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į VII.
Zur sexuellen Aufklärung der Kinder”.Offener Brief an Dr. M. Fürst.
Geehrter Herr Kollege!
Wenn Sie von mir eine Äußerung über die „sexuelle Auf-
klärung der Kinder“ verlangen, so nehme ich an, daß Sie keine
regelrechte und förmliche Abhandlung mit Berücksichtigung der
ganzen, über Gebühr angewachsenen Literatur erwarten, sondern
das selbständige Urteil eines einzelnen Arztes hören wollen, dem
seine Berufstätigkeit besondere Anregung geboten hat, sich mit
den sexuellen Problemen zu beschäftigen. Ich weiß, daß Sie
meine wissenschaftlichen Bemühungen mit Interesse verfolgt
haben und mich nicht wie viele andere Kollegen darum ohne
Prüfung abweisen, weil ich in der psychosexuellen Konstitution
und in Schädlichkeiten des Sexuallebens die wichtigsten Ursachen
der so häufigen neurotischen Erkrankungen erblicke; auch meine
„Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, in denen ich die Zu-
sammensetzung des Geschlechtstriebes und die Störungen in der
Entwicklung des Geschlechtstriebes zur Sexualfunktion darlege,
haben kürzlich eine freundliche Erwähnung in Ihrer Zeitschrift
gefunden.Ich soll Ihnen also die Fragen beanworten, ob man den
Kindern überhaupt Aufklärungen über die Tatsachen des Ge-
schlechtslebens geben darf, in welchem Alter dies geschehen
kann und in welcher Weise. Nehmen Sie nun gleich zu Anfang
mein Geständnis entgegen, daß ich eine Diskussion über den
zweiten und dritten Punkt ganz begreiflich finde, daß es aber1) Aus „Soziale Medizin und Hygiene“. Bd. II. 1907.
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für meine Einsicht völlig unfaBbar ist, wie der erste dieser
Fragepunkte ein Gegenstand von Meinungsverschiedenheit werden
konnte. Was will man denn erreichen, wenn man den Kindern
— oder sagen wir: der Jugend — solche Aufklirungen über das
menschliche Geschlechtsleben vorenthält? Fürchtet man, ihr
Interesse fiir diese Dinge vorzeitig zu wecken, ehe es sich in
ihnen selbst regt? Hofft man, durch solche Verhehlung den
Geschlechtstrieb iiberhaupt zuriickzuhalten bis zur Zeit, da er
in die ihm von der bürgerlichen Gesellschaftsordnung allein
geöffneten Bahnen einlenken kann? Meint man, daß die Kinder
fiir die Tatsachen und Rätsel des Geschlechtslebens kein Inter-
esse oder kein Verstindnis zeigten, wenn sie nicht von fremder
Seite darauf hingewiesen würden? Hält man es für möglich,
daß ihnen die Kenntnis, welche man ihnen versagt, nicht auf
anderen Wegen zugeführt wird? Oder verfolgt man wirklich
und ernsthaft die Absicht, daß sie späterhin alles Geschlecht-
liche als etwas Niedriges und Verabscheuenswertes beurteilen
mögen, von dem ihre Eltern und Erzfeher sie so lange als mög-
lich fernhalten wollten?Ich weiß wirklich nicht, in welcher dieser Absichten ich
das Motiv für das tatsächlich geübte Verstecken des Sexuellen
vor den Kindern erblicken soll; ich weiß nur, daß sie alle gleich
töricht sind, und daß es mir schwer fällt, sie durch ernsthafte
Widerlegungen auszuzeichnen, Ich erinnere mich aber, daß ich
in den Familienbriefen des großen Denkers und Menschenfreundes
Multatuli einige Zeilen gefunden habe, die als Antwort mehr
als bloß genügen können!).„Im allgemeinen werden einzelne Dinge nach meinem
Gefühl zu sehr umschleiert. Man tut recht, die Phantasie der
Kinder reinzuhalten, aber diese Reinheit wird nicht bewahrt
durch Unwissenheit. Ich glaube eher, daß das Verdecken von
etwas den Knaben und das Mädchen um so mehr die Wahrheit
argwöhnen läßt. Man spürt aus Neugierde Dingen nach, die
uns, wenn sie uns ohne viel Umstände mitgeteilt würden, wenig
oder kein Interesse einflößen würden. Wäre diese Unwissen-
heit noch zu bewahren, so könnte ich mich damit versöhnen,り Multatuli, Briefe, herausgegeben von W. Spohr, 1906, Bd. I, S. 26.
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aber das ist nicht möglich; das Kind kommt in Berührung mit
anderen Kindern, es bekommt Bücher in die Hände, die es zum
Nachdenken bringen; gerade die Geheimtuerei, womit das dennoch
Begriffene von den Eltern behandelt wird, erhöht das Verlangen,
mehr zu wissen. Dieses Verlangen, nur zum Teil, nur heimlich
befriedigt, erhitzt das Herz und verdirbt die Phantasie, das Kind
siindigt bereits, und die Eltern meinen noch, daß es nicht weiß,
was Sünde ist."Ich weiß nicht, was man hierüber Besseres sagen könnte,
aber vielleicht lit sich einiges hinzufügen. Es ist gewiß nichts
anderes als die gewohnte Prüderie und das eigene schlechte
Gewissen in Sachen der Sexualität, was die Erwachsenen zur
,Geheimtuerei* vor den Kindern veranlaßt; aber möglicher-
weise wirkt da auch ein Stück theoretischer Unwissenheit mit,
dem man durch die Aufklärung der Erwachsenen entgegentreten
kann. Man meint nämlich, daß den Kindern.der Geschlechts-
trieb fehle und sich erst zur Pubertätszeit mit der Reife der
Geschlechtsorgane bei ihnen einstelle. Das ist ein grober, für
die Kenntnis wie für die Praxis folgenschwerer Irrtum. Es ist
so leicht, ihn durch die Beobachtung zu korrigieren, daß man
sich verwundern muß, wie er überhaupt entstehen konnte. In
Wahrheit bringt das Neugeborene Sexualität mit auf die Welt,
gewisse Sexualempfindungen begleiten seine Entwicklung durch
die Säuglings- und Kinderzeiten, und die wenigsten Kinder
dürften sexuellen Betätigungen und Empfindungen vor ihrer
Pubertät entgehen. Wer die ausführliche Darlegung dieser Be-
hauptungen kennen lernen will, möge sie in meinen erwähnten
„Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Wien 1905“ 1) aufsuchen.
Er wird dort erfahren, daß die eigentlichen Reproduktionsorgane
nicht die einzigen Körperteile sind, welche sexuelle Lust-
empfindungen vermitteln, und daß die Natur es recht zwingend
so eingerichtet hat, daß selbst Reizungen der Genitalien während
der Kinderzeit unvermeidlich sind. Man bezeichnet diese Lebens-
zeit, in welcher durch die Erregung verschiedener Hautstellen
(erogener Zonen), durch die Betätigung gewisser biologischer
Triebe und als Miterregung bei vielen affektiven Zuständen ein
gewisser Betrag von sicher sexueller Lust erzengt wird, mit1) 2. Aufl.. 1910.
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einem von Havelock Ellis eingeführten Ausdrucke als die
Periode des Autoerotismus. Die Pubertät leistet nichts
anderes, als daß sie unter allen lusterzeugenden Zonen und
Quellen den Genitalien das Primat verschafft und dadurch die
Erotik in den Dienst der Fortpflanzungsfunktion zwingt, ein
Prozeß, der natürlich gewissen Hemmungen unterliegen kann
und sich bei vielen Personen, den späteren Perversen und
Neurotikern, nur in unvollkommener Weise vollzieht. Anderseits
ist das Kind der meisten psychischen Leistungen des Liebes-
lebens (der Zärtlichkeit, der Hingebung, der Eifersucht) lange
vor erreichter Pubertät fähig, und oft genug stellt sich auch der
Durchbruch dieser seelischen Zustände zu den körperlichen
Empfindungen der Sexualerregung her, so daß das Kind über die
Zusammengehörigkeit der beiden nicht im Zweifel bleiben kann.
Kurz gesagt, das Kind ist lange vor der Pubertät ein bis auf die
Fortpflanzungsfähigkeit fertiges Liebeswesen, und man darf es aus-
sprechen, daß man ihm mit jener , Geheimtuerei“ nur die Fähigkeit
zur intellektuellen Bewältigung solcher Leistungen vorenthält, für
die es psychisch vorbereitet und somatisch eingestellt ist.Das intellektuelle Interesse des Kindes für die Rätsel des
Geschlechtslebens, seine sexuelle WiBbegierde äußert sich denn
auch zu einer unvermutet frühen Lebenszeit. Es muß wohl so
zugehen, daß die Eltern für dieses Interesse des Kindes wie
mit Blindheit geschlagen sind oder sich sofort bemühen, es zu
ersticken, falls sie es nicht übersehen können, wenn Beobachtungen
wie die nun mitzuteilenden nicht häufiger gemacht werden können.
Ich kenne da einen prächtigen Jungen von jetzt vier Jahren,
dessen verständige Eltern darauf verzichten, ein Stück der Ent-
wicklung des Kindes gewaltsam zu unterdrücken. Der kleine
Herbert, der sicherlich keinem verführenden Einflusse von seiten
einer Warteperson unterlegen ist, zeigt schon seit einiger Zeit
das lebhafteste Interesse für jenes Stück seines Körpers, das er
als „Wiwimacher“ zu bezeichnen pflegt. Schon mit drei Jahren
hat er die Mutter gefragt: „Mama, hast du auch einen Wiwi-
macher?* Worauf die Mama geantwortet: „Natürlich, was hast
du denn gedacht?“ Dieselbe Frage hat er zu wiederholten Malen
an den Vater gerichtet. Im selben Alter zuerst in einen Stall
geführt, hat er beim Melken einer Kuh zugeschaut und dannS.
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verwundert ausgerufen: ,,Schau, aus dem Wiwimacher kommt
Milch.“ Mit 3%, Jahren ist er auf dem Wege, durch
seine Beobachtungen selbständig richtige Kategorien zu ent-
decken. Er sieht, wie aus einer Lokomotive Wasser ausgelassen
wird, und sagt; „Schau, die Lokomotive macht Wiwi; wo hat
sie denn den Wiwimacher?“ Später setzt er nachdenklich hinzu :
„Ein Hund und ein Pferd hat einen Wiwimacher; ein Tisch
und ein Sessel nicht.“ Vor kurzem hat er zugesehen, wie man
sein einwächentliches Schwesterchen badet, und dabei bemerkt:
„Aber ihr Wiwimacher ist noch klein. Wenn sie wächst, wird
er schon größer werden.“ (Dieselbe Stellung zum Problem der
Geschlechtsunterschiede ist mir auch von anderen Knaben gleichen
Alters berichtet worden.) Ich måchte ausdriicklich bestreiten, daB
der kleine Herbert ein sinnliches oder gar ein pathologisch ver-
anlagtes Kind sei; ich meine nur, er ist nicht eingeschiichtert
worden, wird nicht vom SchuldbewuBtsein geplagt und gibt darum
arglos von seinen Denkvorgingen Kunde.Das zweite große Problem, welches dem Denken der Kinder
— wohl erst in etwas späteren Jahren — Aufgaben stellt, ist
die Frage nach der Herkunft der Kinder, die zumeist an die
unerwünschte Erscheinung eines neuen kleinen Bruders oder
Schwesterchens ankniipft. Es ist dies die Älteste und die
brennendste Frage der jungen Menschheit; wer Mythen und
Überlieferungen zu deuten versteht, kann sie aus dem Rätsel
heraushören, welches die thebaische Sphinx dem Odipus aufgibt.
Durch die in der Kinderstube gebräuchlichen Antworten wird
der ehrliche Forschertrieb des Kindes verletzt, meist auch dessen
Vertrauen zu seinen Eltern zum ersten Male erschiittert; von
da an beginnt es zumeist, den Erwachsenen zu miBtrauen und
seine intimsten Interessen vor ihnen geheimzuhalten, Ein kleines
Dokument mag zeigen, wie quiilend sich gerade diese WiBbegierde
oft bei älteren Kindern gestaltet, der Brief eines mutterlosen,
11!/,jährigen Mädchens, welches über das Problem mit seiner
jüngeren Schwester spekuliert hat:„Liebe Tante Mali!“
„Ich bitte Dich, sei so gut und schreibe mir, wie Du 6
Christel oder den Paul bekommen haBt. Du mußt es ja wissen,S.
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da Du verheiratet bist. Wir haben uns nämlich gestern abend
dariiber gestritten und wiinschen die Wahrheit zu wissen. Wir
haben ja sonst niemanden, den wir fragen könnten. Wann
kommt Ihr denn nach Salzburg? Weißt Du, liebe Tante Mali,
wir können halt nicht begreifen, wie der Storch die Kinder
bringt. Trudel hat geglaubt, der Storch bringt sie im Hemde.
Dann möchten wir auch wissen, ob er sie aus dem Teiche
nimmt und warum man die Kinder nie im Teiche sieht. Ich
bitte Dich, sag’ mir auch, wieso man vorher weiß, wann man
sie bekommt. Schreibe mir darüber ausführlich Antwort.Mit tausend Grüßen und Küssen von uns allen
Deine neugierige Lilli.“
Ich glaube nicht, daß dieser rührende Brief den beiden
Schwestern die geforderte Aufklärung brachte. Die Schreiberin
ist später an jener Neurose erkrankt, die sich von unbeant-
worteten unbewußten Fragen ableitet, an Zwangsgrübelsucht.Ich glaube nicht, daß nur ein einziger Grund vorliegt,
um Kindern die Aufklärung, nach der ihre Wißbegierde verlangt,
zu verweigern. Freilich, wenn es die Absicht der Erzieher ist,
die Fähigkeit der Kinder zum selbständigen Denken möglichst
frühzeitig zugunsten der so hoch geschätzten „Bravheit“ zu
ersticken, so kann dies nicht besser als durch Irreführung auf
sexuellem und durch Einschüchterung auf religiösem Gebiete
versucht werden. Die stärkeren Naturen widerstehen allerdings
diesen Beeinflussungen und werden zu Rebellen gegen die elter-
liche und später gegen jede andere Autorität. Erhalten die
Kinder jene Aufklärungen nicht, um die sie sich an Altere
gewendet haben, so quälen sie sich im Geheimen mit dem
Problem weiter und bringen Lösungsversuche zustande, in denen
das geahnte Richtige auf die merkwürdigste Weise mit grotesk
Unrichtigem vermengt ist, oder sie fliistern einander Mitteilungen
zu, in welchen zufolge des Schuldbewubtseins der jugendlichen
Forscher dem Sexualleben das Gepriige des GräBlichen und
Ekelhaften aufgedriickt wird. Diese kindlichen Sexualtheorien
wären wohl einer Sammlung und Würdigung wert. Meist haben
die Kinder von diesem Zeitpunkte an die einzig richtige StellungS.
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zu den Fragen des Geschlechtes verloren, und viele unter ihnen
finden sie überhaupt nicht wieder.Es scheint, daß die überwiegende Mehrheit männlicher
und weiblicher Autoren, welche über die sexuelle Aufklärung
der Jugend geschrieben haben, sich im bejahenden Sinn ent-
scheiden. Aber aus dem Ungeschick der meisten Vorschläge,
wann und wie dies zu geschehen hat, ist man versucht zu
schließen, daß dies Zugeständnis den Betreffenden nicht leicht
geworden ist. Ganz vereinzelt steht nach meiner Literatur-
kenntnis jener reizende Aufklärungsbrief da, den eine Frau
Emma Eckstein an ihren etwa zehnjährigen Sohn zu schreiben
vorgibt!). Wie man es sonst macht, daß man den Kindern
die längste Zeit jede Kenntnis des Sexuellen vorenthält, um
ihnen dann einmal in schwülstig-feierlichen Worten eine auch
nur halb aufrichtige Eröffnung zu schenken, die überdies meist
zu spät kommt, das ist offenbar nicht ganz das Richtige. Die
meisten Beantwortungen der Frage: „Wie sag’ ich’s meinem
Kinde?“ machen mir wenigstens einen so kläglichen Eindruck,
daß ich vorziehen würde, wenn die Eltern sich überhaupt nicht
um die Aufklärung bekümmern würden. Es kommt vielmehr
darauf an, daß die Kinder niemals auf die Idee geraten, man
wolle ihnen aus den Tatsachen des Geschlechtslebens eher ein
Geheimnis machen als aus anderem, was ihrem Verständnisse
noch nicht zugänglich ist. Und um dies zu erzielen, ist es
erforderlich, daß das Geschlechtliche von allem Anfange an
gleich wie anderes Wissenswerte behandelt werde. Vor allem
ist es Aufgabe der Schule, der Erwähnung des Geschlechtlichen
nicht auszuweichen, die großen Tatsachen der Fortpflanzung beim
Unterrichte über die Tierwelt in ihre Bedeutung einzusetzen
und sogleich zu betonen, daB der Mensch alles Wesentliche
seiner Organisation mit den hóheren Tieren teilt. Wenn dann
das Haus nicht auf Denkabschreckung hinarbeitet, wird es sich
wohl öfter ereignen, was ich einmal in einer Kinderstube belauscht
habe, daß ein Knabe seinem jüngeren Schwesterchen vorhült:
„Aber wie kannst Du denken, daß der Storch die kleinen
Kinder bringt. Du weißt ja, daß der Mensch ein Säugetier!) E. Eckstein, Die Sexualfrage in der Erziehung des Kindes. 1904.
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ist, und glaubst Du denn, daß der Storch den anderen Säuge-
tieren die Jungen bringt?“ Die Neugierde des Kindes wird
dann nie einen hohen Grad erreichen, wenn sie auf jeder Stufe
des Lernens die entsprechende Befriedigung findet. Die Auf-
klårung über die spezifisch menschlichen Verhältnisse des
Geschlechtslebens und der Hinweis auf die soziale Bedeutung
desselben hätte sich dann am Schlusse des Volksschulunterrichtes
(und vor Eintritt in die Mittelschule), also nicht nach dem
Alter von zehn Jahren, anzuschlieBen. Endlich würde sich der
Zeitpunkt der Konfirmation wie kein anderer dazu eignen, dem
bereits über alles Kórperliche aufgeklürten Kinde die sittlichen
Verpflichtungen, welche an die Ausübung des Triebes geknüpft
sind, darzulegen. Eine solche stufenweise fortschreitende und
eigentlich zu keiner Zeit unterbrochene Aufklärung über das
Geschlechtsleben, zu welcher die Schule die Initiative ergreift,
erscheint mir als die einzige, welche der Entwicklung des
Kindes Rechnung trägt und darum die vorhandene Gefahr
glücklich vermeidet.Ich halte es für den bedeutsamsten Fortschritt in der
Kindererziehung, daß der französische Staat an Stelle des
Katechismus ein Elementarbuch eingeführt hat, welches dem
Kinde die ersten Kenntnisse seiner staatsbürgerlichen Stellung
und der ihm dereinst zufallenden ethischen Pflichten vermittelt.
Aber dieser Elementarunterricht ist in arger Weise unvollständig,
wenn er nicht das Gebiet des Geschlechtslebens mit umschließt.
Hier ist die Lücke, deren Ausfüllung Erzieher und Reformer
in Angriff nehmen sollten! In Staaten, welche die Kinder-
erziehung ganz oder teilweise in den Händen der Geistlichkeit
belassen haben, darf man allerdings solche Forderung nicht
erheben. Der Geistliche wird die Wesensgleichheit von Mensch
und Tier nie zugeben, da er auf die unsterbliche Seele nicht
verzichten kann, die er braucht, um die Moralforderung zu
begründen, So bewährt es sich denn wieder einmal, wie unklug
es ist, einem zerlumpten Rock einen einzigen seidenen Lappen
aufzunähen, wie unmöglich es ist, eine vereinzelte Reform durch-
zuführen, ohne an den Grundlagen des Systems zu ändern!
sksn22
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