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Hysterische Phantasien und ihre Beziehung
zur Bisexualitát).Allgemein bekannt sind die Wahndichtungen der Paranoiker,
welche die Größe und die Leiden des eigenen Ichs zum Inhalt
haben und in ganz typischen, fast monotonen Formen auftreten.Durch zahlreiche Mitteilungen sind uns ferner: die sonderbaren
Veranstaltungen bekannt geworden, unter denen gewisse Perverse
ihre sexuelle Befriedigung — in der Idee ‚oder Realität. 一 in
Szene setzen. Dagegen diirfte es manchen wie eine Neuheit
klingen, zu erfahren, daB ganz analoge psychische Bildungen
bei allen Psychoneurosen, speziell bei Hysterie, regelmäßig vor-
kommen, und daß diese — die sogenannten hysterischen Phan-
tasien — wichtige Beziehungen zur Verursachung der neuroti-
‚schen Symptome erkennen lassen. ⑧Gemeinsame Quelle und normales Vorbild all dieser phan-
tastischen Schopfungen sind die sogenannten Tagtråume der
Jugend, die in der Literatur bereits eine gewisse, obwohl noch
nicht zureichende, Beachtung gefunden haben?). Bei beiden Ge:
schlechtern vielleicht gleich häufig, scheinen sie bei Mädchen.
und Frauen durchweg erotischer, bei Männern erotischer oder
ehrgeiziger Natur zu sein. Doch darf man die Bedeutung des1) Zeitschrift für Sexualwissenschaft, herausgegeben von Hirschfeld,
I, 1908.2) Vgl. Breuer und Freud, Studien über Hysterie, 1895. (3. Aufl. 1916.)
— P. Janet, Névroses et idées fixes, I. (Les réveries subconscientes.) 1898.
— Havelock Ellis, Geschlechtstrieb und Schamgefiihl (deutsch von Kôtscher).
1900. — Freud, Traumdeutung, 1900, 6. Aufl, 1921. — A. Pick, Uber
pathologische Träumerei und ihre Beziehungen zur Hysterie, Jahrbuch für
Psychiatrie und Neurologie, XIV, 1896.S.
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erotischen Momentes auch bei Männern nicht in die zweite Linie
rücken wollen; bei náherem Eingehen in den Tagtraum des
Mannes ergibt sich gewöhnlich, daß all diese Heldentaten nur
verrichtet, alle Erfolge nur errungen werden, um einem Weib
zu gefallen und von ihr anderen Månnern vorgezogen zu werden!).
"Diese Phantasien sind Wunschbefriedigungen, aus der Entbehrung
und der Sehnsucht hervorgegangen; sie führen den Namen
„Tagtriume” mit Recht, denn sie geben den Schlüssel zum Ver-
' stiindnis der nächtlichen Träume, in denen nichts anderes als
'solche komplizierte, entstellte und von der bewußten psychischen
Instanz miBverstandene Tagesphantasien flo Kern der um
bildung herstellen?). -Diese Tagtriume werden mit großem | tordos bee
sorgfältig gepflegt und meist sehr schamhaft behütet, als ob sie
zu den intimsten Gütern der Persönlichkeit zählten. Auf der
Straße erkennt man aber leicht den im Tagtraum Begriffenen
an einem ‚plötzlichen, wie abweseriden Lächeln, am Selbstgesprüch
oder an der laufartigen Beschleunigung des Ganges, womit er
den Höhepunkt der ertråumten Situation bezeichnet. — Alle
hysterischen Anfälle, die ich bisher untersuchen konnte, erwiesen
sich nun als solche unwillkürlich hereinbrechende Tagtråume.
Die Beobachtung läßt nämlich keinen Zweifel darüber, daf es
. solche Phantasien ebensowohl unbewuBt gibt wie bewußt, und
sobald dieselben zu unbewuBien geworden sind, kónnen sie auch
pathogen werden, d. h. sich in Symptomen und Anfillen aus-
drücken. Unter günstigen Umständen kann man eine solche.
unbewuBte Phantasie noch mit dem Bewußtsein erhaschen. Eine
meiner Patientinnen, die ich auf ihre Phantasien aufmerksam
gemacht hatte, erzählte mir, sie habe sich einmal auf der Straße
plötzlich i in Tränen gefunden, und bei raschem Besinnen, worüber
sie eigentlich weine, sei sie der Phantasie habhaft geworden,
daß sie ‘mit einem stadtbekannten (ihr. aber persönlich un-
5 bekannten) Klaviervirtuosen ein zårlliches Verhältnis einge-
gangen sei, ein. Kind von ihm. bekommen habe (sie war kinder-
los), xu dann. mit dem Kinde von ibm im Elend verlassen1) Ahnlich ו hierüber 正 Ellis, lp. 185.
208) A Freud, ו 6. Aufl, p. 385 u. £, 1921.
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AE NETA
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worden sei. An dieser Stelle des Romanes brachen ihre
Tränen aus.Die unbewufiten Phantasien sind entweder von jeher un-
bewußt gewesen, im Unbewuften gebildet worden oder, was
der háufigere Fall ist, sie waren einmal bewußte Phantasien,Taglráume, und sind dann mit Absicht vergessen worden, durch -
die „Verdringung” ins Unbewußte geraten. Ihr Inhalt ist dann
entweder der námliche geblieben oder er hat Abänderungen
erfahren, so da die jetzt unbewuBte Phantasie einen Abkómmling
der einst bewuBten darstellt. Die unbewußte Phantasie steht nun
in einer sehr wichtigen Beziehung zum Sexualleben der Person;
sie ist nåmlich identisch mit der Phantasie, welche derselben
wåhrend einer Periode. von Masturbalion zur sexuellen Be-
friedigung gedient hat. Der masturbatorische (im weitesten Sinne:
onanistische) Akt setzte sich damals aus zwei Stücken zusammen,
aus der Hervorrufung der Phantasie und aus der aktiven Leistung
zur Selbstbefriedigung auf der Hohe derselben. Diese Zusammen-
setzung ist bekanntlich selbst eine Verlötung!). Ursprünglich
war die Aktion eine rein autoerotische Vornahme zur Lust-
gewinnung von einer bestimmten, erogen zu nennenden Körper-stelle. Später verschmolz diese Aktion mit einer Wunschvorstellung -
aus dem Kreise der Objektliebe und diente zur teilweisen
Realisierung der Situation, in welcher diese Phantasie gipfelte.
Wenn dann die Person auf diese Art der masturbatorisch-phantastischen Befriedigung verzichtet, so wird die Aktion unter- |
lassen, die Phantasie aber wird aus einer bewußten zu einer
unbewußten. Tritt keine andere Weise der sexuellen Befriedigung
ein, verbleibt die Person in der Abstinenz und gelingt es ihr
nicht, ihre Libido zu sublimieren, d: h. die sexuelle Erregung
auf ein höheres Ziel abzulenken, so ist jetzt die Bedingung
dafür gegeben, daß die unbewußte Phantasie aufgefrischt werde,
wuchere und sich mit der ganzen Macht des Liebesbedürfnisses
wenigstens in einem Stück ihres Inhaltes als Krankheitssymptom
durchsetze. ; ⑧Für eine ganze Reihe von hysterischen Symptomen sind
solcher Art die unbewuBten Phantasien die nächsten psychischen :
1) Vgl. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. 1905, (4. Aufl., 1921).
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Vorstufen. Die hysterischen Symptome sind nichts anderes als
die durch „Konversion” zur Darstellung gebrachten unbewußten
Phantasien, und insofern es somatische Symptome sind, werden sie
häufig. genug aus dem Kreise der nåmlichen Sexualempfindungen
und motorischen Innervationen entnommen, welche ursprünglich
die damals noch bewußte Phantasie begleitet haben. Auf diese
Weise wird die Onanieentwöhnung eigentlich rückgängig ge-
macht und das Endziel des ganzen pathologischen Vorganges,
die Herstellung der seinerzeitigen primären Sexualbefriedigung,
wird dabei zwar niemals vollkommen, aber immer in einer Art
von Annäherung erreicht.Das Interesse desjenigen, der die Hysterie ue wendet
sich alsbald von den Symptomen derselben ab und den - Phan-
tasien zu, aus welchen erstere hervorgehen. Die Technik der
Psychoanalyse gestattet es, von den Symptomen aus diese un-
bewuBten Phantasien zunächst zu erraten und dann im Kranken
bewußt werden zu lassen. Auf diesem Wege ist nun gefunden
worden, daß die unbewuBlen Phantasien der Hysteriker den be-
wußt durchgeführten Befriedigungssituationen der Perversen in-
haltlich völlig entsprechen, und wenn man um Beispiele solcher
Art verlegen ist, braucht man sich nur an die welthistorischen
Veranstaltungen der römischen Cåsaren zu erinnern, deren Tollheit
natürlich nur durch die uneingeschränkte Machtfülle der Phan-
tasiebildner bedingt ist. Die Wahnbildungen der Paranoiker sind
‘ebensolche, aber unmittelbar bewußt gewordene Phantasien, die
von der masochistisch-sadistischen Komponente des Sexualtriebes
getragen werden und gleichfalls ingewissen unbewuBten Phantasien
der Hysterischen ihre vollen Gegenstiicke finden können. Bekannt
ist übrigens der auch praktisch bedeutsame Fall, daß Hysteriker
ihre Phantasien nicht als Symptome, sondern in bewußter Reali-
sierung zum Ausdrucke bringen und somit Attentate, MiBhand-
lungen, sexuelle Aggressionen fingieren und in Szene setzen.Alles, was man über die Sexualität der Psychoneurotiker
erfahren kann, wird auf diesem Wege, der psychoanalytischen
Untersuchung, der von den aufdringlichen Symptomen zu den
verborgenen unbewußten Phantasien. führt, ermittelt, darunter
also auch das Faktum, dessen Mitteilung in den Vordergrund
dieser kleinen vorläufigen Veröffentlichung gerückt werden soll.S.
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Wahrscheinlich infolge der Schwierigkeiten, die dem Be-
streben der unbewuften Phantasien, sich Ausdruck zu ver-
schaffen, im Wege stehen, ist das Verhältnis der Phantasien zu
den Symptomen kein einfaches, sondern ein mehrfach kom-
pliziertes!). In der Regel, d. h. bei voller Entwicklung und
nach längerem Bestande der Neurose, entspricht ein Symptom
nicht einer einzigen unbewuBten Phantasie, sondern einer Mehr-
zahl von solchen, und zwar nicht in willkürlicher Weise,
sondern in gesetzmäBiger Zusammensetzung. Zu Beginn des
Krankheitsfalles werden wohl nicht alle diese Komplikationen
entwickell sein.
| Dem allgemeinen Interesse zuliebe iiberschreite ich hier
den Zusammenhang dieser Mitteilung und fiige eine Reihe vonFormeln ein, die sich bemühen, das Wesen der hysterischen |
Symptome fortschreitend zu erschôpfen. Sie widersprechen
einander nicht, sondern entsprechen teils vollständigeren undschärferen Fassungen, teils der Anwendung verschiedener.
Gesichtspunkte.
1. Das hysterische Symptom ist das Erinnerungssymbol
. gewisser wirksamer (traumatischer) Eindrücke und Erlebnisse.
2. Das hysterische Symptom ist der durch „Konversion”erzeugte Ersatz får die 'assozialive Wiederkehr dieser trauma- .
tischen Erlebnisse.
8. Das hysterische Symptom ist — wie Sh andere psy-
chische Bildungen — Ausdruck einer Wunscherfüllung. .4. Das hysterische Symptom ist die Realisierung einer der |
Wunscherfiillung dienenden, unbewußten Phantasie.
5. Das hysterische Symptom dient der sexuellen. Boftiodi-
gung und stellt einen Teil des Sexuallebens der Person dar
(entsprechend einer der Komponenten ihres Sexualtriebes).6. Das hysterische Symptom entspricht der Wiederkehr
einer Weise der Sexualbefriedigung, die im infantilen Leben —
real gewesen und seither verdrangt worden ist.
7. Das hysterische Symptom entsteht als KompromiB aus
zwei gegensützlichen Affekt- oder Triebregungen, von denen die?) Das nümliche gilt fiir die Beziehung zwischen ‚den „latenten“ Traum-
gedanken und den Elementen des ,manifesten* Trauminhaltes. S. den Ab-
schnitt über die ,,Traumarbeit in des Verf. »Traumdeutung".ERE ИСА А
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143
eine einen Partialtrieb oder eine Komponente der Sexual-
konstitution zum Ausdrucke zu bringen, die andere dieselbe zu
unterdrücken bemüht ist.8. Das hysterisdhe Symptom kann die ה ver-
schiedener unbewulter, nicht sexueller Regungen übernehmen,
einer sexuellen Bedeutung aber nicht entbehren.Unter diesen verschiedenen Bestimmungen ist es die
siebente, welche das Wesen des hysterischen Symptoms als
Realisierung einer unbewuften Phantasie am erschôpfendsten
zum Ausdrucke bringt und mit der achten die Bedeutung des
- sexuellen Momentes in richtiger Weise würdigt. Manche der
vorhergehenden Formeln sind als Vorstufen in dieser FormelSymptome zur Kenntnis der das Individuum. beherrschenden
Komponenten des Sexualtriebes zu gelangen, wie ich es in den
,Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" ausgeführt habe. Diese
Untersuchung ergibt aber für manche Fille ein unerwartetes
Resultat. Sie zeigt, daß für viele Symptome die Auflösung
durch eine unbewubte sexuelle Phantasie, oder durch eine Reihe
von Phantasien, von denen eine, die bedeutsamste und ursprüng-
lichste, sexueller Natur ist, nicht genügt, sondern daß man zur
Lósung des Symptomes zweier sexueller Phantasien bedarf, von
denen die eine minnlichen, die andere weiblichen Charakter
hat, so daß eine dieser Phantasien einer homosexuellen Regung
entspringt. Der in Formel 7 ausgesprochene Satz wird durch
‚diese Neuheit nicht berührt, so daß ein hysterisches Symptom
notwendigerweise einem Kompromiß zwischen einer libidinôsen
und einer Verdrångungsregung entspricht, nebstbei aber einer
Vereinigung zweier libidinôser Phantasien von entgegengesetztem
Geschlechtscharakter entsprechen kann.Ich enthalte mich, Beispiele fir diesen Satz zu el
. Die Erfahrung hat mich gelehrt, daß kurze, zu einem Extrakt
‚zusammengedrängte Analysen niemals den beweisenden Eindruck
machen können, wegen dessen man sie herangezogen | hat. Die
Mitteilung ‚voll analysierter Krankheitsfälle muß aber für einen
anderen Ort aufgespart werden. iE. enthalten. |
pe Infolge dieses Verhältnisses zwischen Symptomen und
| Phantasien gelingt es unschwer, von der Psychoanalyse derS.
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Ich begniige mich also damit, den Satz aufzustellen und
seine Bedeutung zu erläutern: ⑧9. Ein hysterisches Symptom ist der Ausdruck einerseits
einer männlichen, anderseits einer weiblichen, unbewuften
sexuellen Phantasie.. sIch bemerke ausdrücklich, daß ich diesem Satze eine ühn-
liche Allgemeingültigkeit nicht zusprechen kann, wie ich sie für
die anderen Formeln in Anspruch genommen habe. Er trifft,
soviel ich sehen kann, weder für alle Symptome eines Falles,
‘noch für alle Fille zu. Es ist im Gegenteile nicht schwer,
Fille aufzuzeigen, bei denen die entgegengesetztgeschlechtlichen
Regungen gesonderten symptomatischen Ausdruck gefunden
haben, so daß sich die Symptome der Helero- und der Homo-
sexualität so scharf voneinander scheiden lassen, wie die hinter
ihnen verborgenen Phantasien. Doch ist das in der neunten
Formel behauptete Verhältnis häufig genug, und wo es sich
findet, bedeutsam genug, um eine besondere Hervorhebung zu
verdienen. Es scheint mir die hóchste Stufe der Kompliziertheit,
zu der sich die Determinierung eines hysterischen Symptoms
erheben kann, zu bedeuten, und ist also nur bei langem Bestande
einer Neurose und bei großer Organisationsarbeit innerhalb der-
selben zu erwarteni). ・ .Die in immerhin zahlreichen Fällen nachweisbare bisexuelle
Bedeutung hysterischer Symptome ist gewiß ein interessanter
Beleg für die von mir aufgestellte Behauptung 2), daB die sup-
ponierte bisexuelle Anlage des Menschen sich bei den Psycho-
neurotikern durch Psychoanalyse besonders deutlich erkennen |
lågt. Ein durchaus analoger Vorgang aus dem nåmlichen Ge-
biete ist es, wenn der Masturbant in seinen bewubten Phan-
tasien sich sowohl in den Mann, als auch in das Weib der
vorgestellten Situation einzufühlen versucht, und weitere Gegen-
stücke zeigen gewisse hysterische Anfälle, in denen die Kranke
gleichzeitig beide Rollen der zugrunde liegenden sexuellen Phan- _り J. Sadger, der kürzlich den 'in Rede stehenden Satz durch eigene
Psychoanalysen selbständig aufgefunden hat (Die Bedeutung der psycho-
analytischen Methode nach Freud, Zentralbl. f. Nerv, u. Psych., Nr. 229, 1907)
"tritt allerdings für dessen allgemeine Gültigkeit ein.2) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, I. (4. Aufl, 1921.)
S.
"Bei der psy вовсе |
= daß man auf die bisexuell a eines Sy= bereitet sei. Man braucht sich dann nicht zu verwundern un
nicht irre zu werden, wenn ein Symptom anscheinend ung
. mindert forthesteht, obwohl man die eine seiner sexuellen B= deulungex bereits gelöst hat. Es stützt sich dann noch auf di
_ vielleicht nicht vermutete entgegengesetzt geschlechtliche. Auch
kann man bei der Behandlung solcher Fülle beobachten, wie
der Kranke sich der Bequemlichkeit bedient, wihrend der Analyse
| der einen sexuellen Bedeutung mit seinen Einfållen fortwährend
in das Gebiet der konttären Fem wie auf, ein benachbarte
Geleise, auszuweichen. « DFreud, Neurosenlehre. II, 8, Aufl,
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