Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewußten in der Psychoanalyse 1912-006/1918
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    VIL

    EINIGE BEMERKUNGEN UBER DEN BEGRIFF DES
    UNBEWUSSTEN IN DER PSYCHOANALYSE. ®

    Ich möchte mit wenigen Worten und so klar als môg-
    lich darlegen, welcher Sinn dem Ausdruck „UnbewuBtes” in
    der Psychoanalyse und nur in der Psychoanalyse zukommt.

    Eine Vorstellung — oder jedes andere psychische Ele-
    ment — kann jetzt in meinem Bewußtsein gegenwärtig
    sein und im nächsten Augenblick daraus verschwinden;
    sie kann nach einer Zwischenzeit ganz unverändert wiederum
    auftauchen, und zwar, wie wir es ausdrücken, aus der Er-
    innerung, nicht als Folge einer neuen Sinneswahrnehmung.
    Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, sind wir zu der
    Annahme genötigt, daß die Vorstellung auch während der
    Zwischenzeit in unserem Geiste gegenwärtig gewesen sei,
    wenn sie auch im Bewußtsein latent blieb. In welcher Ge-
    stalt sie aber existiert haben kann, während sie im Seelen-
    leben gegenwärtig und im Bewußtsein latent war, darüber
    können wir keine Vermutungen aufstellen,

    An diesem Punkte müssen wir darauf gefaßt scin, dem
    philosophischen Einwurf zu begegnen, daß die latente Vor-
    stellung nicht als Objekt der Psychologie vorhanden ge-

    *) Intern. Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse, I, 1913, Zuerst englisch

    erschienen in „Proceedings of The Society for Psychical Research“, Part,
    LXVI, Vol. XXVL ⑧

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    158 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    wesen sei, sondern nur als physische Disposition für den
    Wiederablauf desselben psychischen Phänomens, nämlich eben
    jener Vorstellung. Aber wir können darauf erwidern, daß
    eine solche Theorie das Gebiet der eigentlichen Psychologie
    weit überschreitet, daß sie das Problem einfach umgeht, in-
    dem sie daran festhält, daß „bewußt“ und „psychisch“ iden-
    tische Begriffe sind, und daß sie offenbar im Unrecht ist,
    wenn sie der Psychologie das Recht bestreitet, eine ihrer
    gewöhnlichsten Tatsachen, wie das Gedächtnis, durch ihre
    eigenen Hilfsmittel zu erklären.

    Wir wollen nun die Vorstellung, die in unserem Be-
    wußtsein gegenwärtig ist und die wir wahrnehmen, „bewußt“
    nennen und nur dies als Sinn des Ausdruckes „bewußt“ gelten
    Tassen; hingegen sollen latente Vorstellungen, wenn wir
    Grund zur Annahme haben, daß sie im Seelenleben enthalten
    sind — wie es beim Gedächtnis der Fall war — mit dem
    Ausdruck „unbewußt“ gekennzeichnet werden,

    Eine: unbewußte Vorstellung ist dann eine solche, die
    wir nicht bemerken, deren Existenz wir aber trotzdem auf
    Grund anderweitiger Anzeichen und Beweise zuzugeben be-
    reit sind,

    Dies könnte als eine recht uninteressante deskriptive
    oder klassifikatorische Arbeit aufgefaßt werden, wenn keine
    andere Erfahrung für unser Urteil in Betracht käme als die
    Tatsachen des Gedächtnisses oder die der Assoziation über
    unbewußte Mittelglieder. Aber das wohlbekannte Experiment
    der „posthypnotischen Suggestion“ lehrt uns an der Wich-
    tigkeit der Unterscheidung zwischen bewußt und unbe-
    wußt festhalten und scheint ihren Wert zu erhöhen.

    Bei diesem Experiment, wie es Bernheim ausgeführt
    hat, wird eine Person in einem hypnotischen Zustand ver-

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    VII. BEGRIFF DES UNBEWUSSTEN IN DER PSYCHOANALYSE, 159

    setzt und dann daraus erweckt. Während sie sich in dem
    hypnotischen Zustande, unter dem Einflusse des Arztes be-
    fand, wurde ihr der Auftrag erteilt, eine bestimmte Handlung
    zu einem genau bestimmten Zeitpunkt, z. B, eine halbe Stunde
    später, auszuführen. Nach dem Erwachen ist allem An-
    scheine nach volles Bewußtsein und die gewöhnliche Geistes-
    verfassung wiederum eingetreten, eine Erinnerung an den
    hypnotischen Zustand ist nicht vorhanden, und trotzdem
    drängt sich in dem vorher festgesetzten Augenblick der Im-
    puls, dieses oder jenes zu tun, dem Geiste auf, und die
    Handlung wird mit Bewußtsein, wenn auch ohne zu wissen
    weshalb, ausgeführt. Es dürfte kaum möglich sein, eine an-
    dere Beschreibung des Phänomens zu geben, als mit den
    Worten, daß der Vorsatz im Geiste jener Person in latenter
    Form oder unbewußt vorhanden war; bis der gegebene
    Moment kam, in dem er dann bewußt geworden ist. Aber
    nicht in seiner Gänze ist er im Bewußtsein aufgetaucht, son-
    dern nur die Vorstellung des auszuführenden Aktes. Alle
    anderen mit dieser Vorstellung assoziierten Ideen — der Auf-

    trag, der Einfluß des Arztes, die Erinnerung an den hypno-
    tischen Zustand, blieben auch dann noch unbewußt.

    Wir können aber aus einem solchen Experiment noch
    mehr lernen. Wir werden von einer rein beschreibenden zu
    einer dynamischen Auffassung des Phánomens hinüber-
    geleitet. Die Idee der in der Hypnose aufgetragenen Hand-
    lung wurde in einem bestimmten Augenblick nicht blof ein
    Objekt des BewuBtseins, sondern sie wurde auch wirksam,
    und dies ist die auffallendere Seite des Tatbestandes; sie
    wurde in Handlung übertragen, sobald das Bewußtsein ihre
    Gegenwart bemerkt hatte, Da der wirkliche Antrieb zum
    Handeln der Auftrag des Arztes ist, kann man kaum anders

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    160 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE, IV.

    als einråumen, daB auch die Idee des Auftrages wirksam
    geworden ist. || å À

    i Dennoch wurde dieser letztere Gedanke nicht ins Be-
    wuftsein aufgenommen, wie es mit seinem Abkómmling, der
    Idee der Handlung geschah; er verblieb unbewuBt und war
    daher gleichzeitig wirksam und unbewuft.

    Die posthypnotische Suggestion ist ein Produkt des La-
    boratoriums, eine künstlich geschaffene Tatsache. Aber wenn
    wir die Theorie der hysterischen Phänomene, die zuerst durch
    TP. Janet aufgestellt und von Breuer und mir ausgear-
    beitet wurde, annehmen, so stehen uns natürliche Tatsachen
    in Fülle zur Verfügung, die den psychologischen Charakter
    der posthypnotischen Suggestion sogar noch klarer und deut-
    licher zeigen.

    Das Seelenleben des hysterischen Patienten ist erfüllt
    mit wirksamen, aber unbewuBten Gedanken; von ihnen stam-
    men alle Symptome ab. Es ist in der Tat der auffülligste
    Charakterzug der hysterischen Geistesverfassung, daB sie von
    unbewuften Vorstellungen beherrscht wird. Wenn eine hyste-
    rische Frau erbricht, so kann sie dies wohl infolge der Idee
    tun, daB sie schwanger sei. Dennoch hat sie von dieser Idee
    keine Kenntnis, obwohl dieselbe durch eine der technischen
    Prozeduren der Psychoanalyse leicht in ihrem Seelenleben
    entdeckt und für sie bewußt gemacht werden kann. Wenn
    sie die Zuckungen und Gesten ausführt, die ihren „Anfall“
    ausmachen, so stellt sie sich nicht einmal die von ihr beab-
    sichtigten Aktionen bewuBt vor und beobachtet sie vielleicht
    mit den Gefühlen eines unbeteiligten Zuschauers. Nichts-
    destoweniger vermag die Analyse nachzuweisen, daß sie ihre
    Rolle in der dramatischen Wiedergabe einer Szene aus ihrem
    Leben spielte, deren Erinnerung während der Attacke unbe-

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    УП. BEGRIFF DES UNBEWUSSTEN IN DER PSYCHOANALYSE. 161

    wuDt wirksam war. Dasselbe Vorwalten wirksamer unbe-
    wubter Ideen wird durch die Analyse als das Wesentliche
    in der Psychologie aller anderen Formen von Neurose enthüllt.

    Wir lernen also aus der Analyse neurotischer Phåno-
    mene, daß ein latenter oder unbewuBter Gedanke nicht not-
    wendigerweise schwach sein mus, und daß die Anwesenheit
    eines solchen Gedankens im Seelenleben indirekte Beweise
    der zwingendsten Art gestattet, die dem direkten durch das
    Bewußtsein gelieferten Beweis fast gleichwertig sind, Wir
    fühlen uns gerechtfertigt, unsere Klassifikation mit dieser
    Vermehrung unserer Kenntnisse in Übereinstimmung zu brin-
    gen, indem wir eine grundlegende Unterscheidung zwischen
    verschiedenen Arten von latenten und unbewußten Gedanken
    einführen. Wir waren gewohnt zu denken, daß jeder latente
    Gedanke dies infolge seiner Schwäche war, und daß er be:
    wuBt wurde, sowie er Kraft erhielt, Wir haben nun die Über-
    zeugung gewonnen, daß es gewisse latente Gedanken gibt,
    die nicht ins Bewußtsein eindringen, wie stark sie auch sein
    mógen. Wir wollen daher die latenten Gedanken der ersten
    Gruppe vorbewuBt nennen, während wir den Ausdruck un-
    bewuft (im eigentlichen Sinne) für die zweite Gruppe reser-
    vieren, die wir bei den Neurosen betrachtet haben. Der Aus-
    druck unbewuft, den wir bisher bloß im beschreibenden
    Sinne benützt haben, erhält jetzt eine erweiterte Bedeutung.
    Er bezeichnet nicht blof latente Gedanken im allgemeinen,
    sondern besonders solche mit einem bestimmten dynamischen
    Charakter, nämlich diejenigen, die sich trotz ihrer Intensität
    und Wirksamkeit dem Bewußtsein ferne halten.

    Ehe ich meine Auseinandersetzungen fortführe, will ich
    auf zwei Einwendungen Bezug nehmen, die sich voraussicht-
    lich an diesem Punkte erheben. Die erste kann folgender-

    Freud, Neurosenlehre. IV. 11

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    162 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    maBen formuliert werden: anstatt uns die Hypothese der un-
    bewuften Gedanken, von denen wir nichts wissen, anzueignen,
    täten wir besser anzunehmen, daß das Bewußtsein geteilt
    werden kann, so daB einzelne Gedanken oder andere Seelen-
    vorgánge ein gesondertes Bewuftsein bilden kónnen, das von
    der Hauptmasse bewuBter psychischer Tätigkeit losgelóst und
    ihr entfremdet wurde. Wohlbekannte pathologische Fälle,
    wie jener des Dr. Azam, scheinen sehr geeignet zu sein zu
    beweisen, daß die Teilung des Bewuftseins keine phan-
    tastische Einbildung ist. «

    Ich gestatte mir, dieser Theorie entgegenzuhalten, daß
    sie einfach aus dem Mißbrauch mit dem Worte „bewußt“
    Kapital schlägt. Wir haben kein Recht, den Sinn dieses
    Wortes so weit auszudehnen, daß damit auch ein Bewußtsein
    bezeichnet werden kann, von dem sein Besitzer nichts weiß.
    Wenn Philosophen eine Schwierigkeit dabei finden, an die
    Existenz eines unbewußten Gedankens zu glauben, so scheint
    mir die Existenz eines unbewußten Bewuftseins noch an-
    greifbarer. Die Fälle, die man als Teilung des BewuBtscins
    beschreibt, wie der des Dr. Azam, können besser als Wan-
    dern des Bewußtseins angesehen werden, wobei diese Funk-
    tion — oder was immer es sein mag — zwischen zwei ver-
    schiedenen psychischen Komplexen hin- und herschwankt,
    die abwechselnd bewußt und unbewußt werden.

    Der andere Einwand, der voraussichtlich erhoben werden
    wird, wäre der, daß wir auf die Psychologie der Normalen
    Folgerungen anwenden, die hauptsächlich aus dem Studium
    pathologischer Zustände stammen. Wir können ihn durch
    eine Tatsache erledigen, deren Kenntnis wir der Psychoanalyse
    verdanken, Gewisse Funktionsstörungen, die sich bei Ge-
    surden höchst häufig ereignen, z. B. Lapsus linguae, Ge-

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    VII. BEGRIFF DES UNBEWUSSTEN IN DER PSYCHOANALYSE. 163

    dåchtnis- und Sprachirrtümer, Namenvergessen usw. können
    leicht auf die Wirksamkeit starker unbewuBter Gedanken
    zurückgeführt werden, gerade so wie die neurotischen Sym-
    ptome. Wir werden mit einem zweiten, noch iiberzeugenderen
    Argument in einem späteren Abschnitt dieser Erörterung
    zusammentreffen. į ;

    Durch die Auseinanderhaltung vorbewubter und unbe-
    wuBter Gedanken werden wir dazu veranlaBt, das Gebiet der
    Klassifikation zu verlassen und uns über die funktionalen
    und dynamischen Relationen in der Tåtigkeit der Psyche eine
    Meinung zu bilden. Wir fanden ein wirksames Vorbe-
    wuftes, das ohne Schwierigkeit ins Bewußtsein übergeht,
    und ein wirksames Unbewuftes, das unbewuft bleibt
    und vom Bewußtsein abgeschnitten zu sein scheint.

    Wir wissen nicht, ob diese zwei Arten psychischer Tåtig-
    keit von Anfang an identisch oder ihrem Wesen nach. ent-
    gegengesetzt sind, aber wir können uns fragen, warum sie
    im Verlaufe der psychischen Vorgånge verschieden geworden
    sein sollten. Auf diese Frage gibt uns die Psychoanalyse ohne
    Zogern klare Antwort. Es ist dem Erzeugnis des wirksamen
    Unbewubten keineswegs unmöglich, ins Bewußtsein einzu-
    dringen, aber zu dieser Leistung ist ein gewisser Aufwand
    von Anstrengung notwendig. Wenn wir es an uns selbst ver-
    suchen, erhalten wir das deutliche Gefiihl einer Abwehr,
    die bewåltigt werden muB, und wenn wir es bei einem Pa-
    tienten hervorrufen, so erhalten wir die unzweideutigsten An-
    zeigen von dem, was wir Widerstand dagegen nennen,
    So lernen wir, daß der unbewuBte Gedanke vom Bewußtsein
    durch lebendige Kråfte ausgeschlossen wird, die sich seiner
    Aufnahme entgegenstellen, wåhrend sie anderen Gedanken,
    den vorbewuBten, nichts in den Weg legen, Die Psychoanalyse

    11.

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    164 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE, IV.

    188% keine Möglichkeit übrig, daran zu zweifeln, daß die Ab-
    weisung unbewuDter Gedanken bloß durch die in ihrem In-
    halt verkórperten Tendenzen hervorgerufen wird. Die nåchst-
    liegende und wahrscheinlichste Theorie, die wir in diesem
    Stadium unseres Wissens bilden kónnen, ist die folgende:
    Das UnbewuBte ist eine regelmäßige und unvermeidliche
    Phase in den Vorgängen, die unsere psychische Tätigkeit be-
    gründen; jeder psychische Akt beginnt als unbewuDter und
    kann entweder so bleiben oder sich weiter entwickelnd zum
    Bewußtsein fortschreiten, je nachdem, ob er auf Widerstand
    trifft oder nicht. Die Unterscheidung zwischen vorbewubter
    und unbewubter Tätigkeit ist keine primäre, sondern wird
    erst hergestellt, nachdem die „Abwehr“ ins Spiel getreten
    ist. Erst dann gewinnt der Unterschied zwischen vorbewuBten
    Gedanken, die im Bewuftsein erscheinen und jederzeit da-
    hin zurückkehren kónnen, und unbewuften Gedanken, denen
    dies versagt bleibt, theoretischen sowie praktischen Wert.
    Eine grobe, aber ziemlich angemessene Analogie dieses suppo-
    nierten Verhältnisses der bewuBten Tätigkeit zur unbewuBten
    bietet das Gebiet der gewóhnlichen Photographie. Das erste
    Stadium der Photographie ist das Negativ; jedes photogra-
    phische Bild muß den ,,NegativprozeB" durchmachen, und
    einige dieser Negative, die in der ‘Prüfung gut bestanden
    haben, werden zu dem ,,Positivprozef“ zugelassen, der mit
    dem Bilde endigt. -

    Aber die Unterscheidung zwischen vorbewuBter und un-
    bewuBter Tätigkeit und die Erkenntnis der sie trennenden
    Schranke ist weder das letzte noch das bedeutungsvollste
    Resultat der psychoanalytischen Durchforschung des Seelen-
    lebens. Es gibt ein psychisches Produkt, das bei den nor-
    malsten Personen anzutreffen ist und doch eine héchst auf-

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    VII. BEGRIFF DES UNBEWUSSTEN IN DER PSYCHOANALYSE, 165

    fallende Analogie zu den wildesten Erzeugnissen des Wahn-
    sinnes bietet und den Philosophen nicht verständlicher war als
    der Wahnsinn selbst. Ich meine die Träume. Die Psychoana-
    Iyse griindet sich auf die Traumanalyse; die Traumdeutung ist
    das vollståndigste Stück Arbeit, das die junge Wissenschaft
    bis heute geleistet hat, Ein typischer Fall der Traumbildung
    kann folgendermaßen beschrieben werden: Ein Gedankenzug
    ist durch die geistige Tåtigkeit des Tages wachgerufen wor-
    den und hat etwas von seiner Wirkungsfåhigkeit zurückbe-
    halten, durch die er dem allgemeinen Absinken des Interesses,
    welches den Schlaf herbeiführt und die geistige Vorbereitung
    für das Schlafen bildet, entgangen ist. Während der Nacht
    gelingt es diesem Gedankenzug, die Verbindung zu einem
    der unbewußten Wünsche zu finden, die von Kindheit an
    im Seelenleben des Träumers immer gegenwärtig, aber für
    gewöhnlich verdrängt und von seinem bewußten Dasein
    ausgeschlossen sind. Durch die von dieser unbewußten Un-
    terstützung geliehene Kraft können die Gedanken, die Uber-
    bleibsel der Tagesarbeit, nun wiederum wirksam werden und
    im Bewußtsein in der Gestalt eines Traumes auftauchen. Es
    haben sich also dreierlei Dinge ereignet: ・

    1. Die Gedanken haben eine Verwandlung, Verkleidung
    und Entstellung durchgemacht, welche den Anteil des un-
    bewußten Bundesgenossen darstellt. «

    2. Den Gedanken ist es gelungen, das BewuBtsein zu
    einer Zeit zu besetzen, wo es ihnen nicht zugänglich hätte
    sein sollen. . i

    3. Ein Stück des Unbewubten, dem dies sonst unmôg-
    lich gewesen wire, ist im Bewußtsein aufgetaucht.

    Wir haben die Kunst gelernt, die „Tagesreste” und
    die latenten Traumgedanken herauszufinden; durch

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    166 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    ihren Vergleich mit dem manifesten Trauminhalt sind
    wir befähigt, uns ein Urteil über die Wandlungen, die sie
    durchgemacht haben, und über die Art und Weise, wie diese
    zu stande gekommen sind, zu bilden.

    Die latenten Traumgedanken unterscheiden sich in keiner
    Weise von den Erzeugnissen unserer gewöhnlichen bewuBten
    Seelentåtigkeit, Sie verdienen den Namen von vorbewußten
    Gedanken und können in der Tat in einem Zeitpunkte des
    Wachlebens bewußt gewesen sein, Aber durch die Verbindung
    mit den unbewuDten Strebungen, die sie während der Nacht
    eingegangen sind, wurden sie den letzteren assimiliert, ge-
    wissermaBen auf den Zustand unbewufiter Gedanken herab-
    gedrückt und den Gesetzen, durch welche die unbewußte
    Tätigkeit geregelt wird, unterworfen. Hier ergibt sich die
    Gelegenheit zu lernen, was wir auf Grund von Uberlegungen
    oder aus irgend einer anderen Quelle empirischen Wissens
    nicht hätten erraten können, daß die Gesetze der unbewuBten
    Seelentätigkeit sich im weiten Ausmaß von jenen der be-
    wußten unterscheiden. Wir gewinnen durch Detailarbeit die
    Kenntnis der Eigentümlichkeiten des Unbewußten und
    können hoffen, daß wir durch gründlichere Erforschung der
    Vorgänge bei der Traumbildung noch mehr lernen werden.

    Diese Untersuchung ist noch kaum zur Hälfte beendet
    und eine Darlegung der bis jetzt erhaltenen‘ Resultate ist
    nicht möglich, ohne in die höchst verwickelten Probleme der
    Traumdeutung einzugehen, Aber ich wollte diese Erörterung
    nicht abbrechen, ohne auf die Wandlung und den Fortschritt
    unseres Verständnisses des Unbewußten hinzuweisen, welche
    wir dem psychoanalytischen Studium der Träume verdanken.

    Das Unbewußte schien uns anfangs bloß ein rätsel-
    hafter Charakter eines bestimmten psychischen Vorganges;

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    VII. BEGRIFF DES UNBEWUSSTEN IN DER PSYCHOANALYSE, 167

    nun bedeutet es uns mehr, es ist ein Anzeichen dafür, daß
    dieser Vorgang an der Natur einer gewissen psychischen
    Kategorie teilnimmt, die uns durch andere bedeutsamere
    Charakterzüge bekannt ist, und daß er zu einem System
    psychischer Tätigkeit gehört, das unsere vollste Aufmerk-
    samkeit verdient. Der Wert des UnbewuBten als Index hat
    scine Bedeutung als Eigenschaft bei weitem hinter sich ge-
    lassen. Das System, welches sich uns durch das Kennzeichen
    kundgibt, daB die einzelnen Vorgänge, die es zusammensetzen,
    unbewuBt sind, belegen wir mit dem Namen „das Unbewufte",
    in Ermangelung eines besseren und weniger zweideutigen
    Ausdruckes. Ich schlage als Bezeichnung dieses Systems die
    Buchstaben ,,Ubw.“, eine Abkürzung des Wortes , Unbe-
    wut“ vor,

    Dies ist der dritte und wichtigste Sinn, den der Aus-
    druck ,unbewuBt“ in der Psychoanalyse erworben hat,