ist daher einem nicht abzuschließenden Konflikt zu ver-
    gleichen; es werden immer neue psychische Anstrengungen er-
    fordert, um dem konstanten Andrängen des Triebes das Gleich-
    gewicht zu halten. Die Zeremoniell- und Zwangshandlungen ent-
    stehen so teils zur Abwehr der Versuchung, teils zum Schutze

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    gegen das erwartete Unheil. Gegen die Versuchung scheinen die
    Schutzhandlungen bald nicht auszureichen; es treten dann die
    Verbote auf, welche die Situation der Versuchung ferne legen
    sollen. Verbote ersetzen Zwangshandlungen, wie man sieht, ebenso
    wie eine Phobie einen hysterischen Anfall zu ersparen bestimmt
    ist. Anderseits stellt das Zeremoniell die Summe der Bedingungen
    dar, unter denen anderes noch nicht absolut Verbotenes erlaubt
    ist, ganz ähnlich wie das kirchliche Ehezeremoniell dem Frommen
    die Gestattung des sonst sündhaften Sexualgenusses bedeutet.
    Zum Charakter der Zwangsneurose wie aller ähnlichen Affek-
    tionen gehört noch, daß ihre Äußerungen (Symptome, darunter
    auch die Zwangshandlungen) die Bedingung eines Kompromisses
    zwischen den streitenden seelischen Mächten erfüllen. Sie bringen
    also auch immer etwas von der Lust wieder, die sie zu ver-
    hüten bestimmt sind, dienen dem verdrängten Triebe nicht
    minder als den ihn verdrängenden Instanzen. Ja, mit dem
    Fortschritte der Krankheit nähern sich die ursprünglich eher
    die Abwehr besorgenden Handlungen immer mehr den ver-
    pönten Aktionen an, durch welche sich der Trieb in der Kind-
    heit äußern durfte.

    Von diesen Verhältnissen wäre etwa folgendes auch auf
    dem Gebiete des religiösen Lebens wiederzufinden. Auch der
    Religionsbildung scheint die Unterdrückung, der Verzicht auf
    gewisse Triebregungen zugrunde zu liegen; es sind aber nicht
    wie bei der Neurose ausschließlich sexuelle Komponenten, sondern
    eigensüchtige, sozialschädliche Triebe, denen übrigens ein sexueller
    Beitrag meist nicht versagt ist. Das Schuldbewußtsein in der
    Folge der nicht erlöschenden Versuchung, die Erwartungsangst
    als Angst vor göttlichen Strafen sind uns ja auf religiösem Ge-
    biete früher bekannt worden als auf dem der Neurose. Vielleicht
    wegen der beigemengten sexuellen Komponenten, vielleicht in-
    folge allgemeiner Eigenschaften der Triebe erweist sich die
    Triebunterdrückung auch im religiösen Leben als eine unzu-
    reichende und nicht abschließbare. Volle Rückfälle in die Sünde
    sind beim Frommen sogar häufiger als beim Neurotiker und be-
    gründen eine neue Art von religiösen Betitigungen, die Buf-
    handlungen, zu denen man in der Zwangsneurose die Gegen-
    stücke findet.

    Freud, Neurosenlehre. II. 9

  • S.

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    Einen eigentiimlichen und entwiirdigenden Charakter der
    Zwangsneurose sahen wir darin, daß das Zeremoniell sich an
    kleine Handlungen des täglichen Lebens anschließt und sich in
    låppischen Vorschriften und Einschränkungen derselben äußert.
    Man versteht diesen auffälligen Zug in der Gestaltung des
    Krankheitsbildes erst, wenn man erfährt, daß der Mechanismus
    der psychischen Verschiebung, den ich zuerst bei der Traum-
    bildung") aufgefunden, die seelischen Vorgänge der Zwangs-
    neurose beherrscht. In den wenigen Beispielen von Zwangshand-
    Jungen ist bereits ersichtlich, wie durch eine Verschiebung vom
    Bigentlichen, Bedeutsamen, auf ein ersetzendes Kleines, vom
    Mann auf den Sessel z. B., die Symbolik und das Detail der
    Ausführung zustandekommen. Diese Neigung zur Verschiebung
    ist es, die das Bild der Krankheitserscheinungen immer weiter
    abändert und es endlich dahin bringt, das scheinbar Gering-
    fügigste zum Wichtigsten und Dringendsten zu machen. Es ist
    nicht zu verkennen, daß auf dem religiösen Gebiete eine ähn-
    liche Neigung zur Verschiebung des psychischen Wertes, und
    zwar in gleichem Sinne, besteht, so daß allmählich das kleinliche
    Zeremoniell der Religionsiibung zum Wesentlichen wird, welches
    deren Gedankeninhalt beiseite gedrängt hat. Darum unterliegen
    die Religionen auch ruckweise einsetzenden Reformen, welche
    das ursprüngliche Wertverhältnis herzustellen bemüht sind.

    Der Kompromißcharakter der Zwangshandlungen als neuro-
    tischer Symptome wird an dem entsprechenden religiösen Tun
    am wenigsten “dentlich zu erkennen sein. Und doch wird man
    auch an diesen Zug der Neurose gemahnt, wenn man erinnert,
    wie häufig alle Handlungen, welche die Religion verpönt — Äuße-
    rungen der von der Religion unterdrückten Triebe — gerade
    im Namen und angeblich zugunsten der Religion vollführt werden.

    Nach diesen Übereinstimmungen und Analogien könnte
    man sich getrauen, die Zwangsneurose als pathologisches Gegen-
    stück zur Religionsbildung aufzufassen, die Neurose als eine
    individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangs-
    neurose zu bezeichnen. Die wesentlichste Übereinstimmung läge
    in dem zugrundeliegenden Verzicht auf die Betätigung von

    り Vgl. Freud, Die Traumdeutung, 1900, 2. Aufl., 1909.

  • S.

    131

    konstitutionell gegebenen Trieben; der entscheidendste Unter-
    schied in der Natur dieser Triebe, die bei der Neurose aus-
    schlieBlich sexueller, bei der Religion egoistischer Herkunft sind.

    Ein fortschreitender Verzicht auf konstitutionelle Triebe,
    deren Betätigung dem Ich primäre Lust gewähren könnte, scheint
    eine der Grundlagen der menschlichen Kulturentwicklung zu
    sein. Ein Stück dieser Triebverdringung wird von den Religionen
    geleistet, indem sie den einzelnen seine Trieblust der Gottheit
    zum Opfer bringen lassen. „Die Rache ist mein“, spricht der
    Herr. An der Entwicklung der alten Religionen glaubt man zu
    erkennen, daß vieles, worauf der Mensch als „Frevel“ verzichtet
    hatte, dem Gotte abgetreten und noch im Namen des Gottes
    erlaubt war, so daß die Überlassung an die Gottheit der Weg
    war, auf welchem sich der Mensch von der Herrschaft böser,
    sozialschädlicher Triebe befreite. Es ist darum wohl kein Zufall,
    daß den alten Göttern alle menschlichen Eigenschaften — mit
    den aus ihnen folgenden Missetaten — in uneingeschränktem
    Maße zugeschrieben wurden, und kein Widerspruch, daß es doch
    nicht erlaubt war, die eigenen Frevel durch das göttliche Beispiel
    zu rechtfertigen.

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