Charakter und Analerotik 1908-002/1909
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    Charakter und Analer0tik‘).

    Unter den Personen, denen man durch psychoanalytische
    Bemühung Hilfe zu leisten sucht, begegnet man eigentlich recht
    häufig einem Typus, der durch das Zusammentrefi'en bestimmter
    Cheraktereigenschaften ausgezeichnet ist, während das Verhalten
    einer gewissen Körperfunkfion und der an ihr beteiligten Organe
    in der Kindheit dieser Personen die Aufmerksamkeit auf sich
    zieht. Ich weiß heute nicht mehr anzugeben, aus welchen ein—
    zelnen Veranlassungen mir der Eindruck erwuchs, daß zwischen
    jenem Charakter und diesem Organverhalten ein organischer
    Zusammenhang bestehe, aber ich kann versichern, daß theore-
    tische Erwartung keinen Anteil an diesem Eindrucke hatte.

    Infolge gehäufter Erfahrung hat sich der Glaube an solchen
    Zusammenhang bei mir so sehr verstärkt, daß ich von ihm Mit-
    teilung zu machen wage.

    Die Personen, die ich beschreiben will, fallen dadurch
    auf, daß sie in regelmäßigerVereinigung die nachstehenden drei
    Eigenschaften zeigen: sie sind besonders ordentlich, spar-
    sam und eigensinnig. Jedes dieser Worte deckt eigentlich
    eine kleine Gruppe oder Reihe von miteinander verwandten
    Charakterziigen. „Ordentlich“ begreift sowohl die körperliche
    Sauberkeit als auch Gewissenhaftigkeit in kleinen Pflichterfiil-
    lungen und Verläßlichkeit; das Gegenteil davon Wäre: unordent-
    lich, nachlässig. Die Spar-samkeit kann bis zum Geize gesteigert
    erscheinen; der Eigensi.nn geht in Trotz über, an den sich leicht

    ’) Psychiatriseh-Neurologische Wochensehrift, redigiert von Dr. Joh.
    Bresler, Lublinitz (Schlesien), IX. Jahrg., Nr. 52, 1908.

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    Neigung zur Wut und Rachsucbt knüpfen. Die beiden letzteren
    Eigenschaften —- Sparsamkeit und Eigensinn — hängen fester
    miteinander als mit dem ersten, dem „ordentlich“, zusammen;
    sie sind auch das konstantem Stück des ganzen Komplexes,
    doch erscheint es mir unahweisbar, daß irgendwie alle drei zu-
    sammengehören.

    Aus der Kleinkindergeschichte dieser Personen erfährt man
    leicht, daß sie verhältnismäßig lange dazu gebraucht haben, bis
    sie der infantilen incontinentia alvi Herr geworden sind, und
    daß sie vereinzeltes Mißglücken dieser Funktion noch in späteren
    Kinderjahren zu beklagen hatten. Sie scheinen zu jenen Säug-
    lingen gehört zu haben, die sich weigern, den Darm zu ent-
    leeren, wenn sie auf den Topf gesetzt werden, weil sie aus der
    Defä.kation einen Lustnebengewinn beziehen‘); denn sie gehen
    an, daß es ihnen noch in etwas späteren Jahren Vergnügen be—
    reitet hat, den Stuhl zurückzuhalten, und erinnern, wenngleich
    eher und leichter von ihren Geschwistern als von der eigenen
    Person, allerlei unziemliche Beschäftigunan mit dem zu Tage
    geförderten Kate. Wir schließen aus diesen Anzeichen auf eine
    über-deutliche erogene Betonung der Afterzone in der von ihnen
    mitgebrachteu Sexualkonstitution; da sich aber nach abgelaufener
    Kindheit bei diesen Personen nichts mehr von diesen Schwächen
    und Eigenheiten auffinden läßt, müssen wir annehmen, daß die
    Analzone ihre erogene Bedeutung im Laufe der Entwicklung
    eingebiißt hat, und vermuten dann, daß die Konstanz jener
    Trias von Eigenschaften in ihrem Charakter mit der Aufzehrung
    der Analerotik in Verbindung gebracht werden darf.

    Ich weiß, daß man sich nicht getraut, an einen Sachver-
    halt zu glauben, solange er unbegreiflich erscheint, der Er-
    klärung nicht irgend eine Ankniipfung bietet. Wenigstens das
    Grundlegende desselben können wir nun unserem Verständnisse
    mit Hilfe der Voraussetzungen näher bringen, die in den „Drei
    Abhandlungen zur Sexualtheorie“ 1905 dargelegt sind. Ich suche
    dort zu zeigen, daß der Sexualtrieb des Menschen hoch zu—
    sammengesetzt ist, aus Beiträgen zahlreicher Komponenten und
    Partialtriebe entsteht. Wesentliche Beiträge zur „Sexualerregung“

    1) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. II, p. 41.- 1905.

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    leisten die peripherischen Erregungen gewisser ausgezeichneter
    Körperstellen (Genitalien, Mund, After, Blasenensgang), welche
    den Namen „erogene Zonen“ verdienen. Die von diesen Stellen
    her eintreffenden Erregungsgrößen erfahren aber nicht alle und
    nicht zu jeder Lebenszeit das gleiche Schicksal Allgemein ge-
    sprochen kommt nur ein Teil von ihnen dem Sexualleben zu-
    gute; ein anderer Teil wird von den sexuellen Zielen abgelenkt
    und auf andere Ziele gewendet, ein Prozeß, der den Namen
    „Sublimienmg“ verdient. Um die Lebenszeit welche als „sexuelle
    LTtenzper-1 d_e‘_‘ bezeichnet werden darf, vorn vollendeten vierten
    Jahre bis zu den ersten Äiiiéiéngeil der Pubertät (ums elfte
    Jahr) werden sogar auf Kosten dieser von _erogenen_____ Zonen ge—
    lleferfiffirregungen im Seelenleben Reaktionsbildungen, Gegen—
    mächT:é, geschaffen wie Scham, Ehe] und. Moral, die sich EEE?-
    mäniiueder 'sfiä£eiéii”iäsiäiig‘iiüg”der Sexualtriebe entgegen-
    setzeu. Da nun die Analerotik zu jenen Komponenten des
    Triebes gehört, die im Laufe der Entwicklung und im Sinne
    unserer heutigen Kulturerziehung für sexuelle Zwecke unver—
    wendbar werden, läge es nahe, in den bei ehemaligen Anal-
    erotikern so häufig hervortretenden Charaktereigenschaften *
    Ordentlichkeit, Sparsamke1t und Eigensinn — die nächsten und
    R.,-„‘

    1) Da gerade die Bemerkungen über die Analerotik des Säuglings
    in den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ bei unverständigen Lesern
    besonderen Anstoß erregt haben, gestatte ich mir an dieser Stelle die Ein-
    schaltung einer Beobachtung, die ich einem sehr intelligenten Patienten
    verdanke: „Ein Bekannter, der die Abhnndlung über „Sexualthecrie“ ge-
    lesen hst, spricht über das Buch, erkennt es vollkommen an, nur eine
    Stelle darin sei ihm — obwohl er auch diese inhaltlich natürlich billige
    und begreife, so grotesk und komisch vorgekummen, daß er sich hingesetzt
    und eine Viertelstunde darüber gelacht habe. Diese Stelle lautet: „Es ist
    eines der besten Vorseichen späterer Absonderlichkeit oder Nervosität, wenn
    ein Säugling sich hartnäckig weigert, den Darm zu entleeren, wenn er auf
    den Topf gesetzt wird, also wenn es dem Pfleger beliebt, sondern diese
    Funktion seinem eigenen Belieben vorbehiilt. Es kommt ihm natürlich nicht
    darauf an, sein Lager schmutsig zu machen; er sorgt nur, daß ihm der
    Lustuebengewiun bei der Defäkation nicht entgehe" Die Vorstellung dieses
    auf dem Topfe sitzenden Siiuglings, der überlege, ob er sich eine derartige
    Einschränkung seiner persönlichen Willeusfreiheit gefallen lassen solle, und

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    Die innere Notwendigkeit dieses Znsainmenhanges ist mir
    natürlich selbst nicht durchsichtig, doch kann ich einiges an-
    führen, was als Hilfe für ein Verständnis desselben verwertet
    werden kann. Die Sauberkeit, Ordentlichlreit, Verläßlichkeit
    macht ganz den Eindruck einer Reaktionsbildung gegen das
    Interesse am Unseuberen, Störenden, nicht zum Körper ge-
    hörigen („Dirt ie matter in the wrong place“). Den Eigen-
    sinn mit dem Defäkutionsinteresse in Beziehung zu bringen,
    scheint keine leichte Aufgabe, doch mag man sich daran erin.
    nem, daß schon der Säugling sich beim Absetzen des Stuhles
    eigenwi.llig benehmen kann (s. o.), und daß schmerzhafte Reize
    auf die mit der erogenen Afterzone verknüpfte Gesäßhaut all-
    gemein der Erziehung dazu dienen, den Eigensinn des Km” des
    zu brechen, es gefügig zu machen. Zum Ausdrucke des Trotzes
    und der trotzenden Verhöhnung wird bei uns immer noch wie
    in alter Zeit eine Aufforderung verwendet, die die Liebkosung
    der Afterzone zum Inhalte hat, also eigentlich eine von der
    der außerdem sorge, daß ihm der Lustgewinn bei der Defiikntion nicht
    entgehe, habe seine ausgiebige Reiter-keit erregt. -— Etwa zwanzig Minuten
    später, bei der Janus, beginnt mein Bekannter plötzlich gänzlich nnvermit-
    telt: „Du, mir fillt da gerade, weil ich den Kakao vor mir sehe, eine Idee
    ein, die ich als Kind immer gehabt habe. Da. habe ich mir immer vorge-
    stellt, ich hin der Knkaofebriksnt Van Routen (er sprach „Vnn Bauten“
    aus), und ich habe ein großartiges Geheimnis zur Bereith dieses Kakeos,
    und nun bemühen sich alle Leute, mir dieses weltbegliicksnde Geheimnis
    zu entreißen, das ich sorgsam hiite. Warum ich gerade auf Vm Routen
    verfallen bin, weiß ich nicht. Wuhrscheinlich hat mir seine Reklame Am
    meisten imponiert.“ Lachend, und ohne noch eigentlich so recht eine tiefere
    Absicht damit zu verbinden, meinte ich: „Wenn hant'n die Mutter?!“
    Erst eine Weile später erkannte ich, daß mein Wortwitz tatsächlich den
    Schlüssel zu dieser ganzen, plötzlich aufgetaucth Kindheitserinnernng
    enthielt, die ich nun als glänzenden Beispiel einer Deckphnntasie begriff,
    welche unter Beibehaltung des eigentlich Tutsichlichen (Nuhrungsprozeß)
    und auf Grund phonetischer Assoziationen („K 8 k a 0“, „Win n h n u t’n—“)
    das Schuldbewußtsein durch eine komplete Umwertnng des Er-
    innerungsinhaltes beruhigt. (Verlegung von rückwärts nach vorne, Nahrungs—
    abgebe wird zur Nahrungsaufnahme, der beschiimende und an verdeckende
    Inhalt zum weltbegliickenden Geheimnisse.) Interessent war mir, wie hier
    auf eine Abwehr hin, die, freilich die mildere Form formaler Beanstandung
    annehm, dem Betrefl'enden ohne seinen Willen eine Viertelstunde später der
    schlugendste Beweis aus dem eigenen Unbewußten hemufgereicht wurde.“

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    Verdrängung betrofl'ene Zärtlichkeit bezeichnet Die Entblößung
    des Hintern stellt die Abschwächung dieser Rede zur Geste
    dar; in Goethes Götz von Berlichingen finden sich beide,
    Rede wie Geste, an passendster Stelle als Ausdruck des Trotzes
    angebracht.

    Am ausgiebigsten erscheinen die Beziehungen, welche sich
    zwischen den anscheinend so disparaten Komplexen des Geld-
    interesses und der Defä.kation ergeben. Jedem Arzte, der die
    Psychoanalyse geübt hat, ist es wohl bekannt geworden, daß
    sich auf diesem Wege die hartnäckigsten und langdauerndsten
    sogenannten habituellen Stuhlverstcpfungen Nervöser beseitigen
    lassen. Das Erstaunen hierüber wird durch die Erinnerung ge—
    mäßigt, daß diese Funktion sich ähnlich gefiigig auch gegen
    die bypnotische Suggestion erwiesen hat. In der Psychoanalyse
    erzielt man diese Wirkung aber nur dann, wenn man den Geld-
    komplex der Betreifenden berührt und sie veranlaßt, denselben
    mit all seinen Beziehungen zum Bewußtsein zu bringen. Man
    könnte meinen, daß die Neurose hierbei nur einem Winke des
    Sprachgebrauches folgt, der eine Person, die das Geld allzu
    ängstlich zurückhält, „schmutzig“ oder „filzig“ (englisch:
    filthy : schmutzig) nennt. Allein dieses wäre eine allzu ober-
    flächliche Würdigung. IuWahrheit ist überall, wo die archaische
    Denkweise herrschend war oder geblieben ist, in den alten
    Kulturen, im Mythus, Märchen, Aberglauben, im unbewußten
    Denken, im Traume und in der Neurose das Geld in innigste
    Beziehungen zum Drecke gebracht. Es ist bekannt, daß das
    Gold, welches der Teufel seinen Buhlen schenkt, sich nach
    seinemWeggeheu in Dreck verwandelt, und der Teufel ist doch
    gewiß nichts anderes als die Personifikation des verdrängten
    unbewußten Trieblebens 1). Bekannt ist ferner der Aberglaube,
    der die Auffindung von Schätzen mit der Defäkation zusammen—
    bringt, und jedermann vertraut ist die Figur des „Dukaten—
    scheißers“. Ja, schon in der altbabylonischen Lehre ist Gold
    der Kot der Hölle, Mammon = ilu manman"). Wenn also die

    1) Vgl. die hysterische Besessenheit und die dämonischen Epidemien.
    ’) Jeremins, Das Alte Testament im Lichte des
    alten Orients, 2. Aufl.,1906, p. 216, und. Babylonisches im
    Neuen Testament, 1906, p. 96. „Mamon (Mammon) ist babyloniscb

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    Neurose dem Sprachgebrauehe folgt, so nimmt sie hier wie
    anderwärts die Worte in ihrem ursprünglichen bedeutungsvollen
    Sinne, und wo sie ein Wort bildlich darzustellen scheint, stellt
    sie in der Regel nur die alte Bedeutung des Wortes wieder her.

    Es ist möglich, daß der Gegensatz zwischen dem Wert-
    vollsten, das der Mensch kennen gelernt hat, und dem Wert-
    losesten, das er als Abfall („refuse“) von sich wirft, zu dieser
    bedingten Identifizierung von Gold und Kot geführt hat.

    Im Denken der Neurose kommt dieser Gleichstellung wohl
    noch ein anderer Umstand zu Hilfe. Das ursprünglich erotische
    Interesse an der Defäkation ist, wie wir ja. wissen, zum Er-
    löschen in reiferen Jahren bestimmt; in diesen Jahren tritt das
    Interesse am Gelde als ein neues auf, welches der Kindheit
    noch gefehlt hat; dadurch wird es erleichtert, daß die frühere
    Strebnng, die ihr Ziel zu verlieren im Begriffe ist, auf das neu
    auftauchende Ziel übergeleitet wird.

    Wenn den hier behaupteten Beziehungen zwischen der
    Analerotik und jener Trias von Chersktereigenschuften etwas
    Tatsächliches zugrunde liegt, so wird man keine besondere Aus-
    prägung des „Analoharakters“ bei Personen erwarten dürfen,
    die sich die erogene Eignung der Analzone für das reife Leben
    bewahrt haben, wie z. B. gewisse Homosexuelle. Wenn ich nicht
    sehr irre, befindet sich die Erfahrung zumeist in guter Über-
    einstimmung mit diesem Schlusse.

    Man müßte überhaupt in Erwägung ziehen, ob nicht auch
    andere Charakterkomplexe ihre Zugehörigkeit zu den Erregungen
    von bestimmten erogenen Zonen erkennen lassen. Ich kenne bis
    jetzt nur noch den unmäßigen „brennenden“ Ehrgeiz der ein-
    stigen Enuretiker. Für die Bildung des endgültigen Charakters
    aus den konstitutiven Trieben läßt sich allerdings eine Formel
    angeben: Die bleibenden thrskterzüg_e„„sindfi entweder unver-
    änderte Foäbtzu_n_g '“- „„
    derselben oder Reaktio _

    „.._‚_ ‚„...-„_„n‘

    man»man‚ ein Beiname Nergalk1, des Gottes der Unterwelt. Das Gold ist
    mich orientalischem Mythus‚ der in die Sagen und Märchen der Völker
    übergegangen ist, Dreck der Hölle, siehe M 0 n o t 11 e i e ti s e 11 e S tr ö-
    mungen innerhalb der bel). Reh, S. 16, Anm. 1.