Zur sexuellen Aufklärung der Kinder 1907-003/1912
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    Zur sexuellen Aufklärung der Kinder”.

    Offener Brief an Dr. M. Fürst.

    Geehrter Herr Kollege!

    Wenn Sie von mir eine Äußerung über die „sexuelle Auf-
    klärung der Kinder“ verlangen, so nehme ich an, daß Sie keine
    regelrechte und förmliche Abhandlung mit Berücksichtigung der
    ganzen, über Gebühr angewachsenen Literatur erwarten, sondern
    das selbständige Urteil eines einzelnen Arztes hören wollen, dem
    seine Berufstätigkeit besondere Anregung geboten hat, sich mit
    den sexuellen Problemen zu beschäftigen. Ich weiß, daß Sie
    meine wissenschaftlichen Bemühungen mit Interesse verfolgt
    haben und mich nicht wie viele andere Kollegen darum ohne
    Prüfung abweisen, weil ich in der psychosexuellen Konstitution
    und in Schädlichkeiten des Sexuallebens die wichtigsten Ursachen
    der so häufigen neurotischen Erkrankungen erblicke; auch meine
    „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, in denen ich die Zu-
    sammensetzung des Geschlechtstriebes und die Störungen in der
    Entwicklung des Geschlechtstriebes zur Sexualfunktion darlege,
    haben kürzlich eine freundliche Erwähnung in Ihrer Zeitschrift
    gefunden.

    Ich soll Ihnen also die Fragen beanworten, ob man den
    Kindern überhaupt Aufklärungen über die Tatsachen des Ge-
    schlechtslebens geben darf, in welchem Alter dies geschehen
    kann und in welcher Weise. Nehmen Sie nun gleich zu Anfang
    mein Geständnis entgegen, daß ich eine Diskussion über den
    zweiten und dritten Punkt ganz begreiflich finde, daß es aber

    1) Aus „Soziale Medizin und Hygiene“. Bd. II. 1907.

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    für meine Einsicht völlig unfaBbar ist, wie der erste dieser
    Fragepunkte ein Gegenstand von Meinungsverschiedenheit werden
    konnte. Was will man denn erreichen, wenn man den Kindern
    — oder sagen wir: der Jugend — solche Aufklirungen über das
    menschliche Geschlechtsleben vorenthält? Fürchtet man, ihr
    Interesse fiir diese Dinge vorzeitig zu wecken, ehe es sich in
    ihnen selbst regt? Hofft man, durch solche Verhehlung den
    Geschlechtstrieb iiberhaupt zuriickzuhalten bis zur Zeit, da er
    in die ihm von der bürgerlichen Gesellschaftsordnung allein
    geöffneten Bahnen einlenken kann? Meint man, daß die Kinder
    fiir die Tatsachen und Rätsel des Geschlechtslebens kein Inter-
    esse oder kein Verstindnis zeigten, wenn sie nicht von fremder
    Seite darauf hingewiesen würden? Hält man es für möglich,
    daß ihnen die Kenntnis, welche man ihnen versagt, nicht auf
    anderen Wegen zugeführt wird? Oder verfolgt man wirklich
    und ernsthaft die Absicht, daß sie späterhin alles Geschlecht-
    liche als etwas Niedriges und Verabscheuenswertes beurteilen
    mögen, von dem ihre Eltern und Erzfeher sie so lange als mög-
    lich fernhalten wollten?

    Ich weiß wirklich nicht, in welcher dieser Absichten ich
    das Motiv für das tatsächlich geübte Verstecken des Sexuellen
    vor den Kindern erblicken soll; ich weiß nur, daß sie alle gleich
    töricht sind, und daß es mir schwer fällt, sie durch ernsthafte
    Widerlegungen auszuzeichnen, Ich erinnere mich aber, daß ich
    in den Familienbriefen des großen Denkers und Menschenfreundes
    Multatuli einige Zeilen gefunden habe, die als Antwort mehr
    als bloß genügen können!).

    „Im allgemeinen werden einzelne Dinge nach meinem
    Gefühl zu sehr umschleiert. Man tut recht, die Phantasie der
    Kinder reinzuhalten, aber diese Reinheit wird nicht bewahrt
    durch Unwissenheit. Ich glaube eher, daß das Verdecken von
    etwas den Knaben und das Mädchen um so mehr die Wahrheit
    argwöhnen läßt. Man spürt aus Neugierde Dingen nach, die
    uns, wenn sie uns ohne viel Umstände mitgeteilt würden, wenig
    oder kein Interesse einflößen würden. Wäre diese Unwissen-
    heit noch zu bewahren, so könnte ich mich damit versöhnen,

    り Multatuli, Briefe, herausgegeben von W. Spohr, 1906, Bd. I, S. 26.

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    aber das ist nicht möglich; das Kind kommt in Berührung mit
    anderen Kindern, es bekommt Bücher in die Hände, die es zum
    Nachdenken bringen; gerade die Geheimtuerei, womit das dennoch
    Begriffene von den Eltern behandelt wird, erhöht das Verlangen,
    mehr zu wissen. Dieses Verlangen, nur zum Teil, nur heimlich
    befriedigt, erhitzt das Herz und verdirbt die Phantasie, das Kind
    siindigt bereits, und die Eltern meinen noch, daß es nicht weiß,
    was Sünde ist."

    Ich weiß nicht, was man hierüber Besseres sagen könnte,
    aber vielleicht lit sich einiges hinzufügen. Es ist gewiß nichts
    anderes als die gewohnte Prüderie und das eigene schlechte
    Gewissen in Sachen der Sexualität, was die Erwachsenen zur
    ,Geheimtuerei* vor den Kindern veranlaßt; aber möglicher-
    weise wirkt da auch ein Stück theoretischer Unwissenheit mit,
    dem man durch die Aufklärung der Erwachsenen entgegentreten
    kann. Man meint nämlich, daß den Kindern.der Geschlechts-
    trieb fehle und sich erst zur Pubertätszeit mit der Reife der
    Geschlechtsorgane bei ihnen einstelle. Das ist ein grober, für
    die Kenntnis wie für die Praxis folgenschwerer Irrtum. Es ist
    so leicht, ihn durch die Beobachtung zu korrigieren, daß man
    sich verwundern muß, wie er überhaupt entstehen konnte. In
    Wahrheit bringt das Neugeborene Sexualität mit auf die Welt,
    gewisse Sexualempfindungen begleiten seine Entwicklung durch
    die Säuglings- und Kinderzeiten, und die wenigsten Kinder
    dürften sexuellen Betätigungen und Empfindungen vor ihrer
    Pubertät entgehen. Wer die ausführliche Darlegung dieser Be-
    hauptungen kennen lernen will, möge sie in meinen erwähnten
    „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Wien 1905“ 1) aufsuchen.
    Er wird dort erfahren, daß die eigentlichen Reproduktionsorgane
    nicht die einzigen Körperteile sind, welche sexuelle Lust-
    empfindungen vermitteln, und daß die Natur es recht zwingend
    so eingerichtet hat, daß selbst Reizungen der Genitalien während
    der Kinderzeit unvermeidlich sind. Man bezeichnet diese Lebens-
    zeit, in welcher durch die Erregung verschiedener Hautstellen
    (erogener Zonen), durch die Betätigung gewisser biologischer
    Triebe und als Miterregung bei vielen affektiven Zuständen ein
    gewisser Betrag von sicher sexueller Lust erzengt wird, mit

    1) 2. Aufl.. 1910.

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    einem von Havelock Ellis eingeführten Ausdrucke als die
    Periode des Autoerotismus. Die Pubertät leistet nichts
    anderes, als daß sie unter allen lusterzeugenden Zonen und
    Quellen den Genitalien das Primat verschafft und dadurch die
    Erotik in den Dienst der Fortpflanzungsfunktion zwingt, ein
    Prozeß, der natürlich gewissen Hemmungen unterliegen kann
    und sich bei vielen Personen, den späteren Perversen und
    Neurotikern, nur in unvollkommener Weise vollzieht. Anderseits
    ist das Kind der meisten psychischen Leistungen des Liebes-
    lebens (der Zärtlichkeit, der Hingebung, der Eifersucht) lange
    vor erreichter Pubertät fähig, und oft genug stellt sich auch der
    Durchbruch dieser seelischen Zustände zu den körperlichen
    Empfindungen der Sexualerregung her, so daß das Kind über die
    Zusammengehörigkeit der beiden nicht im Zweifel bleiben kann.
    Kurz gesagt, das Kind ist lange vor der Pubertät ein bis auf die
    Fortpflanzungsfähigkeit fertiges Liebeswesen, und man darf es aus-
    sprechen, daß man ihm mit jener , Geheimtuerei“ nur die Fähigkeit
    zur intellektuellen Bewältigung solcher Leistungen vorenthält, für
    die es psychisch vorbereitet und somatisch eingestellt ist.

    Das intellektuelle Interesse des Kindes für die Rätsel des
    Geschlechtslebens, seine sexuelle WiBbegierde äußert sich denn
    auch zu einer unvermutet frühen Lebenszeit. Es muß wohl so
    zugehen, daß die Eltern für dieses Interesse des Kindes wie
    mit Blindheit geschlagen sind oder sich sofort bemühen, es zu
    ersticken, falls sie es nicht übersehen können, wenn Beobachtungen
    wie die nun mitzuteilenden nicht häufiger gemacht werden können.
    Ich kenne da einen prächtigen Jungen von jetzt vier Jahren,
    dessen verständige Eltern darauf verzichten, ein Stück der Ent-
    wicklung des Kindes gewaltsam zu unterdrücken. Der kleine
    Herbert, der sicherlich keinem verführenden Einflusse von seiten
    einer Warteperson unterlegen ist, zeigt schon seit einiger Zeit
    das lebhafteste Interesse für jenes Stück seines Körpers, das er
    als „Wiwimacher“ zu bezeichnen pflegt. Schon mit drei Jahren
    hat er die Mutter gefragt: „Mama, hast du auch einen Wiwi-
    macher?* Worauf die Mama geantwortet: „Natürlich, was hast
    du denn gedacht?“ Dieselbe Frage hat er zu wiederholten Malen
    an den Vater gerichtet. Im selben Alter zuerst in einen Stall
    geführt, hat er beim Melken einer Kuh zugeschaut und dann

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    verwundert ausgerufen: ,,Schau, aus dem Wiwimacher kommt
    Milch.“ Mit 3%, Jahren ist er auf dem Wege, durch
    seine Beobachtungen selbständig richtige Kategorien zu ent-
    decken. Er sieht, wie aus einer Lokomotive Wasser ausgelassen
    wird, und sagt; „Schau, die Lokomotive macht Wiwi; wo hat
    sie denn den Wiwimacher?“ Später setzt er nachdenklich hinzu :
    „Ein Hund und ein Pferd hat einen Wiwimacher; ein Tisch
    und ein Sessel nicht.“ Vor kurzem hat er zugesehen, wie man
    sein einwächentliches Schwesterchen badet, und dabei bemerkt:
    „Aber ihr Wiwimacher ist noch klein. Wenn sie wächst, wird
    er schon größer werden.“ (Dieselbe Stellung zum Problem der
    Geschlechtsunterschiede ist mir auch von anderen Knaben gleichen
    Alters berichtet worden.) Ich måchte ausdriicklich bestreiten, daB
    der kleine Herbert ein sinnliches oder gar ein pathologisch ver-
    anlagtes Kind sei; ich meine nur, er ist nicht eingeschiichtert
    worden, wird nicht vom SchuldbewuBtsein geplagt und gibt darum
    arglos von seinen Denkvorgingen Kunde.

    Das zweite große Problem, welches dem Denken der Kinder
    — wohl erst in etwas späteren Jahren — Aufgaben stellt, ist
    die Frage nach der Herkunft der Kinder, die zumeist an die
    unerwünschte Erscheinung eines neuen kleinen Bruders oder
    Schwesterchens ankniipft. Es ist dies die Älteste und die
    brennendste Frage der jungen Menschheit; wer Mythen und
    Überlieferungen zu deuten versteht, kann sie aus dem Rätsel
    heraushören, welches die thebaische Sphinx dem Odipus aufgibt.
    Durch die in der Kinderstube gebräuchlichen Antworten wird
    der ehrliche Forschertrieb des Kindes verletzt, meist auch dessen
    Vertrauen zu seinen Eltern zum ersten Male erschiittert; von
    da an beginnt es zumeist, den Erwachsenen zu miBtrauen und
    seine intimsten Interessen vor ihnen geheimzuhalten, Ein kleines
    Dokument mag zeigen, wie quiilend sich gerade diese WiBbegierde
    oft bei älteren Kindern gestaltet, der Brief eines mutterlosen,
    11!/,jährigen Mädchens, welches über das Problem mit seiner
    jüngeren Schwester spekuliert hat:

    „Liebe Tante Mali!“

    „Ich bitte Dich, sei so gut und schreibe mir, wie Du 6
    Christel oder den Paul bekommen haBt. Du mußt es ja wissen,

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    da Du verheiratet bist. Wir haben uns nämlich gestern abend
    dariiber gestritten und wiinschen die Wahrheit zu wissen. Wir
    haben ja sonst niemanden, den wir fragen könnten. Wann
    kommt Ihr denn nach Salzburg? Weißt Du, liebe Tante Mali,
    wir können halt nicht begreifen, wie der Storch die Kinder
    bringt. Trudel hat geglaubt, der Storch bringt sie im Hemde.
    Dann möchten wir auch wissen, ob er sie aus dem Teiche
    nimmt und warum man die Kinder nie im Teiche sieht. Ich
    bitte Dich, sag’ mir auch, wieso man vorher weiß, wann man
    sie bekommt. Schreibe mir darüber ausführlich Antwort.

    Mit tausend Grüßen und Küssen von uns allen

    Deine neugierige Lilli.“

    Ich glaube nicht, daß dieser rührende Brief den beiden
    Schwestern die geforderte Aufklärung brachte. Die Schreiberin
    ist später an jener Neurose erkrankt, die sich von unbeant-
    worteten unbewußten Fragen ableitet, an Zwangsgrübelsucht.

    Ich glaube nicht, daß nur ein einziger Grund vorliegt,
    um Kindern die Aufklärung, nach der ihre Wißbegierde verlangt,
    zu verweigern. Freilich, wenn es die Absicht der Erzieher ist,
    die Fähigkeit der Kinder zum selbständigen Denken möglichst
    frühzeitig zugunsten der so hoch geschätzten „Bravheit“ zu
    ersticken, so kann dies nicht besser als durch Irreführung auf
    sexuellem und durch Einschüchterung auf religiösem Gebiete
    versucht werden. Die stärkeren Naturen widerstehen allerdings
    diesen Beeinflussungen und werden zu Rebellen gegen die elter-
    liche und später gegen jede andere Autorität. Erhalten die
    Kinder jene Aufklärungen nicht, um die sie sich an Altere
    gewendet haben, so quälen sie sich im Geheimen mit dem
    Problem weiter und bringen Lösungsversuche zustande, in denen
    das geahnte Richtige auf die merkwürdigste Weise mit grotesk
    Unrichtigem vermengt ist, oder sie fliistern einander Mitteilungen
    zu, in welchen zufolge des Schuldbewubtseins der jugendlichen
    Forscher dem Sexualleben das Gepriige des GräBlichen und
    Ekelhaften aufgedriickt wird. Diese kindlichen Sexualtheorien
    wären wohl einer Sammlung und Würdigung wert. Meist haben
    die Kinder von diesem Zeitpunkte an die einzig richtige Stellung

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    zu den Fragen des Geschlechtes verloren, und viele unter ihnen
    finden sie überhaupt nicht wieder.

    Es scheint, daß die überwiegende Mehrheit männlicher
    und weiblicher Autoren, welche über die sexuelle Aufklärung
    der Jugend geschrieben haben, sich im bejahenden Sinn ent-
    scheiden. Aber aus dem Ungeschick der meisten Vorschläge,
    wann und wie dies zu geschehen hat, ist man versucht zu
    schließen, daß dies Zugeständnis den Betreffenden nicht leicht
    geworden ist. Ganz vereinzelt steht nach meiner Literatur-
    kenntnis jener reizende Aufklärungsbrief da, den eine Frau
    Emma Eckstein an ihren etwa zehnjährigen Sohn zu schreiben
    vorgibt!). Wie man es sonst macht, daß man den Kindern
    die längste Zeit jede Kenntnis des Sexuellen vorenthält, um
    ihnen dann einmal in schwülstig-feierlichen Worten eine auch
    nur halb aufrichtige Eröffnung zu schenken, die überdies meist
    zu spät kommt, das ist offenbar nicht ganz das Richtige. Die
    meisten Beantwortungen der Frage: „Wie sag’ ich’s meinem
    Kinde?“ machen mir wenigstens einen so kläglichen Eindruck,
    daß ich vorziehen würde, wenn die Eltern sich überhaupt nicht
    um die Aufklärung bekümmern würden. Es kommt vielmehr
    darauf an, daß die Kinder niemals auf die Idee geraten, man
    wolle ihnen aus den Tatsachen des Geschlechtslebens eher ein
    Geheimnis machen als aus anderem, was ihrem Verständnisse
    noch nicht zugänglich ist. Und um dies zu erzielen, ist es
    erforderlich, daß das Geschlechtliche von allem Anfange an
    gleich wie anderes Wissenswerte behandelt werde. Vor allem
    ist es Aufgabe der Schule, der Erwähnung des Geschlechtlichen
    nicht auszuweichen, die großen Tatsachen der Fortpflanzung beim
    Unterrichte über die Tierwelt in ihre Bedeutung einzusetzen
    und sogleich zu betonen, daB der Mensch alles Wesentliche
    seiner Organisation mit den hóheren Tieren teilt. Wenn dann
    das Haus nicht auf Denkabschreckung hinarbeitet, wird es sich
    wohl öfter ereignen, was ich einmal in einer Kinderstube belauscht
    habe, daß ein Knabe seinem jüngeren Schwesterchen vorhült:
    „Aber wie kannst Du denken, daß der Storch die kleinen
    Kinder bringt. Du weißt ja, daß der Mensch ein Säugetier

    !) E. Eckstein, Die Sexualfrage in der Erziehung des Kindes. 1904.

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    ist, und glaubst Du denn, daß der Storch den anderen Säuge-
    tieren die Jungen bringt?“ Die Neugierde des Kindes wird
    dann nie einen hohen Grad erreichen, wenn sie auf jeder Stufe
    des Lernens die entsprechende Befriedigung findet. Die Auf-
    klårung über die spezifisch menschlichen Verhältnisse des
    Geschlechtslebens und der Hinweis auf die soziale Bedeutung
    desselben hätte sich dann am Schlusse des Volksschulunterrichtes
    (und vor Eintritt in die Mittelschule), also nicht nach dem
    Alter von zehn Jahren, anzuschlieBen. Endlich würde sich der
    Zeitpunkt der Konfirmation wie kein anderer dazu eignen, dem
    bereits über alles Kórperliche aufgeklürten Kinde die sittlichen
    Verpflichtungen, welche an die Ausübung des Triebes geknüpft
    sind, darzulegen. Eine solche stufenweise fortschreitende und
    eigentlich zu keiner Zeit unterbrochene Aufklärung über das
    Geschlechtsleben, zu welcher die Schule die Initiative ergreift,
    erscheint mir als die einzige, welche der Entwicklung des
    Kindes Rechnung trägt und darum die vorhandene Gefahr
    glücklich vermeidet.

    Ich halte es für den bedeutsamsten Fortschritt in der
    Kindererziehung, daß der französische Staat an Stelle des
    Katechismus ein Elementarbuch eingeführt hat, welches dem
    Kinde die ersten Kenntnisse seiner staatsbürgerlichen Stellung
    und der ihm dereinst zufallenden ethischen Pflichten vermittelt.
    Aber dieser Elementarunterricht ist in arger Weise unvollständig,
    wenn er nicht das Gebiet des Geschlechtslebens mit umschließt.
    Hier ist die Lücke, deren Ausfüllung Erzieher und Reformer
    in Angriff nehmen sollten! In Staaten, welche die Kinder-
    erziehung ganz oder teilweise in den Händen der Geistlichkeit
    belassen haben, darf man allerdings solche Forderung nicht
    erheben. Der Geistliche wird die Wesensgleichheit von Mensch
    und Tier nie zugeben, da er auf die unsterbliche Seele nicht
    verzichten kann, die er braucht, um die Moralforderung zu
    begründen, So bewährt es sich denn wieder einmal, wie unklug
    es ist, einem zerlumpten Rock einen einzigen seidenen Lappen
    aufzunähen, wie unmöglich es ist, eine vereinzelte Reform durch-
    zuführen, ohne an den Grundlagen des Systems zu ändern!