S.
SÅ IX.
"Über neurotische Erkrankungstypen”.
In den nachstehenden Sätzen soll auf Grund empirisch‘ -
gewonnener Eindrücke dargestellt werden, welche Veränderungen.
der Bedingungen dafür maßgebend sind, daß bei den hiezu:
Disponierten eine neurotische Erkrankung zum Ausbruch komme.
Es handelt sich also um die Frage der Krankheitsveranlassun-
gen; von den Krankheitsformen wird wenig die Rede sein. Von. anderen Zusammenstellungen. der Erkrankungsanlåsse wird sich
) diese durch den einen Charakter unterscheiden, ‚daß sie die auf-
zuzRhlenden Veränderungen sämtlich auf die Libido des Indivi-
duums ne Die Schicksale der Libido erkannten wir jaheit, oder Krankheit. Auch über den Begriff der Disposition ist
in diesem Zusammenhange kein Wort zu verlieren. Gerade die |
psychoanalytische Forschung hat uns ‚ermöglicht; die neurotische |
« Disposition in der Entwicklungsgeschichte der Libido nachzu- )
weisen und die in ihr wirksamen Faktoren auf" mitgeborene A
. Varietäten: der sexuellen Konstitution und in der frühen Kind-,
‚heit erlebte: Einwirkungen der Außenwelt zurückzuführen.
a) Der nächstliegende, am leichtesten auffindbare und am
besten verständliche‘ Anlaß zur neurotischen Erkrankung liegt
in jenem äußeren Moment vor, welches allgemein als die Ver-
| sagung beschrieben werden kann. Das Individuum war ‚gesund,
_ solange 'seine Liebesbedürftigkeit . durch ein reales Objekt | der o
|| Außenwelt befriedigt wurde; es wird. nenrotisch, sobald ibm |
| dieses ses Objekt entzogen wird, ohne. daß. sich ein Ersatz dafür
| findet. Glück falle hier mit Gesundheit, Tu mit Tu3 Zentralblatt fir Peychoanalyse, Bd. I, 1912. |
S.
307
- . züsammen, Die Heilung fällt dem Schicksal, welches ftr die
E verlorene Befriedigungsmøgliehkeit einen Ersatz Schenken kann,
leichter als dem Arzte. i
Für diesen Typus, an dem wohl die Mehrzahl der Men-
schen Anteil hat, beginnt die Erkrankungsmöglichkeit also erst
. mit der Abstinenz, woraus man ermessen kann, wie bedeutungs-
⑧ voll die kulturellen Einschränkungen der zugänglichen Befriedi-
2 gung fiir die Veranlassung der Neurosen sein mögen, Die Ver-
sagung wirkt dadurch pathogen, daß sie die Libido aufstaut‚Wege es einschlagen wird, sich ihrer zu ‘entledigen. Es gibt
"..'. > mur zwei Möglichkeiten, sich bei anhaltender realer Versagung
| der Befriedigung gesund zu erhalten, erstens, indem man die
25, psychische Spannung in tatkräftige Energie umsetzt, welche der
_ Außenwelt zugewendet bleibt und endlich eine reale Befriedi-
gung der Libido von ihr erzwingt; und zweitens, indem man
auf die libidinöse Befriedigung verzichtet, die aufgestaute Libide
sublimiert und zur Erreichung von Zielen verwendet, die nicht
mehr erotische sind und der Versagung entgehen. Daß beide
Möglichkeiten in den Schicksalen der Menschen zur Verwirkli-
chung kommen, beweist uns, daß Unglück nicht mit Neurose
zusammentällt, und daß die Versagung nicht allein über Gesund-
heit oder Erkrankung der Betroffenen entscheidet. Die Wirkung
"der Versagung liegt zunächst darin, daß sie die bis dahin un-
. wirksamen dispositionellen Momente zur Geltung bringt. |
; Wo diese in geniigend starker Ausbildung vorhanden sind,
ー besteht ‘die Gefahr, daß die Libido introvertiert werde), Sie
. wendet sich von der Realität ab, welche durch die hartnäckige
Versagung an Wert für das Individuum verloren hat, wendet
sich dem Phantasieleben zu, in welchem sie neue Wunsch-
+ bildungen schafft und die Spuren früherer, vergessener Wunsch- _
‘bildungen wiederbelebt, ‚Infolge des innigen Zusammenhanges
der Phantasietitigkeit mit dem in jedem Individuum vorhandenen
infantilen, verdrängten und: unbewuBt gewordenen Material und
dank der Ausnahmsstellung gegen die Realitütsprüfung, die dem
1) Nach einen: von C, G, Jung eingeführten Terminus,
i à 20%und nun das Individuum auf die Probe stellt, wie lange es |
| diese Steigerung der psychischen Spannung ertragen, und welche |ヽ
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308
Phantasieleben eingeräumt, ist), kann die Libido nun weiter
rückläufig werden, auf dem Wege. der Regression infantile
Bahnen auffinden und ihnen entsprechende Ziele anstreben.
Wenn diese Strebungen, die mit dem aktuellen Zustand der
Individualität unvertråglich sind, genug Intensität erworben
haben, muf es zum Konflikt zwischen ihnen. und dem andern
Anteil der Persönlichkeit kommen, welcher in Relation zur
Realifit geblieben ist. Dieser Konflikt wird durch Symptom:
bildungen gelöst und geht in manifeste Erkrankung aus. Daß
der ganze Prozeß von der realen Versagung ausgegangen ist,
spiegelt sich in dem Ergebnis wider, daß die Symptome, mit
denen der Boden der Realität wieder erreicht wird, Ersatz-
befriedigungen darstellen. — . ^ } i
— の Der zweite Typus der Erkrankungsveranlassung is
keineswegs so augenfillig wie der erste und konnte wirklich
"erst. durch eindringende analytische Studien im Anschluß an |
die Komplexlehre der Züricher Schule aufgedeckt werden"),
Das Individuum erkrankt hier nicht infolge einer Verånderung
in der Außenwelt, welche an die Stelle der, Befriedigung die |
Versagung gesetzt hat, sondern infolge einer inneren Bemiihung, |
um sich die in der Realität zugängliche Befriedigung zu holen.
Es erkrankt an dem Versuch, sich der Realität anzupassen ши
die Realforderung zu erfüllen, wobei es auf unüberwindliche
innere Schwierigkeiten stößt, . . | VISITS UEM
| Es empfiehlt sich, die beiden Ærkrankungstypen scharf
gegeneinander abzusetzen, schärfer, als es die Beobachtung zu- -
meist gestattet, Beim ersten Typus drängt sich eine Veründe-
rung in der Außenwelt vor, beim zweiten füllt der Akzent auf
eine innere Veränderung, Nach dem ersten Typus erkrankt man
an einem Erlebnis, nach dem zweiten an einem Entwicklungs-
vorgang. Im ersten Falle wird die Aufgabe gestellt, auf Be-
| friedigung zu verzichten, und das Individuum erkrankt an seiner
Widerstandsunfihigkeit; im zweiten Falle lautet die Aufgabe,
eine Art der Befriedigung gegen eine andere zu vertau- i ⑥
i : 3) Vgl. meine „Formulierungen über die zwei "Prinzipien, des
| schen Geschehens'. Jahrb. 4. Psychoanalyse. Bd. 111. _ į 4 ME
| 3) Vgl. Jung, Die Bedeutung des Vaters für das Schick al do
zelnen. Jahrb, f. Psychoanalyse 1. 1909. Vy dde ॥ i 1S.
809 -
į und die Person scheitert an ihrer Starrheit. Im zweiten Falle
| ist der Konflikt zwischen dem Bestreben, so zu verharren, wieS man ist, und dem andern, sich nach neuen Absichten und
p neuen Realforderungen £u veründern, von vorneherein gegeben; į
zt im früheren Falle stellt er sich erst her, nachdem die gestaute ・
Libido andere, und zwar unvertrügliche Befriedigungsmóglich-
E keiten erwählt hat. Die Rolle des Konfliktes und. der vorherigen
Fixierung. der Libido sind beim zweiten Typus ungleich augen-
fålliger als beim ersten, bei dem sich solche unbrauchbare1 Fixierungen eventuell erst infolge der äußeren Versagung her-
Bia stellen mögen.
Å | Ein junger Mann, der seine Libido bisher dion Phanta-
sien mit Ausgang in Masturbation befriedigt hatte und ‘nun
dieses dem Autoerotismus nahestehende Regime mit der realen
Objektwahl vertauschen will, ein Midchen, das seine ganze
| Zärtlichkeit dem Vater oder Bruder geschenkt hatte und nun UM
für einen um sie werbenden Mann die bisher unbewulten, in- — . Y|| zestuüsen Libidowünsche bewußt werden lassen soll, eine Frau,
die auf ihre polygamen Neigungen und Prostitutionsphantasienja verzichten möchte, um ihrem Mann eine treue Gefihrtin und
ihrem Kind eine tadellose Mutter zu werden: diese alle erkran-
‘ken an den lobenswertesten Bestrebungen, wenn die früheren
‘Fixierungen ihrer Libido stark genug sind, um sich einer Ver-
schiebung zu widersetzen, wofür wiederum die Faktoren der ||
Disposition, konstitutionelle Anlage und infantiles Erleben, ent- vb
scheidend werden. Sie erleben alle sozusagen das Schicksal des
Bäumleins i im Grimm schen Märchen, das andere Blätter haben | ①
. gewollt; vom hygienischen Standpunkt, der hier freilich nicht
_ allein in Betracht kommt, könnte man ihnen nur wünschen, SAR
. dab sie "weiterhin so unentwickelt, so minderwertig und nichts- "ues
nutzig geblieben: würen, wie sie es vor ihrer Erkrankung waren.
Die Veränderung, welche die Kranken: anstreben, aber nur un-
vollkommen oder gar nicht zustande bringen, hat regelmüDig — . E
| den Wert eines Fortschrittes im Sinne des realen Lebens. An- — |
ders, wenn man mit ethischem MaBstabe miDt; man sieht dieMenschen ebenso. oft. erkranken, wenn sie ein Ideal abstreifen, i
り "als wenn sie es erreichen wollen.
"Ungeachtet der sehr deutlichen Verschiedenheiten der
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310
: beiden beschriebenen Erkrankungstypen, treffen sie doch im
wesentlichen zusammen und lassen sich unschwer zu einer Ein-
heit zusammenfassen. Die Erkrankung an Versagung fällt auch
unter den Gesichtspunkt der Unfähigkeit zur Anpassung an die
Realität, nämlich an den eigen Fall daß die Realität die Be-
friedigung der Libido versagt. Die Erkrankung unter den Be-dingungen des zweiten Typus führt ohne weiteres zu einem .
Sonderfall der Versagung. Es ist hiebei zwar nicht jede Art
der Befriedigung von der Realitüt versagt, wohl aber gerade
die eine, welche das Individuum für die ihm einzig mögliche,
erklärt, und die Versagung geht nicht direkt von der AuDen-
welt, sondern primür von gewissen Strebungen des Ichs aus,
aber die Versagung bleibt das Gemeinsame und Übergeordnete.
Infolge des Konfliktes, der beim zweiten Typus sofort einsetzt,
werden beide Arten der Befriedigung, die gewohnte wie die an-.
gestrebte, gleichmäßig. gehemmt; es kommt zur Libidostauung
mit den von ihr ablaufenden Folgen wie im ersten Falle. Die
psychischen Vorgänge auf dem Wege zur Symptombildung sindbeim zweiten Typus eher übersichtlicher als beim ersten, da die |
| pathogenen Fixierungen der Libido hier nicht erst herzustellen- waren, sondern während der Gesundheit in. Kraft bestanden
. hatten. Ein gewisses. Maß von Introversion der Libido warmeist schon vorhanden; ein Stück der Regression zum Infantilen
wird dadurch erspart, daß die Entwicklung noch nicht den |
. ganzen Weg zurückgelegt hatte, A
e) Wie eine Ubertreibung des zweiten Typus, der Erkran-
| kung an der Realforderung, erscheint der nächste Typus, den
ich als Erkrankung durch Entwi cklungshemmung beschrei-
ben will. Ein ‘theoretischer Anspruch, ihn abzusondern, lige |nicht vor, wohl aber ein praktischer, da es sich ‚um Personen
handelt, die erkranken, sobald sie das unverantwortliche Kindes-
alter überschreiten, und somit niemals eine Phage von Gesund- .
heit, d. h. von im ganzen uneingeschrinkter Leistungs- und -Genubfähigkeit erreicht haben. Das Wesentliche des disponieren-
den Prozesses liegt in diesen Fällen klar zutage. Die Libido
hat die infantilen Fixierungen niemals verlassen, die. Realforde-
vung tritt nicht plötzlich einmal an das ganz oder zum Teil. gereifte Individuum heran, sondern wird durch den Tatbestand.
y U
S.
des Alterwerdens selbst gegeben, indem sie sich selbstverstind-
licherweise mit dem Alter des Individuums kontinuierlich: än- |
_ dert. Der Konflikt tritt gegen die Unzulänglichkeit zurück, doch
müssen wir nach allen unseren sonstigen Kinsichten ein Be- |
streben, die Kindheitsfixierungen zu überwinden, auch hier sta-
tuieren, sonst könnte niemals Neurose, sondern nur stationärer
intra ile der Ausgang des Prozesses sein.d) Wie der dritte Typus uns die. disponierende Bedingung
fast isoliert vorgeführt hatte, so macht uns der nun folgende
vierte auf ein anderes Moment aufmerksam, dessen Wirksamkeit
in allen Fällen in Betracht kommt und gerade darum leicht+in
einer theoretischen Erórterung übersehen werden kónnte. Wir
sehen nämlich Individuen erkranken, die bisher gesund gewesen
waren, an die kein neues Erlebnis herangetreten ist, deren Ве-
lation zur Außenwelt keine Anderung erfahren hat, so daß ihre‚Erkrankung den Eindruck. des Spontanen machen muß. Nähere
Betrachtung solcher Fälle zeigt uns indes, daß sich in ihnen
doch eine Veränderung vollzogen hat, die wir als höchst bedeut-
sam für die Krankheitsverursachung einschätzen müssen. Infolge‚des Erreichens eines gewissen Lebensabschnittes und im An-
schlusse an gesetzmäBige biologische Vorgänge hat die Q ua n-
_ 104 0 der Libido in ihrem seelischen Haushalt eine Steigerung
erfahren, welche für sich allein hinreicht, das Gleichgewicht der _ -
„Gesundheit umzuwerfen und die Bedingungen der Neurose her-zustellen. Wie bekannt, sind solehe eher plótzliche Libidosteige-
| rungen mit der Pubertüt und der Menopause, mit dem Erreichen
gewisser Jahresz ahlén bei Frauen, regelmäßig verbunden; bei
. manchen Menschen mógen sie sich tiberdies in noch unbekannten
Periodizitiiten äuBern, Dic Libidostauung ist hier das primäre
Moment, sie wird pathogen infolge der relativen Versagung
von seiten der AuBenwelt, die einem geringeren Libidoanspruchdie Befriedigung noch gestattet. hätte. Die, unbefriedigte und |
gestaute Libido kann wieder die Wege zur Regression eröffnenund dieselben Konflikte anfachen, die wir für den Fall der ab-
soluten äußeren Versagung festgestellt haben, Wir werden aufsolche Weise daran gemahnt, daß wir das quantitative Moment.
bei keiner Überlegung über Krankheitsveranlassung außer acht
lassen dürfen Alle anderen Faktoren, die Versagung, Fixierung,0
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S.
Entwicklungshemmung, bleiben wirkungslos, insofern sie nicht
ein gewisses Maß der Libido betreffen und eine Libidostauung
von bestimmter Höhe hervorrufen. Dieses Maß. von Libido, das
uns für eine pathogene Wirkung unentbehrlich | diinkt, ist für
uns freilich nicht meBbar; wir kinnen es nur postulieren, nach-
dem der Krankheitserfolg eingetreten ist. Nur nach einer Rich-
tung dürfen wir es enger bestimmen; wir dürfen annehmen,
daß es sich nicht um eine absolute Quantität handelt, sondern
um das Verhältnis des wirksamen Libidobetrages zu jener.
Quantitit von Libido, weiche das einzelne Ich bewältigen, d. h.
in Spannung erhalten, sublimieren oder direkt verwenden kann.
Daher wird eine relative Steigerung der Libidoquantitit die-
selben Wirkungen haben können wie eine absolute. Eine Schwä-
chung des Tchs durch organische Krankheit oder durch beson-
dere Inanspruchnahme seiner Energie wird imstande sein, Neurosen _
zum Vorschein kommen zu lassen, die sonst trotz aller Dispo-
_ sition latent geblieben wiren. |
‘Die Bedeutung, welche wir der Libidoquantitit fiir lie
M toms zugestehen müssen, stimmt in wiinschens-
| werter. Weise zu Zwei Hauptsitzen | der Neurosenlehre, die sich
aus der Psychoanalyse ergeben haben. Erstens zu dem Satze,
daß die Neurosen aus dem Konflikt zwischen, dem Ich und der |
Libido entspringen, zweitens zu der. Einsicht, dab keine quali-
tative Verschiedenheit zwischen den Bedingungen der Gesund-
‚heit und denen der Neurose bestehe, daß die Gesunden vielmehr |
| mit ‚denselben Aufgaben der Bewältigung der Libido zu PET
haben, nur daß es ihnen besser Ganassi ist. da ゃ た n |
| ^. Es erübrigt noch, einige Worte über das Verhältnis don NE
end zur Erfahrung zu sagen. Wenn ich die Anzahl vom Me
Kranken üiberblicke, mit deren ‘Analyse ich gerade jetzt | des 19%
schäftigt Ђаво muß ich feststellen, daß keiner. von ihnen einen |
der vier Erkrankungstypen rein realisiert. Ich finde vielmeh
bei jedem ein Stück der Versagung wirksam. neben einem Anteil —
| von Unfähigkeit, sich. der Realforderung anzupassen; der Ge-
sichtspunkt der Entwick] ungshemmung, . die ja mit der Starrheit |
“der, Fixierungon zusammenfiillt, „kommt bei allen | in Betracht,0
S.
i 6 ) 313
Få 1 M i
mehreren unter diesen Kranken die Krankheit in Schiiben zum
Vorschein gekommen ist, zwischen welchen Intervalle von Ge-
sundheit lagen, und daß jeder dieser Schiibe sich auf einen
‚andern Typus von Veranlassung zurückführen läßt. Die Auf-
stellung dieser vier Typen hat also keinen hohen theoretischen
Wert; es sind bloß verschiedene Wege zur Herstellung einer
gewissen pathogenen Konstellation im seelischen Haushalt,
nämlich ‚der Libidostauung, welcher sich das Ich mit seinen
Mitteln nicht ohne Schaden erwehren kann. Die Situation selbst.
wird aber nur pathogen infolge eines quantitativen Momentes;
sie ist nicht etwa eine Neuheit fiir das Seelenleben und durch das
Eindringen einer sogenannten ,Krankheitsursache“ geschaffen,
Eine gewisse praktische Bedeutung werden wir den Er-
krankungstypen gerne zugestehen. Sie sind in einzelnen Fällen
auch rein zu beobachten; auf den dritten und vierten Typus
wären wir nicht aufmerksam geworden, wenn sie nicht die ein-
zigen Veranlassungen der Erkrankung für manche Individuen
enthielten. Der erste Typus hält uns den außerordentlich müch-
tigen Einfluß der Außenwelt vor Augen, der zweite den nicht
minder bedeutsamen. der Eigenart des Individuums, welche sich> diesem Einflusse widersetzt. Die Pathologie konnte dem Problem 2
der Krankheitsveranlassung bei den Neurosen nicht gerecht
=, werden, solange sie sich bloß um die Entscheidung be-
mühte, ob diese Affektionen endogener oder exogener
Natur seien, Allen Erfahrungen, welche auf die Bedeutung derAbstinenz (im weitesten Sinne) als Veranlassung hinweisen, —
28 mußte sie immer den Einwand entgegensetzen, andere Personen
| vertriigen dieselben Schicksale, ohne zu erkranken. Wollte sie
aber die Eigenart des Individuums als das fiir Krankheit und |(Gesundheit Wesentliche betonen, so mußte sie sich die Vorhal-
tung gefallen lassen, daß Personen mit solcher Eigenart die
längste Zeit über gesund bleiben, können, so lange ihnen nur
gestattet ist, diese Eigenart zu bewahren. Die Psychoanalyse
hat uns gemahnt, den unfruchtbaren Gegensatz von äußeren und
‚ inneren Momenten, von Schicksal‘ und Konstitution, aufzugeben, und
"hat uns gelehrt, die Verursachung der neurotischen Erkrankung
; = regelmäßig i in einer bestimmten psychischen Situation zu finden,« welche auf verschiedenen Wegen hergestellt werden kann.
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