S.
De
Die „kulturelle“ Sexualmoral und die moderne
Nervositát ).In seiner kürzlich veröffentlichten Sexualethik?) ver-
weilt v. Ehrenfels bei der Unterscheidung der „natürlichen“
und der „kulturellen“ Sexualmoral. Als natürliche Sexual-
moral sei diejenige zu verstehen, unter deren Herrschaft ein
Menschenstamm sich andauernd bei Gesundheit und Lebens-
tüchtigkeit zu erhalten vermag, als kulturelle diejenige, deren
Befolgung die Menschen vielmehr zu intensiver und produktiver
Kulturarbeit anspornt. Dieser Gegensatz werde am besten durch
die Gegenüberstellung von konstitutivem und kulturellem
Besitz eines Volkes erläutert. Indem ich für die weitere Wür-
digung dieses bedeutsamen Gedankenganges auf die Schrift von
v. Ehrenfels selbst verweise, will ich aus ihr nur soviel her-
ausheben, als es für die Anknüpfung meines eigenen Beitrages
bedarf.Die Vermutung liegt nahe, daß unter der Herrschaft einer
kulturellen Sexualmoral Gesundheit und Lebenstüchtigkeit der
einzelnen Menschen Beeinträchtigungen ausgesetzt sein können,
und daß endlich diese Schädigung der Individuen durch die
ihnen auferlegten Opfer einen so hohen Grad erreiche, daß auf
diesem Umwege auch das kulturelle Endziel in Gefahr geriete.
v. Ehrenfels weist auch wirklich der unsere gegenwärtige1) Aus „Sexual-Probleme“, der Zeitschrift „Mutterschutz“ neue Folge.
4. Jahrgang 1908,2) Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens, herausgegeben von
L. Löwenfeld, LVI. Wiesbaden 1907.S.
176
abendländische Gesellschaft beherrschenden Sexualmoral eine
Reihe von Schäden nach, für die er sie verantwortlich machen
muß, und obwohl er ihre hohe Eignung zur Förderung der
Kultur voll anerkennt, gelangt er dazu, sie als reformbedürftig
zu verurteilen. Für die uns beherrschende kulturelle Sexualmoral
sei charakteristisch die Übertragung femininer Anforderungen
auf das Geschlechtsleben des Mannes und die Verpünung eines
jeden Sexualverkehres mit Ausnahme des ehelich-monogamen.
Die Riicksicht auf die natiirliche Verschiedenheit der Geschlechter
nôtige dann allerdings dazu, Vergehungen des Mannes minder
rigoros zu ahnden und somit tatsächlich eine doppelte Moral
für den Mann zuzulassen. Eine Gesellschaft aber, die sich auf
diese doppelte Moral einläBt, kann es in 。 Wahrheitsliebe, Ehr-
lichkeit und Humanität“") nicht über ein bestimmtes, eng be-
grenztes Maß hinausbringen, muß ihre Mitglieder zur Ver-
hüllung der Wahrheit, zur Schônfärberei, zum Selbstbetruge wie
zum Betriigen anderer anleiten. Noch schüdlicher wirkt die
kulturelle Sexualmoral, indem sie durch die Verherrlichung der
Monogamie den Faktor der virilen Auslese lahmlegt, durch
dessen Einfluß allein eine Verbesserung der Konstitution zu
gewinnen sei, da die vitale Auslese bei den Kulturvólkern
durch Humanitit und Hygiene auf ein Minimum herabgedrückt
werde?)Unter den der kulturellen Sexualmoral zur Last gelegten
Schädigungen vermiBt nun der Arzt die eine, deren Bedeutung
hier ausführlich erörtert werden soll Ich meine die auf sie
zurückzuführende Förderung der modernen d. h. in unserer
gegenwärtigen Gesellschaft sich rasch ausbreitenden Nervosität,
Gelegentlich macht ein nervós Kranker selbst den Arzt auf den
in der Verursachung des Leidens zu beachtenden Gegensatz
von Konstitution und Kulturanforderung aufmerksam, indem er
äußert: „Wir in unserer Familie sind alle nervös geworden,
weil wir etwas Besseres sein wollten, als wir nach unserer Her-
kunft sein können.“ Auch wird der Arzt häufig genug durch
die Beobachtung nachdenklich gemacht, daß gerade die Nach-
kommen solcher Viter der Nervositit verfallen, die, aus ein-1) Sexualethik, p. 32 ff.
2) Le p. 35;S.
177
fachen und gesunden ländlichen Verhältnissen stammend, Ab-
kómmlinge roher aber kräftiger Familien, als Eroberer in die
GroBstadt kommen und ihre Kinder in einem kurzen Zeitraum
auf ein kulturell hohes Niveau sich erheben lassen. Vor allem
aber haben die Nervenärzte selbst laut den Zusammenhang der
„wachsenden Nervosität“ mit dem modernen Kulturleben pro-
klamiert. Worin sie die Begründung dieser Abhängigkeit suchen,
soll durch einige Auszüge aus Außerungen hervorragender Be-
obachter dargetan werden.W. Erb"): „Die ursprünglich gestellte Frage lautet nun
dahin, ob die Ihnen vorgeführten Ursachen der Nervosität in
unserem modernen Dasein in so gesteigertem Maße gegeben
sind, daß sie eine erhebliche Zunahme derselben erklärlich
machen — und diese Frage darf wohl unbedenklich bejaht
werden, wie ein flüchtiger Blick auf unser modernes Leben und
seine Gestaltung zeigen wird.“„Schon aus seiner Reihe allgemeiner Tatsachen geht dies
deutlich hervor: die außerordentlichen Errungenschaften der Neu-
zeit, die Entdeckungen und Erfindungen auf allen Gebieten,
die Erhaltung des Fortschrittes gegenüber der wachsenden Kon-
kurrenz sind nur erworben worden durch große geistige Arbeit
und können nur mit solcher erhalten werden. Die Ansprüche
an die Leistungsfähigkeit des einzelnen im Kampfe ums Dasein
sind erheblich gestiegen, und nur mit Aufbietung all seiner gei-
stigen Kräfte kann er sie befriedigen; zugleich sind die Be-
dürfnisse des einzelnen, die Ansprüche an Lebensgenuß in allen
Kreisen gewachsen, ein unerhörter Luxus hat sich auf Be-
völkerungsschichten ausgebreitet, die früher davon ganz unbe-
rührt waren; die Religionslosigkeit, die Unzufriedenheit und Be-
gehrlichkeit haben in weiten Volkskreisen zugenommen; durch
den ins Ungemessene gesteigerten Verkehr, durch die welt-
umspannenden Drahtnetze des Telegraphen und Telephons haben
sich die Verhältnisse in Handel und Wandel total verändert:
alles geht in Hast und Aufregung vor sich, die Nacht wird
zum Reisen, der Tag für die Geschäfte benützt, selbst die
„Erholungsreisen“ werden zu Strapazen für das Nervensystem;1) Über die wachsende Nervosität unserer Zeit, 1893,
Freud, Neurosenlehre. II. 12S.
178
große politische, industrielle, finanzielle Krisen tragen ihre
Aufregung in viel weitere Bevölkerungskreise als früher; ganz
allgemein ist die Anteilnahme am politischen Leben geworden:
politische, religiöse, soziale Kämpfe, das Parteitreiben, die Wahl-
agitationen, das ins Maßlose gesteigerte Vereinswesen erhitzen
die Köpfe und zwingen die Geister zu immer neuen Anstren-
gungen und rauben die Zeit zur Erholung, Schlaf und Ruhe;
das Leben in den großen Städten ist immer raffinierter und
unruhiger geworden. Die erschlafften Nerven suchen ihre Er-
holung in gesteigerten Reizen, in stark gewürzten Genüssen,
um dadurch noch mehr zu ermüden; die moderne Literatur be-
schäftigt sich vorwiegend mit den bedenklichsten Problemen, die
alle Leidenschaften aufwühlen, die Sinnlichkeit und Genußsucht,
die Verachtung aller ethischen Grundsätze und aller Ideale
fördern; sie bringt pathologische Gestalten, psychopathisch-
sexuelle, revolutionäre und andere Probleme vor den Geist des
Lesers; unser Ohr wird von einer in großen Dosen verabreichten,
aufdringlichen und lärmenden Musik erregt und überreizt, die
Theater nehmen alle Sinne mit ihren aufregenden Darstellungen
gefangen; auch die bildenden Künste wenden sich mit Vorliebe
dem Abstoßenden, Häßlichen und Aufregenden zu und scheuen
sich nicht, auch das Gräßlichste, was die Wirklichkeit bietet,
in abstoßender Realität vor unser Auge zu stellen.“„So zeigt dies allgemeine Bild schon eine Reihe von Ge-
fahren in unserer modernen Kulturentwicklung; es mag im ein-
zelnen noch durch einige Züge vervollständigt werden!“Binswanger’): „Man hat speziell die Neurasthenie als
eine durchaus moderne Krankheit bezeichnet, und Beard, dem
wir zuerst eine übersichtliche Darstellung derselben verdanken,
glaubte, daß er eine neue, speziell auf amerikanischem Boden
erwachsene Nervenkrankheit entdeckt habe. Diese Annahme
war natürlich eine irrige; wohl aber kennzeichnet die Tatsache,
daß zuerst ein amerikanischer Arzt die eigenartigen Züge
dieser Krankheit auf Grund einer reichen Erfahrung erfassen
und festhalten konnte, die nahen Beziehungen, welche das
moderne Leben, das ungezügelte Hasten und Jagen nach Geldり Die Pathologie und Therapie der Neurasthenie, 1896.
S.
179
und Besitz, die ungeheuern Fortschritte auf technischem Gebiete,
welche alle zeitlichen und räumlichen Hindernisse des Verkehrs-
lebens illusorisch gemacht haben, zu dieser Krankheit aufweisen.“v. Krafft-Ebing?): „Die Lebensweise unzähliger Kultur-
menschen weist heutzutage eine Fülle ‚von antihygienischen
Momenten auf, die es ohne weiteres begreifen lassen, daß die
Nervosität in fataler Weise um sich greift, denn diese schäd-
lichen Momente wirken zunächst und zumeist aufs Gehirn. In
den politischen und sozialen, speziell den merkantilen, indu-
striellen, agrarischen Verhältnissen der Kulturnationen haben
sich eben im Laufe der letzten Jahrzehnte Änderungen voll-
zogen, die Beruf, bürgerliche Stellung, Besitz gewaltig umge-
ändert haben, und zwar auf Kosten des Nervensystems, das ge-
steigerten sozialen und wirtschaftlichen Anforderungen durch
vermehrte Verausgabung an Spannkraft bei vielfach ungenügen-
der Erholung gerecht werden muß.“Ich habe an diesen — und vielen anderen ähnlich klin-
genden — Lehren auszusetzen, nicht daß sie irrtümlich sind,
sondern daß sie sich unzulänglich erweisen, die Einzelheiten
in der Erscheinung der nervösen Störungen aufzuklären, unddaß sie gerade das - wirksamen
i MUCIUS אא"Arten, „nervös“ zu sein, ab und faßt die eigentlichen Formen
des nervósen Krankseins ins Auge, so reduziert : sich der
schädigende Einflub der Kultur im wesentli
Tiche Unterdrückung des Sexuallebens der |
Schichten) durch die bei ihnen herrschende „kulturelle“ Sexual-
moral.Den Beweis für diese Behauptung habe ich in einer Reihe
fachmännischer Arbeiten zu erbringen gesucht?); er kann hier
nicht wiederholt werden, doch will ich die wichtigsten Argumente
aus meinen Untersuchungen auch an dieser Stelle anführen, .Geschärfte klinische Beobachtung gibt uns das Recht, von
den nervösen Krankheitszuständen zwei Gruppen zu unter-
scheiden, die eigentlichen Neurosen und die Psychoneu-1) Nervosität und neurasthenische Zustände, 1895, p. 11. (In Noth-
nagels Handbuch der spez, Pathologie und Therapie.)
?) Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. Wien 1906.12%
S.
180
rosen. Bei der ersteren scheinen die Störungen (Symptome),
mögen sie sich in den körperlichen oder in den seelischen
Leistungen äußern, toxischer Natur zu sein: sie verhalten
sich ganz ähnlich wie die Erscheinungen bei übergroßer Zufuhr
oder bei Entbehrung gewisser Nervengifte. Diese Neurosen —
meist als Neurasthenie zusammengefaßt — können. „nun, o ohne
daB die Mithilfe einer erblichen Belastung “erforderlich wäre,
durch gewisse schädliche Einfliisse des Sexuallebens erzeugt
"Werden, und zwar korrespondiert die Form der Erkrankung.
mit der Art dieser Schädlichkeiten, so daß man oft genug das
klinische Bild ohne weiteres zum RückschluD auf die besondere
sexuelle Ätiologie verwenden kann. Eine solche regelmäßige
Entsprechung wird aber zwischen der Form der nervósen Er-
krankung und den anderen schädigenden Kultureinflüssen, welche
die Autoren als krankmachend anklagen, durchaus vermibt.
Man darf also den sexuellen Faktor für den wesentlichen in
der Verursachung der eigentlichen Neurosen erklären.Bei den Psychoneurosen ist der hereditåre Einfluß be-
deutsamer, die Verursachung minder durchsichtig. Ein eigen-
tümliches Untersuchungsverfahren, das als Psychoanalyse be-
kannt ist, hat aber gestattet zu erkennen, daß die Symptome
dieser Leiden (der Hysterie, Zwangsneurose usw.) psychogen
sind, von der Wirksamkeit unbewuBter (verdrüngter) Vor-
stellungskomplexe abhüngen. Dieselbe Methode hat uns aber
auch diese unbewnBten Komplexe kennen gelehrt und uns ge-
zeigt, daß sie, ganz allgemein gesprochen, sexuellen Inhalt
haben; sie entspringen den Sexualbediirfnissen unbefriedigter
Menschen und stellen für sie eine Art von Ersatzbefriedigung
dar. Somit müssen wir in allen Momenten, welche das Sexual-
leben schädigen, seine Betätigung unterdrücken, seine Ziele
verschieben, pathogene Faktoren auch der Psychoneurosen er-
blicken.Der Wert der theoretischen Unterscheidung zwischen den
toxischen und den psychogenen Neurosen wird natürlich durch
die Tatsache nicht beeinträchtigt, daß an den meisten nervósen
Personen Störungen von beiderlei Herkunft zu beobachten sind.Wer nun mit mir bereit ist, die Atiologie der Nervosität
vor allem in schiidigenden Einwirkungen auf das SexuallebenS.
181
zu suchen, der wird auch den nachstehenden Erörterungen
folgen wollen, welche das Thema der wachsenden Nervosität
in einen allgemeineren Zusammenhang einzufiigen bestimmt sind.Unsere Kultur ist ganz allgemein auf der Unterdrückung
von Trieben aufgebaut. Jeder einzelne hat ein Stück seines
Besitzes, seiner Machtvollkommenheit, der aggressiven und vin-
dikativen Neigungen seiner Persönlichkeit abgetreten; aus diesen
Beitriigen ist der gemeinsame Kulturbesitz an materiellen und
ideellen Gütern entstanden. Außer der Lebensnot sind es wohl
die aus der Erotik abgeleiteten Familiengefiihle, welche die
einzelnen Individuen zu diesem Verzichte bewogen haben. Der
Verzicht ist ein im Laufe der Kulturentwicklung progressiver
gewesen; die einzelnen Fortschritte desselben wurden von der
Religion sanktioniert; das Stück Triebbefriedigung, auf das man
verzichtet hatte, wurde der Gottheit zum Opfer gebracht; das
so erworbene Gemeingut fiir „heilig“ erklärt. Wer kraft seiner
unbeugsamen Konstitution diese Triebunterdriickung nicht mit-
machen kann, steht der Gesellschaft als „Verbrecher“, als
„outlaw“ gegenüber, insofern nicht seine soziale Position und
seine hervorragenden Fähigkeiten ihm gestatten, sich in ihr als
großer Mann, als „Held“ durchzusetzen.Der Sexualtrieb — oder richtiger gesagt: die Sexualtriebe,
denn eine analytische Untersuchung lehrt, daß der Sexualtrieb
aus vielen Komponenten, Partialtrieben, zusammengesetzt ist
—, ist beim Menschen wahrscheinlich stärker ausgebildet als
bei den meisten höheren Tieren und jedenfalls stetiger, da er
die Periodizität fast völlig überwunden hat, an die er sich bei
den Tieren gebunden zeigt. Er stellt der Kulturarbeit außer-
ordentlich große Kraftmengen zur Verfügung, und dies zwar
infolge der bei ihm besonders ausgeprägten Eigentiimlichkeit,
sein Ziel verschieben zu können, ohne wesentlich an Intensität
abzunehmen. Man nennt diese Fähigkeit, das ursprünglich
sexuelle Ziel gegen ein anderes, nicht mehr sexuelles, aber
psychisch mit ihm verwandtes, zu vertauschen, die Fähigkeit
zur Sublimierung. Im Gegensatze zu dieser Verschiebbar-
keit, in welcher sein kultureller Wert besteht, kommt beim
Sexualtrieb auch besonders hartnäckige Fixierung vor, durch
die er unverwertbar wird und gelegentlich zu den sogenanntenS.
182
Abnormititen entartet. Die ursprüngliche Stärke des Sexual.
triebes ist wahrscheinlich bei den einzelnen Individuen ver-
schieden groß; sicherlich schwankend ist der von ihm zur Sub-
limierung geeignete Betrag. Wir stellen uns vor, daß es zu-
nåchst durch die mitgebrachte Organisation entschieden ist, ein
wie großer Anteil des Sexualtriebes sich beim einzelnen als
sublimierbar und verwertbar erweisen wird; auBerdem gelingt
es den Einfliissen des Lebens und der intellektuelleu Beein-
flussung des seelischen Apparates einen weiteren Anteil zur
Sublimierung zu bringen. Ins Unbegrenzte fortzusetzen ist dieser
VerschiebungsprozeD aber sicherlich nicht, so wenig wie die
Umsetzung der Wärme in mechanische Arbeit bei unseren
Maschinen. Ein gewisses Maß direkter sexueller Befriedigung
scheint für die allermeisten Organisationen unerläßlich, und die
Versagung dieses individuell variablen Maßes straft sich durch
Erscheinungen, die wir infolge ihrer Funktionsschädlichkeit und
ihres subjektiven Unlustcharakters zum Kranksein rechnen
müssen.Weitere Ausblicke eröffnen sich, wenn wir die Tatsache
in Betracht ziehen, daß der Sexualtrieb des Menschen ursprüng-
lich gar nicht den Zwecken der Fortpflanzung dient, sondern —
bestimmte Arten der Lustgewinnung zum Ziele hat"), Er Hubert”
sich so in der Kindheit des Menschen, wo er sein Ziel der
Lustgewinnung nicht nur an den Genitalien, sondern auch an
anderen Kórperstellen (erogenen Zonen) erreicht und darum
von anderen als diesen bequemen Objekten absehen darf. Wir
heißen dieses Stadium das des Autoerotismus und weisen
der Erziehung die Aufgabe, es einzuschrinken, zu, weil das
Verweilen bei demselben den Sexualtrieb fiir später unbeherrsch-
bar und unverwertbar machen wiirde. Die Entwicklung des
Sexualtriebes geht dann vom Autoerotismus zur Objektliebe und
von der Autonomie der erogenen Zonen zur Unterordnung der-
selben unter das Primat der in den Dienst der Fortpflanzung
gestellten Genitalien. Während dieser Entwicklung wird ein
Anteil der vom eigenen Körper gelieferten Sexualerregung als
unbrauchbar fiir die Fortpflanzungsfunktion gehemmt und im1) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Wien 1905.
S.
183
günstigen Falle der Sublimierung zugeführt. Die fiir die Kultur-
arbeit verwertbaren Kräfte werden so zum großen Teile durch
die Unterdrückung der sogenannt perversen Anteile der Sexual-
erregung gewonnen.Mit Bezug auf diese Entwicklungsgeschichte des Sexual-
triebes könnte man also drei Kulturstufen unterscheiden: Eine
erste, auf welcher die Betätigung des Sexualtriebes auch über
die Ziele der Fortpflanzung hinaus frei ist; eine zweite, auf
welcher alles am Sexualtrieb unterdriickt ist bis auf das, was
der Fortpflanzung dient, und eine dritte, auf welcher nur die
legitime Fortpflanzung als Sexualziel zugelassen wird. Dieser
dritten Stufe entspricht unsere gegenwärtige „kulturelle“ Sexual-
moral.Nimmt man die zweite dieser Stufen zum Niveau, so muß
man zunächst konstatieren, daß eine Anzahl von Personen aus
Gründen der Organisation den Anforderungen derselben nicht
genügt. Bei ganzen Reihen von Individuen hat sich die er-
wähnte Entwicklung des Sexualtriebes vom Autoerotismus zur
Objektliebe mit dem Ziel der Vereinigung der Genitalien nicht
korrekt und nicht genug durchgreifend vollzogen, und aus diesen
Entwicklungsstórungen ergeben sich zweierlei schädliche Ab-
weichungen von der normalen, d. h. kulturförderlichen Sexualität,
die sich zueinander nahezu wie positiv und negativ verhalten.
Es sind dies zunächst — abgesehen von den Personen mit über-
starkem und unhemmbarem Sexualtrieb überhaupt — die ver-
schiedenen Gattungen der Perversen, bei denen eine infantile
Fixierung auf ein vorläufiges Sexualziel das Primat der Fort-
pflanzungsfunktion aufgehalten hat, und die Homosexuellen
oder Invertierten, bei denen auf noch nicht ganz aufgeklärte
Weise das Sexualziel vom entgegengesetzten Geschlecht abgelenkt
worden ist, Wenn die Schädlichkeit dieser beiden Arten von
Entwicklungsstórung geringer ausfällt, als man hätte erwarten
können, so ist diese Erleichterung gerade auf die komplexe
Zusammensetzung des Sexualtriebes zurückzuführen, welche auch
dann noch eine brauchbare Endgestaltung des Sexuallebens er-
möglicht, wenn ein oder mehrere Komponenten des Triebes sich
von der Entwicklung ausgeschlossen haben. Die Konstitution
der von der Inversion Betroffenen, der Homosexuellen, zeichnetS.
184
‘sich sogar häufig durch eine besondere Eignung des Sexual-
triebes zur kulturellen Sublimierung aus.Stärkere und zumal exklusive Ausbildungen der Perver-
sionen und der Homosexualität machen allerdings deren Träger
sozial unbrauchbar und unglücklich, so daß selbst die Kultur-
anforderungen der zweiten Stufe als eine Quelle des Leidens
fiir einen gewissen Anteil der Menschheit anerkannt werden
miissen. Das Schicksal dieser konstitutiv von den anderen ab-
weichenden Personen ist ein mehrfaches, je nachdem sie einen
absolut starken oder schwächeren Geschlechtstrieb mitbekommen
haben. Im letzteren Falle, bei allgemein schwachem Sexualtrieb,
gelingt den Perversen die völlige Unterdrückung jener Neigungen,
welche sie in Konflikt mit der Moralforderung ihrer Kultur-
stufe bringen. Aber dies bleibt auch, ideell betrachtet, die einzige
Leistung, die ihnen gelingt, denn für diese Unterdrückung ihrer
sexuellen Triebe verbrauchen sie die Kräfte, die sie sonst an
die Kulturarbeit wenden würden. Sie sind gleichsam in sich
gehemmt und nach außen gelähmt. Es trifft für sie zu, was wir
später von der Abstinenz der Männer und Frauen, die auf der
dritten Kulturstufe gefordert wird, wiederholen werden.Bei intensiverem, aber perversem Sexualtrieb sind zwei
Fälle des Ausganges möglich. Der erste, weiter nicht zu be-
trachtende, ist der, daß die Betroffenen pervers bleiben und
die Konsequenzen ihrer Abweichung vom Kulturniveau zu tragen
haben. Der zweite Fall ist bei weitem interessanter, — er besteht
darin, daß unter dem Einflusse der Erziehung und der sozialen
Anforderungen allerdings eine Unterdrückung der perversen
Triebe erreicht wird, aber eine Art von Unterdrückung, die
eigentlich keine solche ist, die besser als ein Mißglücken der
Unterdrückung bezeichnet werden kann. Die gehemmten Sexual-
triebe äußern sich dann zwar nicht als solche: darin besteht
der Erfolg —, aber sie äußern sich auf andere Weisen, die für
das Individuum genau ebenso schädlich sind und es für die
Gesellschaft ebenso unbrauchbar machen wie die unveränderte
Befriedigung jener unterdrückten Triebe: darin liegt dann der
Mißerfolg des Prozesses, der auf die Dauer den Erfolg mehr
als bloß aufwiegt. Die Ersatzerscheinungen, die hier infolge der
Triebunterdrückung auftreten, machen das aus, was wir alsS.
185
Nervosität, spezieller als Psychoneurosen (siehe eingangs) be-
schreiben. Die Neurotiker sind jene Klasse von Menschen, die
es bei widerstrebender Organisation unter dem Einflusse der
Kulturanforderungen zu einer nur scheinbaren und immer mehr
-miBgliickenden Unterdrückung ihrer Triebe bringen, und die
darum ihre Mitarbeiterschaft an den Kulturwerken nur mit
großem Kräfteaufwand, unter innerer Verarmung, aufrecht er-
"halten oder zeitweise als Kranke aussetzen müssen, Die Neurosen
aber habe ich als das „Negativ“ der Perversionen bezeichnet,
weil sich bei ihnen die perversen Regungen nach der Ver-
drüngung aus dem Unbewußten des Seelischen äußern, weil sie
dieselben Neigungen wie die positiv Perversen im „verdriingten”
Zustand enthalten.Die Erfahrung lehrt, daB es fiir die meisten Menschen
eine Grenze gibt, über die hinaus ihre Konstitution der Kultur-
anforderung nicht folgen kann. Alle, die edler sein wollen,
als ihre Konstitution es ihnen gestattet, verfallen der Neurose;
sie hätten sich wohler befunden, wenn es ihnen möglich ge-
blieben wäre, schlechter zu sein. Die Einsicht, daß Perversion
und Neurose sich wie positiv und negativ zueinander verhalten,
findet oft eine unzweideutige Bekräftigung durch Beobachtung
innerhalb der nämlichen Generation. Recht häufig ist von Ge-
schwistern der Bruder ein sexuell Perverser, die Schwester, die
mit dem schwächeren Sexualtrieb als Weib ausgestattet ist, eine
Neurotika, deren Symtome aber dieselben Neigungen ausdrücken
wie die Perversionen des sexuell aktiveren Bruders, und dem
entsprechend sind überhaupt in vielen Familien die Männer
gesund, aber in sozial unerwünschtem Maße unmoralisch, die
Frauen edel und überverfeinert, aber — schwer nervös.Es ist eine der offenkundigen sozialen Ui 1
wenn der kulturelle Stan “von allen Per he |
Führung des Sexuallebens fordert, die den einen dank ihrer
‘Organisation mühelos gelingt, Während sie den anderen die
schwersten psychischen Opfer auferlegt, eine Ungerechtigkeit
freilich, die zumeist durch Nichtbefolgung der Moralvorschriften
vereitelt wird.Wir haben unseren Betrachtungen bisher die Forderung
der zweiten, von uns supponierten, Kulturstufe zugrunde gelegt,S.
186
der zufolge jede sogenannte perverse Sexualbetätigung verpónt,
der normal genannte Sexualverkehr hingegen frei gelassen wird.
Wir haben gefunden, daß auch bei dieser Verteilung von sexu-
eller Freiheit und Einschränkung eine Anzahl von Individuen
als pervers beiseite geschoben, eine andere, die sich bemühen,
nicht pervers zu sein, während sie es konstitutiv sein sollten,
in die Nervosität gedrängt wird. Es ist nun leicht, den Erfolg
vorherzusagen, der sich einstellen wird, wenn man die Sexual-
freiheit weiter einschrinkt und die Kulturforderung auf das
Niveau der dritten Stufe erhöht, also jede andere Sexualbetäti-
gung als die in legitimer Ehe verpónt. Die Zahl der Starken,
die sich in offenen Gegensatz zur Kulturforderung stellen, wird
in auBerordentlichem Maße vermehrt werden, und ebenso die
Zahl der Schwächeren, die sich in ihrem Konflikte zwischen
dem Drängen der kulturellen Einflüsse und dem Widerstande
ihrer Konstitution in neurotisches Kranksein — flüchten.Setzen wir uns vor, drei hier entspringende Fragen zu be-
antworten: 1. welche Aufgabe die Kulturforderung der dritten
‚Stufe an den einzelnen stellt, 2. ob die zugelassene legitime
Sexualbefriedigung eine annehmbare Entschädigung für den
sonstigen Verzicht zu bieten vermag, 3. in welchem Verhältnisse
die etwaigen Schädigungen durch diesen Verzicht zu dessen
kulturellen Ausnützungen stehen.Die Beantwortung der ersten Frage rührt an ein oftmals
behandeltes, hier nicht zu erschöpfendes Problem, das der sexu-
ellen Abstinenz. Was unsere dritte Kulturstufe von dem ein-
zelnen fordert, ist die Abstinenz bis zur Ehe für beide Ge-
schlechter, die lebenslange Abstinenz für alle solche, die keine
legitime Ehe eingehen. Die allen Autoritäten genehme Behauptung,
die sexuelle Abstinenz sei nicht schädlich und nicht gar schwer
durchzuführen, ist vielfach auch von Ärzten vertreten worden.
Man darf sagen, die Aufgabe der Bewältigung einer so mäch-
tigen Regung wie des Sexualtriebes, anders als auf dem Wege
der Befriedigung, ist eine, die alle Kräfte eines Menschen in
Anspruch nehmen kann, Die Bewältigung durch Sublimierung,
durch Ablenkung der sexuellen Triebkräfte vom sexuellen Ziele
weg auf höhere kulturelle Ziele gelingt einer Minderzahl, und
wohl auch dieser nur zeitweilig, am wenigsten leicht in derS.
187
Lebenszeit feuriger Jugendkraft. Die meisten anderen werden
neurotisch oder kommen sonst zu Schaden. Die Erfahrung zeigt,
daß die Mehrzahl der unsere Gesellschaft zusammensetzenden
Personen der Aufgabe der Abstinenz konstitutionell nicht ge-
wachsen ist. Wer auch bei milderer Sexualeinschränkung er-
krankt wäre, erkrankt unter den Anforderungen unserer heutigen
kulturellen Sexualmoral um so eher und um so intensiver, denn
gegen die Bedrohung des normalen Sexualstrebens durch fehler-
hafte Anlagen und Entwicklungsstórungen kennen wir keine
bessere Sicherung als die Sexualbefriedigung selbst. Je mehr
jemand zur Neurose disponiert ist, desto schlechter verträgt er
die Abstinenz; die Partialtriebe, die sich der normalen Ent-
wicklung im oben niedergelegten Sinne entzogen haben, sind
nämlich auch gleichzeitig um soviel unhemmbarer geworden,
Aber auch diejenigen, welche bei den Anforderungen der zweiten
Kulturstufe gesund geblieben wären, werden nun in großer An-
zahl der Neurose zugeführt. Denn der psychische Wert der
Sexualbefriedigung erhöht sich mit ihrer Versagung; die ge-
staute Libido wird nun in den Stand gesetzt, irgendeine der
selten fehlenden schwächeren Stellen im Aufbau der Vita sexu-
alis auszuspüren, um dort zur neurotischen Ersatzbefriedigung
in Form krankhafter Symptome durchzubrechen. Wer in die
Bedingtheit nervôser Erkrankung einzudringen versteht, ver-
schafft sich bald die Überzeugung, daß die Zunahme der nervåsen
Erkrankungen in unserer Gesellschaft von der Steigerung der
sexuellen Einschränkung herriihrt.Wir rücken dann der Frage näher, ob nicht der Sexual-
verkehr in legitimer Ehe eine volle Entschädigung für die Ein-
schränkung vor der Ehe bieten kann. Das Material zur ver-
neinenden Beantwortung dieser Frage drängt sich da so reichlich
auf, daß uns die knappste Fassung zur Pflicht wird. Wir er-
innern vor allem daran, daß unsere kulturelle Sexualmoral auch
den sexuellen Verkehr in der Ehe selbst beschränkt, indem sie
den Eheleuten den Zwang auferlegt, sich mit einer meist sehr
geringen Anzahl von Kinderzeugungen zu begnügen. Infolge
dieser Rücksicht gibt es befriedigenden Sexualverkehr in der
Ehe nur durch einige Jahre, natürlich noch mit Abzug der zur
Schonung der Frau aus hygienischen Gründen erforderten Zeiten.S.
188
Nach diesen drei, vier oder fiinf Jahren versagt die Ehe, inso-
fern sie die Befriedigung der sexuellen Bediirfnisse versprochen
hat; denn alle Mittel, die sich bisher zur Verhiitung der Kon-
zeption ergeben haben, verkiimmern den sexuellen Genuß, stören
die feinere Empfindlichkeit beider Teile oder wirken selbst
direkt krankmachend; mit der Angst vor den Folgen des Ge-
schlechtsverkehres schwindet zuerst die körperliche Zärtlichkeit
der Ehegatten füreinander, in weiterer Folge meist auch die
seelische Zuneigung, die bestimmt war, das Erbe der anfäng-
lichen stürmischen Leidenschaft zu übernehmen. Unter der
seelischen Enttäuschung und körperlichen Entbehrung, die so
das Schicksal der meisten Ehen wird, finden sich beide Teile
auf den früheren Zustand vor der Ehe zurückversetzt, nur um
eine Illusion verarmt und von neuem auf ihre Festigkeit, den
Sexualtrieb zu beherrschen und abzulenken, angewiesen. Es soll
nicht untersucht werden, inwieweit diese Aufgabe nun dem Manne
im reiferen Lebensalter gelingt; erfahrungsgemäß bedient er sich
nun recht häufig des Stückes Sexualfreiheit, welches ihm auch
von der strengsten Sexualordnung, wenngleich nur stillschweigend
und widerwillig, eingeräumt wird; die für den Mann in unserer
Gesellschaft geltende „doppelte“ Sexualmoral ist das beste Ein-
geständnis, daß die Gesellschaft selbst, welche die Vorschriften
erlassen hat, nicht an deren Durchführbarkeit glaubt. Die Er-
fahrung zeigt aber auch, daß die Frauen, denen als den eigent-
lichen Trägerinnen der Sexualinteressen des Menschen die Gabe
der Sublimierung des Triebes nur in geringem Maße zugeteilt
ist, denen als Ersatz des Sexualobjektes zwar der Säugling,
aber nicht das heranwachsende Kind genügt, daß die Frauen,
sage ich, unter den Enttäuschungen der Ehe an schweren und
das Leben dauernd triibenden Neurosen erkranken, Die Ehe
hat unter den heutigen kulturellen Bedingungen längst auf-
gehört, das Allheilmittel gegen die nervósen Leiden des Weibes
zu sein; und wenn wir Årzte auch noch immer in solchen Fillen
zu ihr raten, so wissen wir doch, daß im Gegenteil ein Mädchen
recht gesund sein muß, um die Ehe zu „vertragen“, und raten
unseren miinnlichen Klienten dringend ab, ein bereits vor der
Ehe nervises Mädchen zur Frau zu nehmen. Das Heilmittel
gegen die aus der Ehe entspringende Nervosität wire vielmehrS.
189
die eheliche Untreue; je strenger eine Frau erzogen ist, je ernst-
hafter sie sich der Kulturforderung unterworfen hat, desto mehr
fürchtet sie aber diesen Ausweg, und im Konflikte zwischen
ihren Begierden und ihrem Pflichtgefiihl sucht sie ihre Zuflucht
wiederum — in der Neurose. Nichts anderes schiitzt ihre Tugend
so sicher wie die Krankheit. Der eheliche Zustand, auf den der
Sexualtrieb des Kulturmenschen während seiner Jugend ver-
tröstet wurde, kann also die Anforderungen seiner eigenen
Lebenszeit nicht decken; es ist keine Rede davon, daß er fiir
den früheren Verzicht entschädigen könnte.Auch wer diese Schädigungen durch die kulturelle Sexual-
moral zugibt, kann zur Beantwortung unserer dritten Frage
geltend machen, daß der kulturelle Gewinn aus der soweit ge-
triebenen Sexualeinschränkung diese Leiden, die in schwerer
Ausprägung doch nur eine Minderheit betreffen, wahrscheinlich
mehr als bloß aufwiegt. Ich erkläre mich für unfähig, Gewinn
und Verlust hier richtig gegeneinander abzuwägen, aber zur
Einschätzung der Verlustseite könnte ich noch allerlei anführen,
Auf das vorhin gestreifte Thema der Abstinenz zurückgreifend,
muß ich behaupten, daß die Abstinenz noch andere Schädi-
gungen bringt als die der Neurosen, und daß diese Neurosen
meist nicht nach ihrer vollen Bedeutung veranschlagt werden.Die Verzögerung der Sexualentwicklung und Sexualbetäti-
gung, welche unsere Erziehung und Kultur anstrebt, ist zunächst
gewiß unschädlich; sie wird zur Notwendigkeit, wenn man in
Betracht zieht, in wie späten Jahren erst die jungen Leute ge-
bildeter Stände zu selbständiger Geltung und zum Erwerb zu-
gelassen werden. Man wird hier übrigens an den intimen Zu-
sammenhang aller unserer kulturellen Institutionen und an die
Schwierigkeit gemahnt, ein Stück derselben ohne Rücksicht auf
das Ganze abzuändern. Die Abstinenz weit über das 20. Jahr
hinaus ist aber für den jungen Mann nicht mehr unbedenklich
und führt zu anderen Schädigungen, auch wo sie nicht zur
Nervosität führt. Man sagt zwar, der Kampf mit dem mächtigen
Triebe und die dabei erforderliche Betonung aller ethischen und
ästhetischen Mächte im Seelenleben „stähle“ den Charakter,
und dies ist für einige besonders günstig organisierte Naturen
richtig; zuzugeben ist auch, daß die in unserer Zeit so aus-S.
190
geprägte Differenzierung der individuellen Charaktere erst mit
der Sexualeinschränkung möglich geworden ist. Aber in der
weitaus größeren Mehrheit der Fälle zehrt der Kampf gegen
die Sinnlichkeit die verfügbare Energie des Charakters auf und
dies gerade zu einer Zeit, in welcher der junge Mann all seiner
Kräfte bedarf, um sich seinen Anteil und Platz in der Gesell-
schaft zu erobern. Das Verhältnis zwischen möglicher Subli-
mierung und notwendiger sexueller Betätigung schwankt natür-
lich sehr für die einzelnen Individuen und sogar für die ver-
schiedenen Berufsarten. Ein abstinenter Künstler ist kaum recht
möglich, ein abstinenter junger Gelehrter gewiß keine Seltenheit.
Der letztere kann durch Enthaltsamkeit freie Kräfte für sein
Studium gewinnen, beim ersteren wird wahrscheinlich seine
künstlerische Leistung durch sein sexuelles Erleben mächtig an-
geregt werden. Im allgemeinen habe ich nicht den Eindruck
gewonnen, daß die sexuelle Abstinenz energische, selbständige
Männer der Tat oder originelle Denker, kühne Befreier und
Reformer heranbilden helfe, weit häufiger brave Schwächlinge,
welche später in die große Masse eintauchen, die den von starken
Individuen gegebenen Impulsen widerstrebend zu folgen pflegt.Daß der Sexualtrieb im ganzen sich eigenwillig und un-
gefügig benimmt, kommt auch in den Ergebnissen der Ab-
stinenzbemühung zum Ausdruck, Die Kulturerziehung strebe
etwa nur seine zeitweilige Unterdrückung bis zur Eheschließung
an und beabsichtige ihn dann frei zu lassen, um sich seiner zu
bedienen. Aber gegen den Trieb gelingen die extremen Beein-
flussungen leichter noch als die MáBigungen; die Unterdrückung
ist sehr oft zu weit gegangen und hat das unerwiinschte Re-
sultat ergeben, daß der Sexualtrieb nach seiner Freilassung
dauernd geschädigt erscheint. Darum ist oft volle Abstinenz
während der Jugendzeit nicht die beste Vorbereitung für die
Ehe beim jungen Manne. Die Frauen ahnen dies und ziehen
unter ihren Bewerbern diejenigen vor, die sich schon bei an-
deren Frauen als Männer bewährt haben. Ganz besonders greif-
bar sind die Schädigungen, welche durch die strenge Forderung
der Abstinenz. bis zur Ehe am Wesen der Frau hervorgerufen
werden. Die Erziehung nimmt die Aufgabe, die Sinnlichkeit
des Mädchens bis zu seiner Verehelichung zu unterdrücken,S.
191
offenbar nicht leicht, denn sie arbeitet mit den schirfsten
Mitteln. Sie untersagt nicht nur den sexuellen Verkehr, setzt
hohe Prämien auf die Erhaltung der sexuellen Unschuld, son-
dern sie entzieht das reifende weibliche Individuum auch der
Versuchung, indem sie es in Unwissenheit über alles "T'atsüch-
liche der ihm bestimmten Rolle enthält und keine Liebesregung,
die nicht zur Ehe führen kann, bei ihm duldet. Der Erfolg ist,
daß die Mädchen, wenn ihnen das Verlieben plötzlich von den
elterlichen Autoritäten gestattet wird, die psychische Leistung
nicht zustande bringen und ihrer eigenen Gefühle unsicher in
die Ehe gehen. Infolge der künstlichen Verzögerung der Liebes-
funktion bereiten sie dem Manne, der all sein Begehren für
sie aufgespart hat, nur Enttäuschungen; mit ihren seelischen
Gefühlen hängen sie noch den Eltern an, deren Autorität die
Sexualunterdriickung bei ihnen geschaffen hat, und im körper-
lichen Verhalten zeigen sie sich frigid, was jeden höherwertigen
Sexualgenu beim Manne verhindert. Ich weiß nicht, ob der
Typus der anästhetischen Frau auch außerhalb der Kulturer-
ziehung vorkommt, halte es aber für wahrscheinlich. Jedenfalls
wird er durch die Erziehung geradezu gezüchtet, und diese
Frauen, die ohne Lust empfangen, zeigen dann wenig Bereit-
willigkeit, des öfteren mit Schmerzen zu gebåren. So werden
durch die Vorbereitung zur Ehe die Zwecke der Ehe selbst
vereitelt; wenn dann die Entwicklungsverzögerung bei der Frau
überwunden ist und auf der Höhe ihrer weiblichen Existenz die
volle Liebesfähigkeit bei ihr erwacht, ist ihr Verhältnis zum
Ehemanne längst verdorben; es bleibt ihr als Lohn für ihre
bisherige Gefügigkeit die Wahl zwischen ungestilltem Sehnen,
Untreue oder Neurose.Das sexuelle Verhalten eines Menschen ist oft vorbild-
lich fiir seine ganze sonstige Reaktionsweise in der Welt. Wer
als Mann sein Sexualobjekt energisch erobert, dem trauen wir
ähnliche riicksichtslose Energie auch in der Verfolgung anderer
Ziele zu. Wer hingegen auf die Befriedigung seiner starken
sexuellen Triebe aus allerlei Riichsichten verzichtet, der wird
sich auch anderwiirts im Leben eher konziliant und resigniert
als tatkräftig benehmen. Eine spezielle Anwendung dieses Satzes
von der Vorbildlichkeit des Sexuallebens fiir andere Funktions-S.
192
austibung kann man leicht am ganzen Geschlechte der Frauen
konstatieren. Die Erziehung versagt ihnen die intellektuelle
Beschäftigung mit den Sexualproblemen, für die sie doch die
größte WiBbegierde mitbringen, schreckt sie mit der Verur-
teilung, daß solche WiBbegierde unweiblich und Zeichen sündiger
Veranlagung sei. Damit sind sie vom Denken überhaupt ab-
geschreckt, wird das Wissen für sie entwertet. Das Denkverbot
greift über die sexuelle Sphäre hinaus, zum Teil infolge der
unvermeidlichen Zusammenhünge, zum Teil automatisch, ganz
ühnlich wie das religióse Denkverbot bei Münnern, das loyale
bei braven Untertanen. Ich glaube nicht, daß der biologische
Gegensatz zwischen intellektueller Arbeit und Geschlechtstátig-
keit den ,physiologischen Schwachsinn* der Frau erklürt, wie
Moebius es in seiner vielfach widersprochenen Schrift dar-
getan hat. Dagegen meine ich, daß die unzweifelhafte Tatsache
der intellektuellen Inferioritit so vieler Frauen auf die zur
Sexualunterdrückung erforderliche Denkhemmung zurückzu-
führen ist.Man unterscheidet viel zu wenig strenge, wenn man die
Frage der Abstinenz behandelt, zwei Formen derselben, die
Enthaltung von jeder Sexualbetütigung überhaupt und die Ent-
haltung vom sexuellen Verkehre mit dem andern Geschlechte.
Vielen Personen, die sich der gelungenen Abstinenz rühmen,
ist dieselbe nur mit Hilfe der Masturbation und #hnlicher Be-
friedigungen möglich geworden, die an die autoerotischen Sexual-
tütigkeiten der frühen Kindheit anknüpfen. Aber gerade dieser
Beziehung wegen sind diese Ersatzmittel zur sexuellen Be-
friedigung keineswegs harmlos; sie disponieren zu den zahl-
reichen Formen von Neurosen und Psychosen, für welche die
Rückbildung des Sexuallebens zu seinen infantilen Formen die
Bedingung ist. Die Masturbation entspricht auch keineswegs
den idealen Anforderungen der kulturellen Sexualmoral und
treibt darum die jungen Menschen in die nåmlichen Konflikte
mit dem Erziehungsideale, denen sie durch die Abstinenz ent-
gehen wollten. Sie verdirbt ferner den Charakter durch Ver-
wohnung auf mehr als eine Weise, erstens, indem sie be-
deutsame Ziele mühelos, auf bequemen Wegen, anstatt durch
energische Kraftanspannung erreichen lehrt, also nach demS.
193
Prinzipe der sexuellen Vorbildlichkeit, und zweitens, in-
dem sie in den die Befriedigung begleitenden Phantasien das
Sexualobjekt zu einer Vorzüglichkeit erhebt, die in der Realität
nicht leicht wiedergefunden wird. Konnte doch ein geistreicher
Schriftsteller (K. Kraus in der Wiener „Fackel“), den Spieß
umdrehend, die Wahrheit in dem Cynismus aussprechen: Der
Koitus ist nur ein ungeniigendes Surrogat fiir die Onanie!Die Strenge der Kulturforderung und die Schwierigkeit
der Abstinenzaufgabe haben zusammengewirkt, um die Ver-
meidung der Vereinigung der Genitalien verschiedener Ge-
schlechter zum Kerne der Abstinenz zu machen und andere
Arten der sexuellen Betiitigung zu begiinstigen, die sozusagen
einem Halbgehorsame gleichkommen. Seitdem der normale Sexual-
verkehr von der Moral — und wegen der Infektionsmôglich-
keiten auch von der Hygiene — so unerbittlich verfolgt wird,
haben die sogenannten perversen Arten des Verkehres zwischen
beiden Geschlechtern, bei denen andere Korperstellen die Rolle
der Genitalien iibernehmen, an sozialer Bedeutung unzweifelhaft
zugenommen. Diese Betiitigungen können aber nicht so harm-
los beurteilt werden wie analoge Uberschreitungen im Liebes-
verkehre, sie sind ethisch verwerflich, da sie die Liebesbeziehungen
zweier Menschen aus einer ernsten Sache zu einem bequemen
Spiele ohne Gefahr und ohne seelische Beteiligung herabwiirdigen.
Als weitere Folge der Erschwerung des normalen Sexuallebens
ist die Ausbreitung homosexueller Befriedigung anzufiihren; zu
all denen, die schon nach ihrer Organisation Homosexuelle sind
oder in der Kindheit dazu wurden, kommt noch die große An-
zahl jener hinzu, bei denen in reiferen Jahren wegen der Ab-
sperrung des Hauptstromes der Libido der homosexuelle Seiten-
arm breit geöffnet wird.Alle diese unvermeidlichen und unbeabsichtigten Kon-
sequenzen der Abstinenzforderung treffen in dem einen Gemein-
samen zusammen, daß sie die Vorbereitung fiir die Ehe griind-
lich verderben, die doch nach der Absicht der kulturellen
Sexualmoral die alleinige Erbin der sexuellen Strebungen werden
sollte. Alle die Månner, die infolge masturbatorischer oder
perverser Sexualiibung ihre Libido auf andere als die normalen
Situationen und Bedingungen der Befriedigung eingestellt haben,Freud, Neurosenlehre. 11. 18
S.
194
entwickeln in der Ehe eine verminderte Potenz. Auch die
Frauen, denen es nur durch ähnliche Hilfen möglich blieb,
ihre Jungfräulichkeit zu bewahren, zeigen sich in der Ehe für
den normalen Verkehr anästhetisch. Die mit herabgesetzter
Liebesfáhigkeit beider Teile begonnene Khe verfällt dem Auf-
lósungsprozesse nur noch rascher als eine andere. Infolge der
geringen Potenz des Mannes wird die Frau nicht befriedigt,
bleibt auch dann anästhetisch, wenn ihre aus der Erziehung
mitgebrachte Disposition zur Frigidität durch mächtiges sexuelles
Erleben überwindbar gewesen wire. Ein solches Paar findet
auch die Kinderverhütung schwieriger als ein gesundes, da die
geschwüchte Potenz des Mannes die Anwendung der Verhütungs-
mittel schlecht verträgt. In solcher Ratlosigkeit wird der sexuelle
Verkehr als die. Quelle aller Verlegenheiten bald aufgegeben
und damit die Grundlage des Ehelebens verlassen.Ich fordere alle Kundigen auf zu bestätigen, daß ich nicht
übertreibe, sondern Verhältnisse schildere, die ebenso arg in
beliebiger Häufigkeit zu beobachten sind. Es ist wirklich für
den Uneingeweihten ganz unglaublich, wie selten sich normale
Potenz beim Manne und wie häufig sich Frigiditåt bei der
weiblichen Hilfte der Ehepaare findet, die unter der Herrschaft
unserer kulturellen Sexualmoral stehen, mit welchen Ent-
sagungen, oft für beide Teile, die Ehe verbunden ist und wor-
auf das Eheleben, das so sehnsüchtig erstrebte Glück, sich ein-
schränkt. Daß unter diesen Verhältnissen der Ausgang in
Nervosität der nichstliegende ist, habe ich schon ausgeführt;
ich will aber noch hinzusetzen, in welcher Weise eine solche
Ehe auf die in ihr entsprungenen — einzigen oder wenig zahl-
reichen — Kinder fortwirkt. Es kommt da der Anschein einer
erblichen Übertragung zustande, der sich bei schürferem Zu-
sehen in die Wirkung mächtiger infantiler Eindrücke auflüst.
Die von ihrem Manne unbefriedigte neurotische Frau ist als
Mutter überzürtlich und überüngstlich gegen das Kind, auf das
sie ihr Liebesbedürfnis übertrügt, und weckt in demselben die
sexuelle Friihreife. Das schlechte Einverständnis zwischen den
Eltern reizt dann das Gefiihlsleben des Kindes auf, läßt es im
zartesten Alter Liebe, Haß und Eifersucht intensiv empfinden.
Die strenge Erziehung, die keinerlei Betätigung des so frühS.
195
geweckten Sexuallebens duldet, stellt die unterdriickende Macht
bei, und dieser Konflikt in diesem Alter enthiilt alles, was es
zur Verursachung der lebenslangen Nervosität bedarf.Ich komme nun auf meine frühere Behauptung zurück,
daß man bei der Beurteilung der Neurosen zumeist nicht deren
volle Bedeutung in Betracht zieht. Ich meine damit nicht die
Unterschätzung dieser Zustände, die sich in leichtsinnigem Bei-
seiteschieben von seiten der Angehörigen und in groDtuerischen
Versicherungen von seiten der Ärzte äußert, einige Wochen
Kaltwasserkur oder einige Monate Ruhe und Erholung könnten
den Zustand beseitigen. Das sind nur mehr Meinungen von
ganz unwissenden Ärzten und Laien, zumeist nur Reden, dazu
bestimmt, den Leidenden einen kurzlebigen Trost zu bieten. Es
ist vielmehr bekannt, daß eine chronische Neurose, auch wenn
sie die Existenzfähigkeit nicht völlig aufhebt, eine schwere
Lebensbelastung des Individuums vorstellt, etwa im Range einer
Tuberkulose oder eines Herzfehlers. Auch könnte man sich
damit abfinden, wenn die neurotischen Erkrankungen etwa nur
eine Anzahl von immerhin schwächeren Individuen von der
Kulturarbeit ausschließen und den anderen die Teilnahme daran
um den Preis von bloß subjektiven Beschwerden gestatten
würden. Ich möchte vielmehr auf den Gesichtspunkt aufmerk-
sam machen, daß die Neurose, soweit sie reicht und bei wem
immer sie sich findet, die Kulturabsicht zu vereiteln weiß und
somit eigentlich die Arbeit der unterdrückten kulturfeindlichen
Seelenkrüfte besorgt, so daß die Gesellschaft nicht einen mit
Opfern erkauften Gewinn, sondern gar keinen Gewinn . ver-
zeichnen darf, wenn sie die Gefügigkeit gegen ihre weitgehenden
Vorschriften mit der Zunahme der Nervosität bezahlt. Gehen
wir z. B. auf den so häufigen Fall einer Frau ein, die ihren
Mann nicht liebt, weil sie nach den Bedingungen ihrer Ehe-
schließung und den Erfahrungen ihres Ehelebens ihn zu lieben
keinen Grund hat, die ihren Mann aber durchaus lieben möchte,
weil dies allein dem Ideale der Ehe, zu dem sie erzogen wurde,
entspricht. Sie wird dann alle Regungen in sich unterdrücken,
die der Wahrheit Ausdruck geben wollen und ihrem Ideal-
bestreben widersprechen, und wird besondere Mühe aufwenden,
eine liebevolle, zärtliche und sorgsame Gattin zu spielen. Neu-18%
S.
196
rotische Erkrankung wird die Folge dieser Selbstunterdrückung
sein, und diese Neurose wird binnen kurzer Zeit an dem unge-
liebten Manne Rache genommen haben und bei ihm genau so-
viel Unbefriedigung und Sorge hervorrufen, als sich nur aus
dem Eingeständnisse des wahren Sachverhaltes ergeben hätte.
Dieses Beispiel ist fiir die Leistungen der Neurose geradezu
typisch. Ein ähnliches MiBlingen der Kompensation beobachtet
man auch nach der Unterdrückung anderer nicht direkt sexueller,
kulturfeindlicher Regungen. Wer z. B. in der gewaltsamen
Unterdrückung einer konstitutionellen Neigung zur Härte und
Grausamkeit ein Überguter geworden ist, dem wird häufig
dabei soviel an Energie entzogen, daß er nicht alles ausführt,
was seinen Kompensationsregungen entspricht, und im ganzen
doch eher weniger an Gutem leistet, als er ohne Unterdrückung
zustande gebracht hätte.Nehmen wir noch hinzu, daß mit der Einschränkung der
sexuellen Betätigung bei einem Volke ganz allgemein eine Zu-
nahme der Lebensängstlichkeit und der Todesangst einhergeht,
welche die Genußfähigkeit der einzelnen stört und ihre Bereit-
willigkeit, für irgend welche Ziele den Tod auf sich zu nehmen,
aufhebt, welche sich in der verminderten Neigung zur Kinder-
zeugung äußert, und dieses Volk oder diese Gruppe von
Menschen vom Anteile an der Zukunft ausschließt, so darf man
wohl die Frage aufwerfen, ob unsere „kulturelle“ Sexualmoral
der Opfer wert ist, welche sie uns auferlegt, zumal, wenn man
sich vom Hedonismus nicht genug frei gemacht hat, um nicht
ein gewisses Maß von individueller Glücksbefriedigung unter
die Ziele unserer Kulturentwicklung aufzunehmen. Es ist ge-
wiß nicht Sache des Arztes, selbst mit Reformvorschlägen her-
vorzutreten; ich meinte aber, ich könnte die Dringlichkeit
solcher unterstützen, wenn ich die v. Ehrenfelssche Dar-
stellung der Schädigungen durch unsere „kulturelle“ Sexual-
moral um den Hinweis auf deren Bedeutung für die Aus-
breitung der modernen Nervosität erweitere.
sksn2
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