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VIII.
Uber „wilde“ Psychoanalyse.”Vor einigen Tagen erschien in meiner Sprechstunde in
Begleitung einer schützenden Freundin eine ältere Dame, die
über Angstzustände klagte. Sie war in der zweiten Hälfte der
Vierzigerjahre, ziemlich gut erhalten, hatte offenbar mit ihrer
Weiblichkeit noch nicht abgeschlossen. Anlaß des Ausbruches
der Zustände war die Scheidung von ihrem letzten Manne; die
Angst hatte aber nach ihrer Angabe eine ‚erhebliche Steigerung
erfahren, seitdem sie einen jungen Arzt in ihrer Vorstadt kon-
sultiert hatte; denn dieser hatte ihr auseinandergesetzt, daß die
Ursache ihrer Angst ihre sexuelle Bedürftigkeit sei. Sie könne
den Verkehr mit dem Manne nicht entbehren, und darum gebe
es für sie nur drei Wege zur Gesundheit, entweder sie kehre
zu ihrem Manne zurück, oder sie nehme einen Liebhaber, oder
sie befriedige sich selbst. Seitdem sei sie überzeugt, daß sie
unheilbar sei, denn zu ihrem Manne zurück wolle sie nicht, und
die beiden anderen Mittel widerstreben ihrer Moral und ihrer
Religiosität. Zu mir aber sei sie gekommen, weil der Arzt ihr
gesagt habe, das sei eine neue Einsicht, die man mir verdanke,
und sie solle sich nur von mir die Bestätigung holen, daß es
so sei und nicht anders. Die Freundin, eine noch ältere, ver-
kümmert und ungesund aussehende Frau, beschwor mich dann,
der Patientin zu versichern, daß sich der Arzt geirrt habe. Es
könne doch nicht so sein, denn sie selbst sei seit langen Jahren
Witwe und doch anständig geblieben, ohne an Angst zu leiden.Ich will nicht bei der schwierigen Situation verweilen, in
die ich durch diesen Besuch versetzt wurde, sondern das Ver-1) Zentralblatt für Psychoanalyse, Bd. I, 1910.
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halten des Kollegen beleuchten, der diese Kranke zu mir ge-
schickt hatte. Vorher will ich einer Verwahrung gedenken, die
vielleicht — oder hoffentlich — nicht überflüssig ist. Lang-
jährige Erfahrung hat mich gelehrt — wie sie’s auch jeden
anderen lehren könnte — -nicht leichthin als wahr anzunehmen,
was Patienten, insbesondere Nervöse, von ihrem Arzt erzählen.
Der Nervenarzt wird nicht nur bei jeder Art von Behandlung
leicht das Objekt, nach dem mannigfache feindselige Regungen
des Patienten zielen; er muß es sich auch manchmal gefallen
lassen, durch eine Art von Projektion die Verantwortung für
die geheimen verdrängten Wünsche des Nervösen zu überneh-
men. Es ist dann eine traurige, aber bezeichnende Tatsache, daß
solche Anwürfe nirgendwo leichter Glauben finden als bei an-
deren Ärzten.Ich habe also das Recht zu hoffen, daß die Dame in
meiner Sprechstunde mir einen tendenziös entstellten Bericht
von den Äußerungen ihres Arztes gegeben hat, und daß ich
ein Unrecht an ihm, der mir persönlich unbekannt ist, begehe,
wenn ich meine Bemerkungen über „wilde“ Psychoanalyse ge-
rade an diesen Fall anknüpfe. Aber ich halte dadurch vielleicht
andere ab, an ihren Kranken unrecht zu tun.Nehmen wir also an, daß der Arzt genau so gesprochen
hat, wie mir die Patientin berichtete,Es wird dann jeder leicht zu seiner Kritik vorbringen,
daß ein Arzt, wenn er es für notwendig hält, mit einer Frau
über das Thema der Sexualität zu verhandeln, dies mit Takt
und Schonung tun müsse, Aber diese Anforderungen fallen mit
der Befolgung gewisser technischer Vorschriften der Psycho-
analyse zusammen, und überdies hätte der Arzt eine Reihe von
wissenschaftlichen Lehren der Psychoanalyse verkannt oder
mißverstanden und dadurch gezeigt, wie wenig weit er zum
Verständnis von deren Wesen und Absichten vorgedrungen ist.Beginnen wir mit den letzteren, den wissenschaftlichen
Irrtümern. Die Ratschläge des Arztes lassen klar erkennen, in
welchem Sinne er das „Sexualleben“ erfaßt. Im populären näm-
lich, wobei unter sexuellen Bedürfnissen nichts anderes ver-
standen wird als das Bedürfnis nach dem Koitus oder analogen,
den Orgasmus und die Entleerung der Geschlechtsstoffe bewir-S.
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kenden Vornahmen. Es kann aber dem Arzt nicht unbekannt
geblieben sein, daß man der Psychoanalyse den Vorwurf zu
machen pflegt, sie dehne den Begriff des Sexuellen weit über
den gebräuchlichen Umfang aus. Die Tatsache ist richtig; ob
sie als Vorwurf verwendet werden darf, soll hier nicht erörtert
werden. Der Begriff des Sexuellen umfaßt in der Psychoanalyse
weit mehr; er geht nach unten wie nach oben über den popu-
láren Sinn hinaus. Diese Erweiterung rechtfertigt sich gene-
tisch; wir rechnen zum ,Sexualleben* auch alle Betitigungen
zårtlicher Gefühle, die aus der Quelle der primitiven sexuellen
Regungen hervorgegangen sind, auch wenn diese Regungen
eine Hemmung ihres urspriinglich sexuellen Zieles erfahren oder
dieses Ziel gegen ein anderes, nicht mehr sexuelles, vertauscht
haben. Wir sprechen darum auch lieber von Psychosexua-
lität, legen so Wert darauf, daß man den seelischen Faktor
des Sexuallebens nicht übersehe und nicht unterschätze. Wir
gebrauchen das Wort Sexualitit in demselben umfassenden
Sinne wie die deutsche Sprache das Wort „lieben“. Wir wissen
auch längst, daß seelische Unbefriedigung mit allen ihren
Folgen bestehen kann, wo es an normalem Sexualverkehr nicht
mangelt, und halten uns als Therapeuten immer vor, daß von
den unbefriedigten Sexualstrebungen, deren Ersatzbefriedigungen
in der Form nerväser Symptome wir bekämpfen, oft nur ein
geringes MaB durch den Koitus oder andere Sexualakte abzu-
führen ist.Wer diese Auffassung der Psychosexualitåt nicht teilt, hat
kein Recht, sich auf die Lehrsütze der Psychoanalyse zu be-
rufen, in denen von der iitiologischen Bedeutung der Sexualitiit
gehandelt wird. Er hat sich durch die ausschließliche Betonung
des somatischen Faktors am Sexuellen das Problem gewiß sehr
vereinfacht, aber er mag fiir sein Vorgehen allein die Verant-
wortung tragen.Aus den Ratschliigen des Arztes leuchtet noch ein zweites
und ebenso arges MiDverstündnis hervor.Es ist richtig, daB die Psychoanalyse angibt, sexuelle Un-
befriedigung sei die Ursache der nervósen Leiden. Aber sagt
sie nicht noch mehr? Will man als zu kompliziert beiseite
lassen, daß sie lehrt, die nervósen Symptome entspringen ausS.
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einem Konflikt zwischen zwei Mächten, einer (meist übergroß
gewordenen) Libido und einer allzu strengen Sexualablehnung
oder Verdrängung? Wer auf diesen zweiten Faktor, dem wirklich
nicht der zweite Rang angewiesen wurde, nicht vergiBt, wird
nie glauben können, daß Sexualbefriedigung an sich ein all-
gemein verläßliches Heilmittel gegen die Beschwerden der Ner-
vosen sei. Ein guter Teil dieser Menschen ist ja der Befriedi-
gung unter den gegebenen Umständen oder überhaupt nicht
fähig. Wären sie dazu fähig, hätten sie nicht ihre inneren
Widerstände, so würde die Stärke des Triebes ihnen den Weg
zur Befriedigung weisen, auch wenn der Arzt nicht dazu raten
würde. Was soll also ein solcher Rat, wie ihn der Arzt angeb-
lich jener Dame erteilt hat?Selbst wenn er sich wissenschaftlich rechtfertigen läßt, ist
er unausführbar für sie. Wenn sie keine inneren Widerstünde
gegen die Onanie oder gegen ein Liebesverhåltnis hätte, würde
sie ja längst zu einem von diesen Mitteln gegriffen haben. Oder
meint der Arzt, eine Frau von über 40 Jahren wisse nichts
davon, daß man sich einen Liebhaber nehmen kann, oder über-
schützt er seinen Einfluß so sehr, daß er meint, ohne årztliches
GutheiBen würde sie sich nie zu einem solchen Schritt ent-
schließen können?Das scheint alles sehr klar, und doch ist zuzugeben, daß
es ein Moment gibt, welches die Urteilsfällung oft erschwert.
Manche der nervösen Zustände, die sogenannten Aktual-
neurosen wie die typische Neurasthenie und die reine Angst-
neurose, hängen offenbar von dem somatischen Faktor des
Sexuallebens ab, während wir über die Rolle des psychischen
Faktors und der Verdrängung bei ihnen noch keine gesicherte
Vorstellung haben. In solchen Fällen ist es dem Arzte nahe-
gelegt, eine aktuelle Therapie, eine Veränderung der somatischen
sexuellen Betätigung, zunächst ins Auge zu fassen, und er tut
dies mit vollem Recht, wenn seine Diagnose richtig war. Die
Dame, die den jungen Arzt konsultierte, klagte vor allem über
Angstzustände, und da nahm er wahrscheinlich an, sie leide an
Angstneurose, und hielt sich für berechtigt, ihr eine somati-
sche Therapie zu empfehlen. Wiederum ein bequemes Mißver-
ständnis! Wer an Angst leidet, hat darum nicht notwendig eineS.
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Angstneurose; diese Diagnose ist nicht aus dem Namen abzu-
leiten; man muß wissen, welche Erscheinungen eine Angst-
neurose ausmachen, und sie von anderen, auch durch Angst
manifestierten Krankheitszustinden unterscheiden. Die in Rede
stehende Dame litt nach meinem Eindruck an einer Angst-
hysterie, und der ganze, aber auch voll zureichende Wert
solcher nosographischer Unterscheidungen liegt darin, daß sie
auf eine andere Ätiologie und andere Therapie hinweisen. Wer
die Möglichkeit einer solchen Angsthysterie ins Auge gefaßt
hätte, der wäre der Vernachlässigung der psychischen Faktoren,
wie sie in den Alternativratschlägen des Arztes hervortritt,
nicht verfallen.Merkwürdig genug, in dieser therapeutischen Alternative
des angeblichen Psychoanalytikers bleibt kein Raum — für die
Psychoanalyse. Diese Frau soll von ihrer Angst nur genesen
können, wenn sie zu ihrem Manne zurückkehrt oder sich auf
dem Wege der Onanie oder bei einem Liebhaber befriedigt.
Und wo hätte die analytische Behandlung einzutreten, in der
wir das Hauptmittel bei Angstzuständen erblicken?Somit wären wir zu den technischen Verfehlungen gelangt,
die wir in dem Vorgehen des Arztes im angenommenen Falle
erkennen. Es ist eine längst überwundene, am oberflächlichen
Anschein haftende Auffassung, daß der Kranke infolge einer
Art von Unwissenheit leide, und wenn man diese Unwissenheit
durch Mitteilung (über die ursächlichen Zusammenhänge seiner
Krankheit mit seinem Leben, über seine Kindheitserlebnisse
usw.) aufhebe, müsse er gesund werden, Nicht dies Nichtwissen
an sich ist das pathogene Moment, sondern die Begründung
des Nichtwissens in inneren Widerständen, welche das
Nichtwissen zuerst hervorgerufen haben und es jetzt noch unter-
halten. In der Bekämpfung dieser Widerstände liegt die Auf-
gabe der Therapie. Die Mitteilung dessen, was der Kranke
nicht weiß, weil er es verdrängt hat, ist nur eine der notwen-
digen Vorbereitungen für die Therapie. Wäre das Wissen des
Unbewußten für den Kranken so wichtig wie der in der Psycho-
analyse Unerfahrene glaubt, so müßte es zur Heilung hinreichen,
wenn der Kranke Vorlesungen anhört oder Bücher liest. Diese
Maßnahmen haben aber ebensoviel Einfluß auf die nervösenS.
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Leidenssymptome wie die Verteilung von Menukarten zur Zeit
einer Hungersnot auf den Hunger. Der Vergleich ist sogar
über seine erste Verwendung hinaus brauchbar, denn die Mit-
teilung des UnbewuDten an den Kranken hat regelmäßig die
Folge, daB - der Konflikt in ihm verschärft wird und die Be-
schwerden sich steigern.Da die Psychoanalyse aber eine solche Mitteilung nicht
entbehren kann, schreibt sie vor, daß sie nicht eher zu erfolgen
habe, als bis zwei Bedingungen erfüllt sind. Erstens bis der
Kranke durch Vorbereitung selbst in die Nähe des von ihm
Verdriingten gekommen ist, und zweitens, bis er sich so weit an
den Arzt attachiert hat (Übertragung), daß ihm die Geftihls-
beziehung zum Arzt die neuerliche Flucht unmöglich macht.Erst durch die Erfüllung dieser Bedingungen wird es
möglich, die Widerstände, welche zur Verdrängung und zum
Nichtwissen geführt haben, zu erkennen und ihrer Herr zu
werden. Ein psychoanalytischer Eingriff setzt also durchaus
einen längeren Kontakt mit dem Kranken voraus, und Ver-
suche, den Kranken durch die brüske Mitteilung seiner vom
Arzt erratenen Geheimnisse beim ersten Besuch in der Sprech-
stunde zu überrumpeln, sind technisch verwerflich und strafen
sich meist dadurch, daß sie dem Arzt die herzliche Feindschaft
des Kranken zuziehen und jede weitere Beeinflussung abschneiden.Ganz abgesehen davon, daß man manchmal falsch rät und
niemals imstande ist, alles zu erraten. Durch diese bestimmten
technischen Vorschriften ersetzt die Psychoanalyse die Forderung
des unfaßbaren „ärztlichen Taktes“, in dem eine besondere Be-
gabung gesucht wird.Es reicht also für den Arzt nicht hin, einige der Ergeb-
nisse der Psychoanalyse zu kennen; man muß sich auch mit
ihrer Technik vertraut gemacht haben, wenn man sein ärzt-
liches Handeln durch die psychoanalytischen Gesichtspunkte
leiten lassen will. Diese Technik ist heute noch nicht aus Bü-
chern zu erlernen und gewiß nur mit großen Opfern an Zeit,
Miihe und Erfolg selbst zu finden. Man erlernt sie wie andere
ärztliche Techniken bei denen, die sie bereits beherrschen. Es
ist darum gewiß für die Beurteilung des Falles, an den ich
diese Bemerkungen kniipfe, nicht gleichgültig, daß ich den Arzt,S.
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der solche Ratschläge gegeben haben soll, nicht kenne und
seinen Namen nie gehort habe.Es ist weder mir noch meinen Freunden und Mitarbeitern
angenehm, in solcher Weise den Anspruch auf die Ausübung
einer ärztlichen Technik zu monopolisieren. Aber angesichts der
Gefahren, die die vorherzusehende Übung einer „wilden“ Psycho-
analyse fiir die Kranken und fiir die Sache der Psychoanalyse
mit sich bringt, blieb uns nichts anderes iibrig. Wir haben im
Frühjahr 1910 einen internationalen psychoanalytischen Verein
gegründet, dessen Mitglieder sich durch Namensverôffentlichung
zu ihm bekennen, um die Verantwortung fiir das Tun aller
jener ablehnen zu können, die nicht zu uns gehören und ihr
ärztliches Vorgehen „Psychoanalyse“ heißen. Denn in Wahrheit
schaden solche wilde Analytiker doch der Sache mehr als dem
einzelnen Kranken. Ich habe es häufig erlebt, daß ein so un-
geschicktes Vorgehen, wenn es zuerst eine Verschlimmerung im
Befinden des Kranken machte, ihm am Ende doch zum Heile
gereicht hat. Nicht immer, aber doch oftmals. Nachdem er lange
genug auf den Arzt geschimpft hat und sich weit genug von seiner
Beeinflussung weiß, lassen dann seine Symptome nach, oder er
entschließt sich zu einem Schritt, welcher auf dem Wege zur
Heilung liegt. Die endliche Besserung ist dann „von selbst“
eingetreten oder wird der höchst indifferenten Behandlung eines
Arztes zugeschrieben, an den sich der Kranke später gewendet
hat. Für den Fall der Dame, deren Anklage gegen den Arzt
wir gehört haben, möchte ich meinen, der wilde Psychoanalytiker
habe doch mehr für seine Patientin getan als irgend eine hoch-
angesehene Autorität, die ihr erzählt hätte, daß sie an einer
„vasomotorischen Neurose“ leide. Er hat ihren Blick auf die
wirkliche Begründung ihres Leidens oder in dessen Nähe ge-
zwungen, und dieser Eingriff wird trotz alles Sträubens der
Patientin nicht ohne günstige Folgen bleiben. Aber er hat sich
selbst geschädigt und die Vorurteile steigern geholfen, welche
sich infolge begreiflicher Affektwiderstände bei den Kranken
gegen die Tätigkeit des Psychoanalytikers erheben. Und dies
kann vermieden werden.20
Freud, Neurosenlehre. III.
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