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Ther „wilde“ Psychoanalyse? -
| Vor einigen Tagen erschien in meiner Sprechstunde in
Begleitung einer schützenden Freundin eine ältere Dame, die
- über Angstzustände klagte. Sie war in der zweiten Hälfte der
„Vierzigerjahre, ziemlich gut erhalten, hatte offenbar mit ihrer
Weiblichkeit noch nicht abgeschlossen. Anlaß des AusbruchesAngst hatte aber nach ihrer Angabe eine erhebliche Steigerung
erfahren, seitdem sie einen jungen Arzt in ihrer Vorstadt kon-
. sultiert hatte; denn dieser hatte ihr auseinandergesetzt, daß dieden Verkehr mit dem Manne nicht entbehren, und darum gebe
es fir sie nur drei Wege zur Gesundheit, entweder sie kehre
zu ihrem Manne. zuriick, oder sie nehme einen Liebhaber, oderdie beiden anderen Mittel widerstreben ihrer Moral und ihrer
Religiositåt. Zu mir aber sei sie gekommen, weil der Arzt ihr
gesagt habe, das sei eine neue Einsicht, die man mir verdanke,
und sie solle sich nur von mir die Bestätigung holen, dab es
80 sei und "nicht. anders. Die Freundin, eine noch ältere, ver:
= kümmert und ungesund àussehende Frau, beschwor mich dann,
= "der Patientin zu versichern, daB sich der Arzt geirrt habe, Es
71:01:16 doch nicht so sein, denn sie selbst. sei seit langen Jahren
Witwe und doch anständig geblieben, ohne an Angst zu leiden,Ich will nicht bei der schwierigen Situation verweilen, in
x die ich durch diesen Besuch versetz wurde, sondern das Ver-Bi
Dー 4) Zentralblatt für Psychoanalyse, Bd. I, 1910.
der Zustinde war die Scheidung von ihrem letzten Manne; die
. Ursache ihrer Angst ihre sexuelle Bediirftigkeit sei. Sie könne
sie befriedige sich selbst. Seitdem sei sie überzeugt, daß sie ·
'unheilbar sei, denn zu ihrem Manne zurück wolle sie nicht, und |4
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halten des Kollegen beleuchten, der diese Kranke zu mir ge-
schickt hatte. Vorher will ich einer Verwahrung gedenken, die
vielleicht — oder hoffentlich 一 nicht überflüssig ist. Lang-
jährige Erfahrung hat mich gelehrt — wie sie’s auch jeden
anderen lehren könnte — nicht leichthin als wahr anzunehmen,
was Patienten, insbesondere Nervöse, von ihrem Arzt erzählen.
Der Nervenarzt wird nicht nur bei jeder Art von Behandlung
leicht das Objekt, nach dem mannigfache feindselige Regungen
“des Patienten ‚zielen; er mu es sich auch manchmal gefallen
lassen, durch eine Art von Projektion die Verantwortung fiir
die geheimen verdringten Wünsche des Nervôsen zu iiberneh-
men. Hs ist dann eine traurige, aber bezéichnende Tatsache, daß
solche Anwürfe nirgendwo leichter Glauben finden als bei an-
deren Arzten. :
Ich habe also dé Recht zu hoffen, dab die Dame in
meiner Sprechstunde mir einen tendenziôs entstellten Bericht
von den Äußerungen ihres Arztes gegeben hat, und daß ich
ein Unrecht an ihm, der mir persönlich unbekannt ist, begehe,
wenn ich meine Bemerkungen über „wilde“ Psychoanalyse ge-
rade an diesen Fall ankniipfe. Aber ich halte dadurch vielleicht
andere ab, an ihren Kranken unrecht, zu tun. |
Nehmen: wir also an, daß der Arzt genaw so gesprochen
hat, wie mir die Patientin berichtete. s
Es wird dann jeder leicht/ zu seiner Kritik vorbringen,
daß ein Arzt, wenn er es für notwendig hilt, mit einer Frau
über das Thema der Sexualität zu verhandeln, dies mit Takt
und Schonung tun müsse. Aber diese Anforderungen fallen mit
der Befolgung gewisser technischer Vorschriften der Psycho-
analyse zusammen, und überdies hätte der Arzt eine Reihe von.
wissenschaftlichen Lehren der Psychoanalyse verkannt oder
miBverstanden und dadurch gezeigt, wie wenig weit er zum |
Verständnis von deren Wesen und Absichten vorgedrungen ist.
Beginnen. wir mit den letzteren, den wissenschaftlichen |
Irrtiimern. Die Ratschläge des Arztes lassen klar erkennen, in
welchem Sinne er das ,Sexualleben* erfaßt, Im populären näm-
lich, wobei unter sexuellen Bedürfnissen nichts anderes ver-.
, standen wird als das Bedürfnis nach dem Koitus oder analogen;
den Orgasmus und die Entleerung der Geschlechtsstoffe bewir-S.
sU kenden Vornahmen. | Es kann aber dem Arzt nicht unbekannt
R geblieben sein, daß man der Psychoanalyse | den Vorwurf zu2 machen pflegt, sie dehne den Begriff des Sexuellen - "weit über
EC dar gebräuchlichen Umfang aus. Die Tatsache ist richtig; ob |oral werden. Der Begriff des Sexuellen umfaßt in der Psychoanalyse C
i = ו syeik mehr; er. geht. nach unten wie nach oben über den popu-
EU Türen Sinn hinaus. ^ Diese Erweiterung rechtfertigt , sich gene-isch; wir rechnen zum „Sexualleben* auch alle: ‘Betätigungen
Do Gefühle, die aus der Quelle der primitiven mien
Regungen hervorgegangen sind, auch wenn diese Regungen
“eine Hemmung ihres urspriinglich sexuellen Zieles erfahren. oder
dieses Ziel gegen ein anderes, nicht mehr sexuelles, xertauscht
| haben. Wir. sprechen darum auch lieber von. Psychosexua-
ditát, legen so Wert darauf, daß man den seelischen. Faktor —
“des Sexuallehers nicht übersehe und" "nieht. unterschätze. Wir
gebrauchen das Wort Sexualitit in demselben umfassenden
Sinne wie die deutsche Sprache das Wort „lieben“. Wir. wissen |
i auch längst, daß seelische | bet КИ КЕ, mit allen ihrenmangelt, und halten uns als Therapeuten immer vor, dab) vor
' ^ den unbefriedigten Sexualstrebungen, deren Ersatzbefriedigungen
in der Form nervôser Symptome wir bekämpfen, oft nur ein *
D , geringes Maß durch den Koitus oder andere a abzu-
på führen ist. © | :
Wer Fe Auffassung de Payeliosexualitit nicht teilt, hatma rufen, in denen von der ütiologischen Bedeutung. der, Sexnålitiit
| ndelt wird. Er. hat sich durch die ausschließliche Betonung
somatischen Faktors ‘am Sexuellen das Problem gewiß. sehr -
Y vereinfacht, aber er GE OM sein Verena allein' die Veri. ל
^^ wortung Gagen. | || M |
· "Aus den Ratschlägen ‘des O leuchtet nach ein ‚zweites
a ebenso arges MiBverstindnis hervor. i 4
· Es ist richtig, daß die Psychoanalyse, SIDE AO Un-
4 befriedigung sei die Ursache ‚der nervösen Leiden, Aber sagt |
sie nicht noch mehr? Will man als zu kompliziert beiseitelassen, daß sie lehrt, die nervüsen SEL "entspringen aus
“sie als Vorwurf verwendet werden darf, soll hier nicht erörtert. met
Folgen ו kann, wo es an normalem Sexualverkehr nicht :
kein "Recht, sich auf die Lehrsütze der Psychoanalyse | zu bes ||
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einem Konflikt zwischen zwei Mächten, einer (meist übergroß
gewordenen) Libido und einer allzu strengen Sexualablehnung
7 oder Verdrängung? Wer auf diesen zweiten Faktor, dem wirklich
" nicht der zweite Rang angewiesen wurde, nicht vergißt, wird
nie glauben können, daß Sexualbefriedigung an sich ein all-
gemein verläBliches, Heilmittel gegen die Beschwerden der Ner-— vósen sei. Ein guter Teil dieser Menschen ist ja der Befriedi-
gung unter den gegebenen Umständen oder überhaupt nicht à
fähig. Wären sie dazu fähig, hätten sie nicht ihre inneren
Widerstände, so würde die Stärke des Triebes ihnen den Weg
zur Befriedigung weisen, auch wenn der Arzt nicht dazu raten
würde. Was soll also ein soleher Rat, wie ihn der Arzt angeb- —
lich jener Dame ‚erteilt hat?Selbst wenn er sich wissenschaftlich rechtfertigen läBt, ist
„er unausführbar für sie, Wenn sie keine inneren Widerstände
gegen die Onanie oder gegen ein Liebesverhiiltnis hätte, würde
sie ja längst zu einem von diesen Mitteln gegriffen haben. Oder -
meint der _ Arzt, eine Frau von über 40 Jahren wisse nichts
davon, daß man sich einen Liebhaber nehmen kann, oder über-
schätzt er seinen Einfluß so sehr, daß er meint, ohne ärztliches
GutheiBen würde sie sich nie qu. einem solchen Schritt ent-
schließen können? SEDas scheint alles sehr klar, und doch ist zuzugeben, daß |
es ein Moment gibt, welches die Urteilsfållung 010 erschwert. '
Manche der nervüsen Zustände, die sogenannten Aktual- き
neurosen wie die typische. Neurasthenie und die reine Angst- ⑧
neurose, hängen offenbar von dem somatischen Faktor des
Sexuallebens ab, während wir über die Rolle des psychischen |
, Faktors und dar Verdringung bei ihnen noch keine gesicherte
Vorstellung haben. Tn solchen Fällen ist es dem Arzte nahe-
gelegt, eme aktuelle Therapie, eine Veränderung der somatischen
‚sexuellen. Betätigung, zunächst ins Auge zu fassen, | und er tub on
dies mit vollem Recht, wenn seine Diagnose richtig war. Die :
. Dame, die den jungen Arzt "konsultierte, klagte vor allem über
- Angstzustinde, und da nahm er wahrscheinlich an, sie leide an 4
Angstneurose, und hielt sich für berechtigt, ihr eine somati-
sche Therapie · zu empfehlen. Wiederum ein bequemes. Mifver-
stindnis! MU an DEVI leidet, hat darum nicht notwendig einer ⑧YU
S.
Angstneurose; diese Diagnose ist nicht aus dem Namen abzu-
leiten; man muß wissen, welche Erscheinungen eine Angst-
neurose ausmachen, und. sie von anderen, auch durch Angst
manifestierten Krankheitszustinden unterscheiden. Die in Rede |‚stehende Dame litt nach meinem Eindruck an einer Angst-
hysterie, und der ganze, aber auch voll zurcichende Wert
solcher nosographischer Unterscheidungen liegt darin, daß sie
auf eine andere Ätiologie und andere Therapie hinweisen. Wer
die Möglichkeit einer ‚solchen Angsthysterie ins Auge gefaßt
‚hätte, der wäre der Vernachlässigung der psychischen Faktoren,
wie sie in den Altona yratachlägen: des Arztes hervortritt,
nicht verfallen. ⑥Merkwiirdig genug, in dieser therapeutischen Al formative
des angeblichen Psychoanalytikers bleibt kein Raum — fiir die
Psychoanalyse. Diese Frau soll von ihrer Angst nur genesen
können, wenn sie zu ihrem Manne zurückkehrt oder sich auf
dem Wege der Onanie oder, bei einem Liebhaber befriedigt.
Und wo hätte die analytische Behandlung einzutreten, in der
wir das Hauptmittel bei Angstzuständen erblicken? -Somit wären. wir zu den technischen Verfehlungen gelangt,
die wir in dem Vorgehen des Arztes im angenommenen Falle
erkennen, Es ist eine längst überwundene, am oberfliichlichen |
Anschein haftende Auffassung, daß der Kranke infolge einer `
Art von "Unwissenheit leide, und wenn man diese Unwissenheit
durch Mitteilung (über die ursåchlichen Zusammenhänge seiner
Krankheit mit seinem Leben, über seine Kindheitserlebnisse
usw.) aufhebe, müsse er gesund werden. Nicht dies Nichtwissen
an sich ist das pathogene Moment, sondern die Begründung‚des Nichtwissens in inneren Widerständen, welche ‚das
| Nichtwissen zuerst hervorgerufen haben und es jetzt noch unter-
AE halten. «In der Bekämpfung dieser Widerstände liegt die Auf-
| gabe der Therapie. Die Mitteilung dessen, was der Krankenicht weiß, weil er es verdrängt hat, ist nur eine der notwen-
digen Vorbereitungen für die Therapie. Wäre das Wissen des
UnbewuBten für den Kranken so "wichtig wie der in der Psycho-
analyse Unerfahrene glaubt, so müßte es zur Heilung hinreichen,
wenn der Kranke Vorlesungen anhört oder Bücher liest. Diese
Maßnahmen haben aber ebensoviel Einfluß auf die: nervüsenS.
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Leidenssymptome wie die Verteilung von Menukarten zur Zeit
einer Hungersnot auf den Hunger. Der Vergleich ist sogar
über seine erste Verwendung hinaus brauchbar, denn die Mit-
teilung. des Unbewußten an den Kranken hat regelmäßig die
Folge, daß der Konflikt in ihm verschärft wird und die Be-
schwerden sich steigern,Da die' Psychoanalyse aber eine solche Mittamune nicht
entbehren kann, schreibt sie vor, daß, sie nicht eher zu erfolgen
habe, als bis zwei Bedingungen erfüllt sind. Erstens bis der
Kranke durch Vorbereitung selbst in die Nihe des von ihm
Verdringten gekommen ist, und zweitens, bis er sich so weit an
den Arzt attachiert hat (Ubertragung), daß ihm die Gefühls-
beziehung zum Arzt die neuerliche Flucht unmöglich macht.Erst durch die Erfüllung dieser Bedingungen wird es
möglich, die Widerstände, welche zur Verdrängung und zum
Nichtwissen geführt haben, zu erkennen und ihrer Herr zu
werden. Ein psychoanalytischer ‘Eingriff setzt also durchauseinen längeren Kontakt mit dem Kranken voraus, und Ver- 」
suche, den Kranken durch die briiske Mitteilung seiner vom
Arzt erratenen Geheimnisse beim ersten Besuch in der Sprech-
stunde‘ zu überrumpeln, sind technisch verwerflich und strafen
sich meist dadurch, daß sie dem Arzt die herzliche Feindschaft“des Kranken zuziehen und jede weitere Beeinflussung abschneiden.
Ganz abgesehen davon, daß man manchmal falsch rät und
niemals imstande ist, alles zu erraten. Durch diese bestimmten
technischen Vorschriften ersetzt die Psychoanalyse die Forderung
des unfaDbáren „ärztlichen Taktes“, in dem eine besondere Be-
gabung gesucht wird.+ Es reicht also für den Arzt nicht hin, einige der Ergeb-
nisse. der Psychoanalyse zu kennen; man muß sich auch mit
ihrer Technik vertraut. gemacht haben, wenn man sein árzt-
liches Handeln durch die psychoanalytischen Gesichtspunkte
leiten lassen will Diesé Technik ist heute noch nicht aus Bü-
chern zu erlernen und gewiß nur mit großen Opfern an Zeit,
Mühe und Erfolg selbst zu finden. Man erlernt sie wie andere
ärztliche Techniken bei denen, die sie bereits beherrschen, Es
ist darum gewiß für die Beurteilung des Falles, an den ich
diese Bemerkungen knüpfe, nicht gleichgültig, daß ich den Arzt,S.
A : X 305
‚der solche "Ratsoblåge' gegeben haben soli, nicht 11504 und -
« seinen Namen nie gehórt habe. у
| Es ist weder mir noch meinen Freunden und Mitarbeitern _
angenehm, in solcher Weise den Anspruch auf die Ausübung
" einer ärztlichen Technik zu monopolisieren. Aber angesichts der
Gefahren, die die vorherzusehende Übung einer „wilden“ Psycho- |
analyse für die Kranken und fiir did Sache der Psychoanalyse e (11
mit sich bringt, blieb uns nichts anderes übrig. Wir haben im И!
i “einen internationalen psychoanalytischen Verein ||
rindet, dessen Mitglieder sich durch Namensveróffentlichung
ihm | bekennen, | um die Verantwortung für das Tun aller
ner ablehnen zu können, die nicht zu uns gehören und ihr
‚ ärztliches "Vorgehen „Psychoanalyse“ heißen. Denn in Wahrheit t
schaden solche wilde Analytiker doch der Sache mehr als dem
einzelnen Kranken. “Ich habe es häufig erlebt, daß ein so un-
g>schicktes Vorgehen, wenn es zuerst eine Verschlimmerung im
Batinden des Kranken machte, ihm am Ende doch zum Heile
, gereicht hat. Nicht immer, aber doch oftmals. Nachdem er lange
| genug auf den Arzt gesehimpft hat und sich weit genug von seiner
⑧ Beeinflussung weiß, lassen dann seine Symptome nach, oder er sen
entschließt sich zu einem Schritt, welcher auf dem Wege zur. à
EC Heilung legt. Die endliche Bose! ung ist dann „von selbst“ |
_ eingetreten oder wird der hüchst indifferenten Behandlung eines.
p. Arztes zugeschrieben, an den sich der Kranke später gewendet ,
hat. Fir den Fall der Dame, deren Anklage gegen den Arzt
wir se haben, möchte ich meinen, der wilde Psychoanalytiker
habe doch mehr für seine Patientin getan als irgend eine hoch-
- angeschone Antoritit, die ihr erzählt ‘hätte, daß sie an einer ⑥
. »vasomotorischen Neurose“ leide. Er hat ihren Blick auf die rs
wirkliche Begründung ‚ihres Leidens oder in dessen Nähe ge- «
zwungen, 」 ‘und dieser Eingriff wird trotz alles Sträubens der
Patientin nicht ohne günstige Folgen bleiben. Aber er hat ‘sich
selbst geschädigt‘ und die Vorurteile steigern geholfen, welche
“sich infolge begreiflicher Affektwiderstinde bei den Kranken == =.
: gegen | die Tätigkeit des Ne ייאש Und dies |
kann vermieden. verden. i« ME : : ⑪ れn
⑦
| Freud, Neuroseniehre III. |
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