Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie 1910-006/1913
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    VIE

    Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen
    Therapie.”

    (Vortrag, gehalten auf dem zweiten PrivatkongreB der Psychoanalytiker
    zu Nürnberg 1910.)

    Meine Herren! Da uns heute vorwiegend praktische Ziele
    zusammengeführt haben, werde auch ich ein praktisches Thema
    zum Gegenstand meines einführenden Vortrages wählen, nicht
    Ihr wissenschaftliches, sondern Ihr ärztliches Interesse anrufen.
    Ich halte mir vor, wie Sie wohl die Erfolge unserer Therapie
    beurteilen, und nehme an, daß die meisten von Ihnen die beiden
    Phasen der Anfängerschaft bereits durchgemacht haben, die
    des Entzückens über die ungeahnte Steigerung unserer thera-
    peutischen Leistung und die der Depression über die Größe
    der Schwierigkeiten, die unseren Bemühungen im Wege stehen.
    Aber an welcher Stelle dieses Entwicklungsganges sich die ein-
    zelnen von Ihnen auch befinden mögen, ich habe heute vor,
    Ihnen zu zeigen, daß wir mit unseren Hilfsmitteln zur Be-
    kämpfung der Neurosen keineswegs zu Ende sind, und daß wir von
    der näheren Zukunft noch eine erhebliche Besserung unserer
    therapeutischen Chancen erwarten dürfen.

    Von drei Seiten her, meine ich, wird uns die Verstärkung
    kommen:

    1. durch innern Fortschritt,

    2. durch Zuwachs an Autorität,

    3. durch die Allgemeinwirkung unserer Arbeit.

    1) Zentralblatt für Psychoanalyse, Bd. I, 1910.

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    Ad 1. Unter ,innerem Fortschritt“ verstehe ich den
    Fortschritt а) in unserem analytischen Wissen, b) in unserer
    Technik.

    a) Zam Fortschritt unseres Wissens: Wir wissen natiir-
    lich lange noch nicht alles, was wir zum Verständnis des Un-
    bewuBten bei unseren Kranken brauchen. Nun ist es klar, daß
    jeder Fortschritt unseres Wissens einen Machtzuwachs fir unsere
    Therapie bedeutet. Solange wir nichts verstanden haben, haben
    wir auch nichts ausgerichtet; je mehr wir verstehen lernen,
    desto mehr werden wir leisten. In ihren Anfängen war die
    psychoanalytische Kur unerbittlich und erschópfend. Der Patient
    mußte alles selbst sagen und die Tätigkeit des Arztes bestand
    darin, ihn unausgesetzt zu drängen. Heute sieht es freundlicher
    aus. Die Kur besteht aus zwei Stücken, aus dem, was der Arzt
    erråt und dem Kranken sagt, und aus der Verarbeitung dessen,
    was er gehört hat, von seiten des Kranken. Der Mechanismus
    unserer Hilfeleistung ist ja leicht zu verstehen; wir geben dem
    Kranken die bewußte Erwartungsvorstellung, nach deren Ahn-
    lichkeit er die verdrängte unbewuBte bei sich auffindet. Das
    ist die intellektuelle Hilfe, die ihm die Uberwindung der Wider-
    stände zwischen Bewultem und UnbewuBtem erleichtert. Ich
    bemerke Ihnen nebenbei, es ist nicht der einzige Mechanismus,
    der in der analytischen Kur verwendet wird; Sie kennen ja
    alle den weit krüftigeren, der in der Verwendung der ,Über-
    tragung^ liegt. Ich werde mich bemühen, alle diese für das
    Verständnis der Kur wichtigen Verhältnisse demnächst in einer
    „Allgemeinen Methodik der Psychoanalyse“ zu behandeln. Auch
    brauche ich bei Ihnen den Einwand nicht zurückzuweisen, daß
    in der heutigen Praxis der Kur die Beweiskraft für die Richtig-
    keit unserer Voraussetzungen verdunkelt wird; Sie vergessen
    nicht, daß diese Beweise anderswo zu finden sind, und daß ein
    therapeutischer Eingriff nicht so geführt werden kann wie eine
    theoretische Untersuchung.

    Lassen Sie mich nun einige Gebiete streifen, auf denen
    wir Neues zu lernen haben und wirklich tüglich Neues erfahren.
    Da ist vor allem das der Symbolik im Traum und im Unbe-
    wubten. Ein hart bestrittenes Thema, wie Sie wissen! Es ist
    kein geringes Verdienst unseres Kollegen W. Stekel, daß er

    Freud, Neurosenlehre. III 19

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    unbekiimmert um den Einspruch all der Gegner sich in das
    Studium der Traumsymbole begeben hat. Da ist wirklich noch
    viel zu lernen; meine 1899 niedergeschriebene „Traumdeutung“
    erwartet vom Studium der Symbolik wichtige Ergånzungen.

    Uber eines dieser neuerkannten Symbole möchte ich Ihnen
    einige Worte sagen: Vor einiger Zeit wurde es mir bekannt,
    daB ein uns ferner stehender Psychologe sich an einen von uns
    mit der Bemerkung gewendet, wir überschätzten doch gewiß die
    geheime sexuelle Bedeutung der Triume. Sein håufigster Traum
    sei, eine Stiege hinauf zu steigen, und da sei doch gewiB nichts
    Sexuelles dahinter. Durch diesen Einwand aufmerksam gemacht,
    haben wir dem Vorkommen von Stiegen, Treppen, Leitern im
    Traume Aufmerksamkeit geschenkt und konnten bald feststellen,
    daß die Stiege (und was ihr analog ist) ein sicheres Koitus-
    symbol darstellt. Die Grundlage der Vergleichung ist nicht
    schwer aufzulinden; in rhythmischen Absätzen, unter zunehmender
    Atemnot kommt man auf eine Hohe und kann dann in ein
    paar raschen Spriingen wieder unten sein. So findet sich der
    Rhythmus des Koitus im Stiegensteigen wieder. Vergessen wir
    nicht den Sprachgebrauch heranzuziehen. Er zeigt uns, daB
    das „Steigen“ ohne weiteres als Ersatzbezeichnung der sexuellen
    Aktion gebraucht wird. Man pflegt zu sagen, der Mann ist ein
    „Steiger“, ,nachsteigen“. Im Französischen heißt die Stufe der
    "Treppe: la marche; ,un vieux marcheur* deckt sich ganz mit
    unserem ,ein alter Steiger*. Das Traummaterial, aus dem diese
    neu erkannten Symbole stammen, wird Ihnen seinerzeit von dem
    Komitee zur Sammelforschung über Symbolik, welches wir ein-
    setzen sollen, vorgelegt werden. Über ein anderes interessantes
    Symbol, das des „Rettens“ und dessen Bedeutungswandel werden
    Sie im zweiten Band unseres Jahrbuches Angaben finden. Aber
    ich muB hier abbrechen, sonst komme ich nicht zu den anderen
    Punkten.

    Jeder einzelne von Ihnen wird sich aus seiner Erfahrung
    überzeugen, wie ganz anders er einem neuen Falle gegenüber-
    steht, wenn er erst das Gefüge einiger typischer Krankheitsfälle
    durchschaut hat. Nehmen Sie nun an, daB wir das Gesetz-
    mäßige im Aufbau der verschiedenen Formen von Neurosen
    in ühnlicher Weise in knappe Formeln gebannt hütten, wie es

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    uns bis jetzt fiir die hysterische Symptombildung gelungen ist,
    wie gesichert würde dadurch unser prognostisches Urteil. Ja,
    wie der Geburtshelfer durch die Inspektion der Placenta
    erfährt, ob sie vollständig ausgestoBen wurde, oder ob noch
    schädliche Reste zuriickgeblieben sind, so würden wir un-
    abhängig vom Erfolg und jeweiligen Befinden des Kranken
    sagen können, ob uns die Arbeit endgültig gelungen ist, oder
    ob wir auf Rückfüle und neuerliche Erkrankung gefaßt sein
    müssen,

    b) Ich eile zu den Neuerungen auf dem Gebiete der
    Technik, wo wirklich das meiste noch seiner definitiven Fest-
    stellung harrt, und vieles eben jetzt klar zu werden beginnt.
    Die psychoanalytische Technik setzt sich jetzt zweierlei Ziele,
    dem Arzt Mühe zu ersparen und dem Kranken den uneinge-
    schränktesten Zugang zu seinem Unbewußten zu eröffnen. Sie
    wissen, in unserer Technik hat eine prinzipielle Wandlung statt-
    gefunden. Zur Zeit der kathartischen Kur setzten wir uns die
    Aufklärung der Symptome zum Ziel, dann wandten wir uns
    von den Symptomen ab und setzten die Aufdeckung der „Kom-
    plexe“ — nach dem unentbehrlich gewordenen Wort von
    Jung — als Ziel an die Stelle; jetzt richten wir aber die Arbeit
    direkt auf die Auffindung und Überwindung der „Widerstände“,
    und vertrauen mit Recht darauf, daß die Komplexe sich mühe-
    los ergeben werden, sowie die Widerstände erkannt und be-
    seitigt sind. Bei manchem von Ihnen hat sich seither das Be-
    dürfnis gezeigt, diese Widerstände übersehen und klassifizieren
    zu können. Ich bitte Sie nun, an Ihrem Material nachzuprüfen,
    ob Sie folgende Zusammenfassung bestätigen können: Bei
    männlichen Patienten scheinen die bedeutsamsten Kurwider-
    stände vom Vaterkomplex auszugehen und sich in Furcht vor
    dem Vater, Trotz gegen den Vater und Unglauben gegen den
    Vater aufzulösen.

    Andere Neuerungen der Technik betreffen die Person des
    Arztes selbst. Wir sind auf die ,Gegenübertragung“ aufmerk-
    sam geworden, die sich beim Arzt durch den Einfluß des Patienten
    auf das unbewußte Fühlen des Arztes einstellt, und sind nicht
    weit davon, die Forderung zu erheben, daß der Arzt diese

    Gegenübertragung in sich erkennen und bewältigen müsse. Wir
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    haben, seitdem eine größere Anzahl von Personen die Psycho-
    analyse üben und ihre Erfahrungen untereinander austauschen,
    bemerkt, daß jeder Psychoanalytiker nur so weit kommt, als seine
    eigenen Komplexe und inneren Widerstände es gestatten, und
    verlangen daher, daß er seine Tätigkeit mit einer Selbstanalyse
    beginne, und diese, während er seine Erfahrungen an Kranken
    macht, fortlaufend vertiefe. Wer in einer solchen Selbstanalyse
    nichts zustande bringt, mag sich die Fähigkeit, Kranke analy-
    tisch zu behandeln, ohne weiteres absprechen.

    Wir nähern uns jetzt auch der Einsicht, daß die analy-
    tische Technik je nach der Krankheitsform und je nach den
    beim Patienten vorherrschenden Trieben gewisse Modifikationen
    erfahren muß. Von der Therapie der Konversionshysterie sind
    wir ja ausgegangen; bei der Angsthysterie (den Phobien) müssen
    wir unser Vorgehen etwas ändern. Diese Kranken können näm-
    lich das für die Auflösung der Phobie entscheidende Material
    nicht bringen, solange sie sich durch die Einhaltung der phobi-
    schen Bedingung geschützt fühlen. Daß sie von Anfang der
    Kur an auf die Schutzvorrichtung verzichten und unter den
    Bedingungen der Angst arbeiten, erreicht man natürlich nicht.
    Man muß ihnen also so lange Hilfe durch Übersetzung ihres
    „UnbewuBten zuführen, bis sie sich entschließen können, auf den
    Schutz der Phobie zu verzichten und sich einer, nun sehr ge-
    mäßigten, Angst aussetzen. Haben sie das getan, so wird jetzt
    erst das Material zugänglich, dessen Beherrschung zur Lösung
    der Phobie führt. Andere Modifikationen der Technik, die mir
    noch nicht spruchreif scheinen, werden in der Behandlung der
    Zwangsneurosen erforderlich sein. Ganz bedeutsame, noch nicht
    geklärte, Fragen tauchen in diesem Zusammenhange auf, inwie-
    weit den bekämpften Trieben des Kranken ein Stück Befriedi-
    gung während der Kur zu gestatten ist, und welchen Unter-
    schied es dabei macht, ob diese Triebe aktiver (sadistischer)
    oder passiver (masochistischer) Natur sind.

    Ich hoffe, Sie werden den Eindruck erhalten haben, daß
    wenn wir all das wüDten, was uns jetzt erst ahnt, und alle Ver-
    besserungen der Technik durchgeführt haben werden, zu denen
    uns die vertiefte Erfahrung an unseren Kranken führen muß,
    daß unser ärztliches Handeln dann eine Präzision und Erfolg-

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    sicherheit erreichen wird, die nicht auf allen ärztlichen Spezial-
    gebieten vorhanden sind.

    Ad 2. Ich sagte, wir hätten viel zu erwarten durch den
    Zuwachs an Autorität, der uns im Laufe der Zeit zufallen muß.
    Uber die Bedeutung der Autoritiit brauche ich Ihnen nicht viel
    zu sagen. Die wenigsten Kulturmenschen sind fihig, ohne An-
    lehnung an andere zu existieren oder auch nur ein selbstindiges
    Urteil zu fällen. Die Autoritätssucht und innere Haltlosigkeit
    der Menschen können Sie sich nicht arg genug vorstellen. Die
    außerordentliche Vermehrung der Neurosen seit der Entkråftung
    der Religionen mag Ihnen einen Maßstab dafür geben. Die
    Verarmung des Ich durch den großen Verdrängungsaufwand,
    den die Kultur von jedem Individuum fordert, mag eine der
    hauptsächlichsten Ursachen dieses Zustandes sein.

    Diese Autoritit und die enorme von ihr ausgehende Sug-
    gestion war bisher gegen uns. Alle unsere therapeutischen Er-
    folge sind gegen diese Suggestion erzielt worden; es ist zu ver-
    wundern, daß unter solchen Verhältnissen überhaupt Erfolge
    zu gewinnen waren. Ich will mich nicht so weit gehen lassen,
    Ihnen die Annehmlichkeiten jener Zeiten, da ich allein die
    Psychoanalyse vertrat, zu schildern. Ich weiß, die Kranken,
    denen ich die Versicherung gab, ich wüßte ihnen dauernde Ab-
    hilfe ihrer Leiden zu bringen, sahen sich in meiner bescheidenen
    Umgebung um, dachten an meinen geringen Ruf und Titel und
    betrachteten mich wie etwa einen Besitzer eines unfehlbaren Ge-
    winnsystems an dem Orte einer Spielbank, gegen den man ein-
    wendet, wenn der Mensch das kann, so muß er anders aus-
    sehen. Es war auch wirklich nicht bequem, psychische Opera-
    tionen auszuführen, während der Kollege, der die Pflicht der
    Assistenz gehabt hätte, sich ein besonderes Vergnügen daraus
    machte, ins Operationsfeld zu spucken, und die Angehörigen den
    Operateur bedrohten, sobald es Blut oder unruhige Bewegungen
    bei der Kranken gab. Eine Operation darf doch Reaktions-
    erscheinungen machen; in der Chirurgie sind wir längst daran
    gewöhnt. Man glaubte mir einfach nicht, wie man heute
    noch uns allen wenig glaubt; unter solchen Bedingungen mußte
    mancher Eingriff mißlingen. Um die Vermehrung unserer thera-
    peutischen Chancen zu ermessen, wenn sich das allgemeine Ver-

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    trauen uns zuwendet, denken Sie an die Stellung des Frauen-
    arztes in der Türkei und im Abendlande. Alles, was dort der
    Frauenarzt tun darf, ist, an dem Arm, der ihm durch ein Loch
    in der Wand entgegengestreckt wird, den Puls zu fühlen. Einer
    solchen Unzugänglichkeit des Objektes entspricht auch die ärzt-
    liche Leistung; unsere Gegner im Abendlande wollen uns eine
    ungefähr ähnliche Verfügung über das Seelische unserer Kranken
    gestatten. Seitdem aber die Suggestion der Gesellschaft die
    kranke Frau zum Gynäkologen drängt, ist dieser der Helfer
    und Retter der Frau geworden. Sagen Sie nun nicht, wenn uns
    die Autorität der Gesellschaft zu Hilfe kommt und unsere Er-
    folge so sehr steigert, so wird dies nichts für die Richtigkeit
    - unserer Voraussetzungen beweisen. Die Suggestion kann angeb-
    lich alles und unsere Erfolge werden dann Erfolge der Sug-
    gestion sein und nicht der Psychoanalyse. Die Suggestion der
    Gesellschaft kommt doch jetzt den Wasser-, Diät- und elektri-
    schen Kuren bei Nervösen entgegen, ohne daß es diesen Maß-
    nahmen gelingt, die Neurosen zu bezwingen. Es wird sich
    zeigen, ob die psychoanalytischen Behandlungen mehr zu leisten
    vermögen.

    Nun muß ich aber Ihre Erwartungen allerdings wieder
    dämpfen. Die Gesellschaft wird sich nicht beeilen, uns Autori-
    tät einzuräumen. Sie muß sich im Widerstande gegen uns be-
    finden, denn wir verhalten uns kritisch gegen sie; wir weisen
    ihr nach, daß sie an der Verursachung der Neurosen selbst
    einen großen Anteil hat. Wie wir den einzelnen durch die Auf-
    deckung des in ihm Verdrängten zu unserem Feinde machen,
    so kann auch die Gesellschaft die rücksichtslose Bloßlegung
    ihrer Schäden und Unzulänglichkeiten nicht mit sympathischem
    Entgegenkommen beantworten; weil wir Illusionen zerstören,
    wirft man uns vor, daß wir die Ideale in Gefahr bringen. So
    scheint es also, daß die Bedingung, von der ich eine so große
    Förderung unserer therapeutischen Chancen erwarte, niemals
    eintreten wird. Und doch ist die Situation nicht so trostlos,
    wie man jetzt meinen sollte. So mächtig auch die Affekte und
    die Interessen der Menschen sein mögen, das Intellektuelle ist
    doch auch eine Macht. Nicht gerade diejenige, welche sich
    zuerst Geltung verschafft, aber um so sicherer am Ende. Die

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    einschneidendsten Wahrheiten werden endlich gehört und aner-
    kannt, nachdem die durch sie verletzten Interessen und die
    durch sie geweckten Affekte sich ausgetobt haben. Es ist bis-
    her noch immer so gegangen, und die unerwiinschten Wahr-
    heiten, die wir Psychoanalytiker der Welt zu sagen haben,
    werden dasselbe Schicksal finden. Nur wird es nicht sehr rasch
    geschehen; wir müssen warten können.

    Ad 3. Endlich muß ich Ihnen erklären, was ich unter
    der „Allgemeinwirkung“ unserer Arbeit verstehe, und wie ich
    dazu komme, Hoffnungen auf diese zu setzen. Es liegt da eine
    sehr merkwürdige therapeutische Konstellation vor, die sich im
    gleicher Weise vielleicht nirgendwo wiederfindet, die Ihnen
    auch zunächst befremdlich erscheinen wird, bis Sie etwas längst
    Vertrautes in ihr erkennen werden. Sie wissen doch, die Psycho-
    neurosen sind entstellte Ersatzbefriedigungen von Trieben, deren
    Existenz man vor sich selbst und vor den anderen verleugnen
    muß. Ihre Existenzfähigkeit ruht auf dieser Entstellung und
    Verkennung. Mit der Lösung des Rätsels, das sie bieten, und
    der Annahme dieser Lösung durch die Kranken werden diese
    Krankheitszustände existenzunfähig. Es gibt kaum etwas Ähn-
    liches in der Medizin; in den Märchen hören Sie von bösen
    Geistern, deren Macht gebrochen ist, sobald man ihnen ihren
    geheim gehaltenen Namen sagen kann.

    Nun setzen sie an die Stelle des einzelnen Kranken die
    ganze an den Neurosen krankende, aus kranken und gesunden
    Personen bestehende Gesellschaft, an Stelle der Annahme der
    Lösung dort die allgemeine Anerkennung hier, so wird Ihnen
    eine kurze Überlegung zeigen, daß diese Ersetzung am Er-
    gebnis nichts zu ändern vermag. Der Erfolg, den die Therapie
    beim einzelnen haben kann, muß auch bei der Masse eintreten.
    Die Kranken können ihre verschiedenen Neurosen, ‚ihre ängst-
    liche Überzärtlichkeit, die den Haß verbergen soll, ihre Agora-
    phobie, die von ihrem enttäuschten Ehrgeiz erzählt, ihre Zwangs-
    handlungen, die Vorwürfe wegen und Sicherungen gegen böse
    Vorsiitze darstellen, nicht bekannt werden lassen, wenn allen
    Angehörigen und Fremden, vor denen sie ihre Seelenvorgänge
    verbergen wollen, der allgemeine Sinn der Symptome bekannt
    ist, und wenn sie selbst wissen, daß sie in den Krankheits-

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    erscheinungen nichts produzieren, was die anderen nicht sofort
    zu deuten verstehen. Die Wirkung wird sich aber nicht auf
    das 一 übrigens häufig undurchführbare 一 Verbergen der
    Symptome beschränken; denn durch dieses Verbergenmiissen
    wird das Kranksein unverwendbar. Die Mitteilung des Geheim-
    nisses hat die „ätiologische Gleichung“, aus welcher die Neu-
    rosen hervorgehen, an ihrem heikelsten Punkte angegriffen, sie
    hat den Krankheitsgewinn illusorisch gemacht, und darum kann
    nichts anderes als die Einstellung der Krankheitsproduktion
    die endliche Folge der durch die Indiskretion des Arztes ver-
    änderten Sachlage sein.

    Erscheint Ihnen diese Hoffnung utopisch, so lassen Sie
    sich daran erinnern, daß Beseitigung neurotischer Phänomene
    auf diesem Wege wirklich bereits vorgekommen ist, wenngleich
    in ganz vereinzelten Fällen. Denken Sie daran, wie häufig in
    früheren Zeiten die Halluzination der heiligen Jungfrau bei
    Bauernmädchen war. Solange eine solche Erscheinung einen
    großen Zulauf von Gläubigen, etwa noch die Erbauung einer
    Kapelle am Gnadenorte zur Folge hatte, war der visionüre Zu-
    stand dieser Mädchen einer Beeinflussung unzugünglich. Heute
    hat selbst die Geistlichkeit ihre Stellung zu diesen Erscheinungen
    verändert; sie gestattet, daß der Gendarm und der Arzt die
    Visionürin besuchen, und seitdem erscheint die Jungfrau nur
    Sehr selten. Oder gestatten Sie, daß ich dieselben Vorgänge,
    die ich vorhin in die Zukunft verlegt habe, an einer analogen,
    aber erniedrigten und darum leichter übersehbaren Situation
    mit Ihnen studiere. Nehmen Sie an, ein aus Herren und Damen
    der guten Gesellschaft bestehender Kreis habe einen Tages-
    ausflug nach einem im Grünen gelegenen Wirtshause verabredet.
    Die Damen haben miteinander ausgemacht, wenn eine von ihnen
    ein natürliches Bedürfnis befriedigen wolle, so werde sie laut
    sagen: sie gehe jetzt Blumen pflücken; ein Boshafter sei aber
    hinter dieses Geheimnis gekommen und habe auf das gedruckte
    und an die Teilnehmer verschickte Programm setzen lassen:
    Wenn die Damen auf die Seite gehen wollen, mögen sie sagen,
    sie gehen Blumen pflücken. Natürlich wird keine der Damen
    mehr sich dieser Verblümung bedienen wollen, und ebenso er-
    Schwert werden ähnliche neu verabredete Formeln sein. Was

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    wird die Folge sein? Die Damen werden sich ohne Scheu zu
    ihren natiirlichen Bediirfnissen bekennen, und keiner der Herren
    wird daran Anstoß nehmen. Kehren wir zu unserem ernst-
    hafteren Falle zuriick. So und so viele Menschen haben sich in
    Lebenskonflikten, deren Lösung ihnen allzu schwierig wurde, in
    die Neurose geflüchtet und dabei einen unverkennbaren, wenn
    auch auf die Dauer allzu kostspieligen Krankheitsgewinn er-
    zielt. Was werden diese Menschen tun miissen, wenn ihnen die
    Flucht in die Krankheit durch die indiskreten Aufklirungen
    der Psychoanalyse versperrt wird? Sie werden ehrlich sein
    müssen, sich zu den in ihnen rege gewordenen Trieben be-
    kennen, im Konflikt standhalten, werden kämpfen oder ver-
    zichten, und die Toleranz der Gesellschaft, die sich im Gefolge
    der psychoanalytischen Aufklärung unabwendbar einstellt, wird
    ihnen zu Hilfe kommen.

    Erinnern wir uns aber, daß man dem Leben nicht als
    fanatischer Hygieniker oder Therapeut entgegentreten darf. Ge-
    stehen wir uns ein, daß diese ideale Verhütung der neurotischen
    Erkrankungen nicht allen einzelnen zum Vorteil gereichen wird.
    Eine gute Anzahl derer, die sich heute in die Krankheit fliichten,
    wiirde unter den von uns angenommenen Bedingungen den
    Konflikt nicht bestehen, sondern rasch zugrunde gehen oder
    ein Unheil anstiften, welches größer ist als ihre eigene neu-
    rotische Erkrankung. Die Neurosen haben eben ihre biologische
    Funktion als Schutzvorrichtung und ihre soziale Berechtigung;
    ihr ,Krankheitsgewinn“ ist nicht immer ein rein subjektiver.
    Wer von Ihnen hat nicht schon einmal hinter die Verursachung
    einer Neurose geblickt, die er als den mildesten Ausgang unter
    allen Möglichkeiten der Situation gelten lassen mußte? Und
    soll man wirklich gerade der Ausrottung der Neurosen so
    ‚schwere Opfer bringen, wenn doch die Welt voll ist von an-
    derem unabwendbarem Elend ?

    Sollen wir also unsere Bemühungen zur Aufklärung über
    den geheimen Sinn der Neurotik als im letzten Grunde ge-
    fihrlich fiir den einzelnen und schädlich für den Betrieb der
    Gesellschaft aufgeben, darauf verzichten, aus einem Stück wissen-
    schaftlicher Erkenntnis die praktische Folgerung zu ziehen?
    Nein, ich meine, unsere Pflicht geht doch nach der anderen

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    Richtung. Der Krankheitsgewinn der Neurosen ist doch im
    ganzen und am Ende eine Schädigung fiir die einzelnen wie
    für die Gesellschaft. Das Unglück, das sich infolge unserer
    Aufklirungsarbeit ergeben kann, wird doch nur einzelne be-
    treffen. Die Umkehr zu einem wahrheitsgemüDeren und wiirdi-
    geren Zustand der Gesellschaft wird mit diesen Opfern nicht
    zu teuer erkauft sein. Vor allem aber: alle die Energien, die
    sich heute in der Produktion neurotischer Symptome im Dienste
    einer von der Wirklichkeit isolierten Phantasiewelt verzehren,
    werden, wenn sie schon. nicht dem Leben zugute kommen
    können, doch den Schrei nach jenen Veränderungen in unserer
    Kultur verstärken helfen, in denen wir allein das Heil für die
    Nachkommenden erblicken können.

    So möchte ich Sie denn mit der Versicherung entlassen,
    daß Sie in mehr als einem Sinne Ihre Pflicht tun, wenn Sie
    Ihre Kranken psychoanalytisch behandeln. Sie arbeiten nicht
    nur im Dienste der Wissenschaft, indem Sie die einzige und
    nie wiederkehrende Gelegenheit ausniitzen, die Geheimnisse der
    Neurosen zu durchschauen; Sie geben nicht nur Threm Kranken
    die wirksamste Behandlung gegen seine Leiden, die uns heute
    zu Gebote steht; Sie leisten auch Ihren Beitrag zu jener Auf-
    klärung der Masse, von der wir die griindlichste Prophylaxe der
    neurotischen Erkrankungen auf dem Umwege über die gesell-
    schaftliche Autorität erwarten.