Ein Traum als Beweismittel 1913-004/1918
  • S.

    IX.
    EIN TRAUM ALS BEWEISMITTEL.“

    Eine Dame, die an Zweifelsucht und Zwangszeremoniell
    leidet, stellt an ihre Pflegerinnen die Anforderung, von ihnen
    keinen Moment aus den Augen gelassen zu werden, Weil sie
    sonst zu grübeln beginnen würde, was sie in dem unbewachten
    Zeitraum Unerlaubtes getan haben mag. Wie sie nun eines
    Abends auf dem Diwan ausmht, glaubt sie zu bemerken, daß
    die diensthabende Pflegerin eingeschlafen ist. Sie fragt:
    Haben Sie mich gesehen?; die Pflegerin fährt auf und ant-
    wortet: Ja., gewiß. Die Kranke hat nun Grund zu einem
    neuen Zweifel und wiederholt nach einer Weile dieselbe
    Frage. Die Pflegerin beteuert es von neuem; in diesem Augen;
    blicke bringt eine andere Dienerin das Abendessen

    Dies ereignet sich eines Freitag abends. Am nächsten
    Morgen erzählt die Pflegerin einen Traum, der die Zweifel
    der Patientin zerstreut. ;

    Traum: Man hat ihr ein Kind gegeben, die
    Mutter ist abgereist, und sie hat das Kind ver-
    loren. Sie fragt unterwegs die Leute auf der
    Straße, ob sie das Kind gesehen haben. Dann
    kommt sie an ein großes Wasser, geht über einen
    schmale n Steg. (Dazu später ein Nachtrag: Auf diesem
    Steg ist plötzlich die Person einer anderen

    *) Intern, Zeit—sehr. für äxztl. Psychoanalyse, I, 1913,

    Freud, Neuronenlehre. W. 12

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    178 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    Pflegerin wie eine Fata Morgana vor ihr auf-
    getaucht.) Dann ist sie in einer ihr bekannten
    Gegend und trifft dort eine Frau, die sie als
    Mädchen gekannt hat, die damals Verkäuferin
    in einem Eßwarengeschäft war, später aber ge—
    heiratet hat. Sie fragt die vor ihrer Tür stehende
    Frau: Haben Sie das Kind gesehen? Die Frau
    interessiert sich aber nicht für diese Frage,
    sondern erzählt ihr‚ daß sie jetzt von ihrem
    Manne geschieden ist, wobei sie hinzufügt, daß
    es auch in der Ehe nicht immer glücklich geht.
    Dann wacht sie beruhigt auf und denkt sich,
    das Kind wird sich schon bei einer Nachbarin
    finden.

    Analyse. Von diesem Traum nahm die Patientin an,
    "daß er sich auf das von der Pflegerin abgeleugnete Ein-
    sehlafen beziehe. Was ihr die Pflegerin, ohne ausgefragt zu
    werden, im Anschluß an den Traum erzählte, setzte sie in
    den Stand, eine praktisch zureichende, wenn auch an man-
    chen Stellen unvollständige Deutung des Traumes vorzu-
    nehmen. Ich selbst habe nur den Bericht der Dame gehört,
    nicht die Pflegerin gesprochen; ich werde, nachdem die
    Patientin ihre Deutung vorgetragen hat, hinzufügen, was
    sich aus unserer allgemeinen Einsichtnahme in die Gesetze
    der Traumbildung ergänzen läßt.

    „Die Pflegerin sagt, bei dem Kind im Trauma denke
    sie an eine Pflege, von welcher sie sich außerordentlich be-
    friedigt gefühlt habe. Es handelte sich um ein an blennor-
    rhoischer Augenentzündung erkranktes Kind, das nicht sehen
    konnte. Aber die Mutter dieses Kindes reiste nicht ab, sie
    nahm an der Pflege teil. Dagegen weiß ich, daß mein Mann,

  • S.

    1x. am TEAUM ALS enwmsmrrnt. 179

    der viel auf diese Pflegerin hält, mich ihr beim Abschied
    zur Behütung übergeben hat, und daß sie ihm damals ver-
    sprach, auf mich aßhtzugeben — wie auf ein Kind !“

    Wir erraten anderseits aus der Analyse der Patientin,
    daß sie sich mit ihrer Forderung, nicht aus den Augen ge-
    lassen zu werden, selbst in die Kindheit zurückversetzt hat.

    „Sie hat das Kind verloren,“ fährt die Patientin fort,
    „heißt, sie hat mich nicht gesehen, hat; mich aus den Augen
    verloren. Das ist ihr Geständnis, daß sie wirklich eine Weile
    geschlafen und mir dann nicht die Wahrheit gesagt hat."

    Das Stückchen des Traumes, in dem die Pflegerin bei
    den Leuten auf der Straße nach dem Kinde fragt, blieb der
    Dame dunkel, dagegen weiß sie über die weiteren Elemente
    des manifesten Traumes gute Auskunft zu geben.

    „Bei dem großen Wasser denkt sie an den Rhein, aber
    sie setzt hinzu, es war doch weit größer als der Rhein. Sie
    erinnert sich dann, daß ich ihr am Abend vorher die Geschichte
    von Jonas und dem Walfisch vorgelesen und erzählt habe,
    daß ich selbst einmal im Ärmelkanal einen Walfisch gesehen.
    Ich meine, das große Wasser ist das Meer, also eine Anspie-
    lung auf die Geschichte von Jonas.“ —

    „Ich glaube auch, daß der schmale Steg aus der näm-
    lichen, in Mundart geschriebenen lustigen Geschichte her-
    riihrt. In ihr wird erzählt, daß der Religionslehrer den Schul—
    kindern das wunderbare Abenteuer des Jonas verträgt, worauf
    ein Knabe den Einwand macht, das könne doch nicht sein,
    denn der Herr Lehrer habe ein anderes Mal gesagt, der Wal-
    fisch habe einen so engen Schlund, daß er nur ganz kleine
    Tiere schlucken könne. Der Lehrer hilft sich mit der Er-
    klärung, Jonas sei eben ein Jude gewesen, und der drücke
    sich überall durch, Meine Pflegerin ist sehr religiös, aber

    12‘

  • S.

    180 SCHEIF‘I‘EN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    zu religiösen Zweifeln geneigt, und ich habe mir darum Vor-
    ‘würfe __ gemacht, daß ich durch meine Vorlesung vielleicht
    ihre Zweifel angeregt habe.“ .

    „Auf diesem schmalen Steg sah sie nun die Erscheinung
    einer anderen ihr bekannten Pflegerin. Sie hat mir deren
    ‚Geschichte erzählt, diese ist in den Rhein gegangen, weil
    man sie aus der Pflege, in der sie sich" etwas hatte zu
    Schulden kommen lassen, weggeschickt hatte.*) Sie fürchtet
    also auch wegen jenes Einschla.fens weggeschickt zu werden.
    Übrigens hat sie am Tage nach dem Verfall und der Traum-
    erzählung heftig geweint und mir, auf meine Frage nach
    ihren Gründen, recht barsch geantwortet: Das wissen Sie
    so gut wie ich, und jetzt werden Sie kein Vertrauen mehr
    zu mir haben.“

    Da die Erscheinung der erträ‚nkten Pflegerin ein Nach—
    trag, und zwar von besonderer Deutlichkeit war, hätten wir
    der Dame raten müssen, die Traumdeutung an diesem Punkte
    zu beginnen. Diese erste Hälfte des Tranmes war nach dem

    *) Ich habe mir an dieser Stelle eine Verdichtung des Materials
    zu Schulden kommen lassen, die ich bei einer Revision der Niederschrift
    vor der referierenden Dame korrigieren konnte. Die als Erscheinung auf
    dem Steg auftretende Pflegerin hatte sich in der Pflege nichts zu Schulden
    kommen lassen. Sie wurde weggeschickt, weil die Mutter des Kindes, die
    zur Abreise genötigt war, erklärte, sie wolle in ihrer Abwesenheit eine
    ältere — also doch verläßlichere -— Warteperson bei dem Kinde haben.
    Daran reihte sich eine zweite Erzählung von einer anderen Pflegerin, die
    wirklich wegen einer Ns.chlässigkeit entlassen worden war, sich darum
    aber nicht ertrimkt hatte. Das für die Deutung des Tmumelements nötige
    Material ist hier wie sonst nicht selten, auf zwei Quellen verteilt. Mein
    Gedächtnis vollzog die zur Deutung führende Synthese. — Übrigens findet
    sich in der Geschichte der ertri.nkfen Pflegerin das Moment des Abreisens
    der Mutter, welches von der Dame auf die Abreise ihres Mannes bezogen
    wird. Wie man sieht, eine Uberdeterminierung, welche die Eleganz der
    Deutung beeinträchtigt. “ ' ' —

  • S.

    IX. EIN TRAUM ALS BEWEIIMI’I'YEL. 181

    Berichte der Träumerin auch von heftigster Angst erfüllt,
    im zweiten Teil bereitet sich die Beruhigung vor, mit wel.
    cher sie erwacht.

    „Im nächsten Stück des Traumes,“ setzt die analysierencle
    Dame fort, „finde ich wieder einen sicheren Beweis für
    meine Auffassung, daß es sich darin um den Vorfall am
    Freitag abends handelt, denn mit der Frau, die früher Ver—
    käuferin in einem Eliwarengeschäfte war, kann nur das Mäd-
    chen gemeint sein, welches damals das Nachtmahl brachte.
    Ich bemerke, daß die Pflegerin den ganzen Tag über Üblig-
    keiten geklagt hatte. Die Frage, die sie an die Frau richtet:
    Haben Sie das Kind gesehen?, ist ja, offenbar abgeleitet von
    meiner Frage: Haben Sie mich gesehen?, wie meine Formel
    lautet, die ich eben zum zweitenmal stellte, als das Mädchen
    mit den Schüsseln eintrat.“

    Auch im Traume wird in zwei Stellen nach dem Kinde
    gefragt. —— Daß die Frau keine Antwort gibt, sich nicht
    interessiert, möchten wir als eine Herabsetzung der anderen
    Dienerin zu Gunsten der Träumerin deuten, die sich im
    Traume über die andere erhebt, gerade weil sie gegen Vor-
    würfe wegen ihrer Unaßhtsamkeit anzukämpfen hat.

    „Die im Traume erscheinende Frau ist nicht wirklich
    von ihrem Manne geschieden. Die ganze Stelle stammt aus
    der Lebensgeschichte des anderen Mädchens, welches durch
    das Machtwort ihrer Eltern von einem Marine fern gehalten
    —— geschieden —— wird, der sie heiraten Will. Der Satz, daß
    es in der Ehe auch nicht immer gut abgeht, ist wahrschein-
    lich ein Trost, der in Gesprächen der beiden zur Verwendung
    kam. Dieser Trost wird ihr zum Vorbild für einen anderen,
    mit dem der Traum schließt: Das Kind. wird sich schon
    finden.“ '

  • S.

    182 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    „Ich habe aber aus diesem Traume entnommen, daß die
    Pflegerin an jenem Abend wirklich eingeschlafen war und
    darum weggeschickt zu werden fürchtet. Ich habe darum
    den Zweifel an meiner eigenen Wahrnehmung aufgegeben.
    Übrigens hat sie nach der Erzählung des Traumes hinzuge—
    fügt, sie bedaure es sehr, daß sie kein Traumbuch mitge—
    bracht habe. Als ich bemerkte, in solchen Büchern stehe
    doch nur der schlimmste Aberglaube, entgegnete sie, sie sei
    gar nicht abergläubisch, aber das müsse sie sagen. alle Un-
    annehmlichkeiten ihres Lebens seien ihr immer an Freitagen
    passiert. Außerdem behandelt sie mich jetzt schlecht, zeigt
    sich empfindlich, reizbar und macht mit Szenen.“

    Ich glaube, wir werden der Dame zugestehen müssen,
    daß sie den Traum ihrer Pflegerin richtig gedeutet und ver-
    wertet hat. Wie so oft bei der Traumdeutung in der Psycho-
    analyse kommen für die Übersetzung des Traumes nicht allein
    die Ergebnisse der Assoziation in Betracht, sondern auch
    die Begleitumst-ände der Traumerzählung, das Benehmen des
    Träumers vor und nach der Traumanalyse, sowie alles, was
    er ungefähr gleichzeitig mit dem Traume —— in derselben
    Stunde der Behandlung — äußert und verrät. Nehmen wir
    die Reizbarkeit der Pflegerin, ihre Beziehung auf den un-
    glückbringenden Freitag u. &. hinzu, so werden wir das Urteil
    bestätigen, der Traum enthalte das Geständnis, daß sie da-
    mals, als sie es ahleugnete, wirklich eingenickt sei und
    darum fürchte, von ihrem Pflegekind weggeschickt zu
    werden.*)

    Aber der Traum, welcher für die Dame eine praktische

    *) Die Pflegerin gestand übrigens einige Tage später einer dritten
    Person ihr Einschla.fen an jenem Abend zu und rechtfertigte so die Deu-
    tung der Dame

  • S.

    1x. nm TRAUM ALS BEWEISMITTEL. 183

    Bedeutung hatte, regt bei uns das theoretische Interesse
    nach zwei Richtungen an. Der Traum läuft zwar in eine
    Tröstung aus, aber im wesentlichen bringt er ein für die
    Beziehung zu ihrer Dame wichtiges Geständnis. Wie
    kommt der Traum, der doch der Wunscherfüllung dienen
    soll, dazu, ein Geständnis zu ersetzen, welches der Träumerin
    nicht einmal vorteilhaft wird? Sollen wir uns wirklich ver-
    anlaßt finden, außer den Wunsch- (und Angst-)Träumen auch
    Geständnisträume zuzugeben, sowie Warnungeträume, Re—
    flexionsträume, Anpassungsträ‚ume u. dgl.?

    Ich bekenne nun, daß ich noch nicht ganz verstehe,
    warum der Standpunkt, den meine Traumdeutung gegen
    solche Versuchungen einnimmt, bei so vielen und darunter
    namhaften Psychoanalytikern Bedenken findet. Die Unter-
    scheidung von Wunsch-, Geständnis-, Warnungs- und An-
    passungsträumen u. dgl. scheint mir nicht viel sinnreicher,
    als die notgedrungen zugelassene Differenzierung ärztlicher
    Spezialisten in Frauen-, Kinder- und Zahnärzte. Ich nehme
    mir die Freiheit, die Erörterungen der Traumdeutung über
    diesen Punkt hier in äußerster Kürze zu wiederholen.*)

    Als Schlafstörer und Traumbildner können die soge-
    nannten „Tagesreste“ fungieren, aifektbesetzte Denkvorgänge
    des Traumtages‚ welche der allgemeinen Schlaferniedrigung
    einigermaßen Widerstanden haben. Diese Tagesreste denkt
    man auf, indem man den manifesten Traum auf die latenten
    Traumgeda.nken zurückführt; sie sind Stücke dieser letzteren,
    gehören also den — bewußt oder unbewußt gebliebenen ——
    Tätigkeiten des Wachens an, die sich in die Zeit des Schla-
    fens fortsetzen mögen. Entsprechend der Mannigfa.ltigkeit
    der Denkvorgänge im Bewußten und Vorbewußten haben diese

    *)'3. Auflage, 17. 367 u. if.

  • S.

    184 SCHRIFI‘EN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    Tagesreste die vielfachsten und verschiedenartigsten Bedeu-
    tungen, es können unerledigte Wünsche oder Befürchtungen
    sein, ebenso Vorsätze, Überlegungen, Warnungen, Anpassunge-
    versuche an bevorstehende Aufgaben usw. Insofern muß ja
    die in Rede stehende Charakteristik der Träume nach ihrem
    durch Deutung erkannten Inhalt gerechtfertigt erscheinen.
    Aber diese Tagesreste sind noch nicht der Traum, vielmehr
    fehlt ihnen das Wesentliche, was den Traum ausmacht. Sie
    sind für sich allein nicht im Stande, einen Traum zu bilden.
    Streng genommen sind sie -nur psychisches Material für die
    Traumarbeit, wie die zufällig vorhandenen Sinnes- und Leib-
    reize oder eingeführte experimentelle Bedingungen deren so—
    matisches Material bilden. Ihnen die Hauptrolle bei der
    Traumbildung zuschreiben, heißt nichts anderes als den vor—
    analytischen Irrtum an neuer Stelle wiederholen, Träume er-
    klärten sich durch den Nachweis eines verdorbenen Magens
    oder einer gedrückten Hautstelle. So zählebig sind wissen-
    schaftliche Irrtümer und so gern bereit, sich, wenn abge-
    wiesen, unter neuen Masken Wieder einzuschleichen.

    Soweit wir den Sachverhalt durchschaut haben, müssen
    wir sagen, der wesentliche Faktor der Traumbildung ist ein
    unbewußter Wunsch, in der Regel ein infantiler, jetzt ver-
    drängter, welcher sich in jenem somatischen oder psychischen
    Material (also auch in den Tagesresten) zum Ausdruck brin-
    gen kann und ihnen darum eine Kraft leiht‚ so daß sie auch
    während der nächtlichen Denkpause zum Bewußtsein durch-
    dringen können. Dieses unbewußten Wunsches Erfüllung
    ist jedesmal der Traum, mag er sonst was immer enthalten,
    Warnung, Überlegung, Geständnis und was sonst aus dem
    reichen Inhalt des vorbewußten Wachlebens unerledigt in
    die Nacht hineinragt. Dieser unbewußte Wunsch ist es,

  • S.

    IX. EIN Tamm ALS snwmsnmnr... 185

    welcher der Traumarbeit ihren eigentümlichen Charakter gibt
    als einer unbewußten Bearbeitung eines vorbewußten Ma-
    terials. Der Psychoanalytiker kann den Traum nur charak—
    terisieren als Ergebnis der Traumarbeit; die latenten Traum-
    gedanken kann er nicht dem Träume zurechnen, sondern dem
    vorbewußten Nachdenken, wenngleich er diese Gedanken erst
    aus der Deutung des Traumes erfahren hat. (Die sekundäre
    Bearbeitung durch die bewußte Instanz ist hiebei der Traum-
    arbeit zugezählt; es wird an dieser Auffassung nichts ge-
    ändert, wenn man sie absondert. Man müßte dann sagen:
    der Traum im psychoanalytischen Sinne umfaßt die eigent—
    liche Traumarbeit und die, sekundäre Bearbeitung ihres Er-
    gebnisses.) Der Schluß aus diesen Erwägungen lautet, daß
    man den Wunscherfüflungscharakter des Traumes nicht in
    einen Rang mit dessen Charakter als Warnung, Geständnis,
    Lösungsversuch usw. versetzen darf, ohne den Gesichtspunkt
    der psychischen Tiefendimension, also den Standpunkt der
    Psychoanalyse, zu verleugnen.

    Kehren wir nun zum Träume der Pfiegerin zurück, um
    an ihm den Tiefencharakter der Wunscherfüllung nachzu-
    weisen. Wir sind darauf vorbereitet, daß seine Deutung durch
    die Dame keine vollständige ist. Es erübrigen die Partien
    des Trauminhaltes, denen sie nicht gerecht werden konnte.
    Sie leidet überdies an einer Zwangsneurose, welche nach
    meinen Eindrücken das Verständnis der Traumsymbole er-
    heblich erschwert, ähnlich wie die Dementia praecox es er-
    leichtert.

    Unsere Kenntnis der Traumsyrubolik gestattet uns aber,
    ungedeutete Stellen dieses Traumes zu verstehen und hinter
    den bereits gedeuteten einen tieferen Sinn zu erraten. Es
    muß uns auffallen, daß einiges Material, welches die Pfle-

  • S.

    186 SCImIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. ’ IV.

    gerin verwendet, aus dem Komplex des Gebärens, Kinder-
    habens kommt. Das große Wasser (der Rhein, der Kanal,
    in dem der Walfisch‘ gesehen wurde) ist wohl das Wasser,
    aus dem die Kinder kommen. Sie kommt ja auch dahin „auf
    der Suche nach dem Kinde“. Die Jonasmythe hinter der De-
    terminierung dieses Wassers, die Frage, wie Jonas (das
    Kind) durch die enge Spalte kommt, gehören demselben Zu-
    sammenhang an. Die Pflegerin, die sich aus Kränkung in
    den Rhein gestürzt hat, ins Wasser gegangen ist, hat ja auch
    in ihrer Verzweiflung am Leben eine sexualsymbolisbhe
    Tröstung an der Todesart gefunden. Der enge Steg, auf dem
    ihr die Erscheinung entgegentritt, ist sehr wahrscheinlich
    gleichfalls als ein Genitalsymbol zu deuten, wenngleich ich
    gestehen muß, daß dessen genauere Erkenntnis noch aussteht.

    Der Wunsch: ich will ein Kind haben, scheint also der
    Traumbildner aus dem Unbewußten zu sein, und kein an—
    derer scheint besser geeignet, die Pflegerin über die pein—
    liche Situation der Realität zu trösten. „Man wird mich weg-
    schicken, ich werde mein Pflegekind verlieren. Was liegt
    daran? Ich werde mir dafür ein eigenes, leibliches ver-
    schaffen.“ Vielleicht gehört die ungedeutete Stelle, daß sie
    alle Leute auf der Straße nach dem Kinde fragt, in diesen
    Zusammenhang; sie wäre dann zu übersetzen: und. müßte ich
    mich auf der Straße ausbieten, ich werde mir das Kind zu
    schaffen wissén. Ein bisher verdeckter Trotz der Träumerin
    wird hier plötzlich laut, und zu diesem paßt erst das Ge-
    ständnis: „Also gut, ich habe die Augen zugema‚cht und
    meine Verläßlichkeit als Pflegerin kompromittiert, ich werde
    jetzt die Stelle verlieren. Werde ich so dumm sein, ins Wasser
    zu gehen wie die X? Nein, ich bleibe überhaupt nicht Pfle-
    gerin, ich will heiraten, Weib sein, ein leibliches Kind haben,

  • S.

    1x. EIN TRAUMZ ALS BEWEISMITI‘EL._ 1187

    daran lasse ich mich nicht hindern.“ Diese Übersetzung recht—
    fertigt sich durch die Erwägung, daß „Kinderhaben“ wohl
    der infantile Ausdruck des Wunsches nach dem Sexualverkehr
    ist, wie es auch vor dem Bewußtsein zum euphemistischen
    Ausdruck dieses anstößigen Wunsches gewählt werden kann.

    Das für die Träumerin nachteilige Geständnis, zu dem
    wohl im Wachleben eine gewisse Neigung vorhanden war,
    ist also im Traume ermöglicht worden, indem ein latenter
    Charakterzug der Pflege-rin sich desselben zur Herstellung
    einer infantilen Wunscherfiillung bediente. Wir dürfen ver-
    muten, daß dieser Charakter in innigem Zusammenhang —
    zeitlichem wie inhaltlichem —— mit dem Wunsche nach Kind
    und Sexualgenuß steht.

    Eine weitere Erkundigung bei der Dame, der ich das
    erste Stück dieser Traumdeutung danke, förderte folgende
    unerwartete Aufschlüsse über die Lebensschicksale der Pfle-
    gerin zu Tage. Sie wollte, ehe sie Pflegerin wurde, einen
    Mann heiraten, der sich eifrig um sie bemühte, verzichtete
    aber darauf infolge des Einspruches einer Tante, zu welcher
    sie in einem merkwürdigen, aus Abhängigkeit und Trotz ge-
    mischten Verhältnis steht. Diese Tante, die ihr das Heiraten
    versagte, ist selbst Oberin eines Krankenpflegerordens; die
    Träumerin sah in ihr immer ihr Vorbild, sie ist durch Erb-
    rücksichten an sie gebunden, widersetzte sich ihr aber, in-
    dem sie nicht in den Orden eintrat, den ihr die Tante “be-
    stimmt hatte. Der Trotz, der sich im Traume verraten, gilt
    also der Tante. Wir haben diesem Charakterzug analerotische
    Herkunft zugesprochen und nehmen hinzu, daß es Geldinter-
    essen sind, welche sie von der Tante abhängig machen,
    denken auch daran, daß das Kind die anale Geburtstheorie
    bevorzugt. .

  • S.

    183 scammu ZUR NEUROSEN'LEHBE. 1v.

    Das Moment dieses Kindertrotzes wird uns vielleicht
    einen innigeren Zusammenhang zwischen den ersten und. der
    letzten Szene des Traumes annehmen lassen. Die ehemalige
    Verkäuferin von Eßwaren im Traume ist zunächst die andere
    Dienerin der Dame, die im Moment der Frage: Haben Sie
    mich gesehen? mit dem Nachtmahl ins Zimmer trat. Aber
    es scheint, daß sie überhaupt die Stelle der feindlichen Kon—
    kurrentin zu übernehmen bestimmt ist. Sie wird als Pflege-
    person herabgesetzt, indem sie sich für das verlorene Kind
    gar nicht interessiert, sondern von ihren eigenen Angelegen-
    heiten Antwort gibt. Auf sie wird also die Gleichgültigkeit
    gegen das Pflegekind verschoben, zu der sich die Träumerin
    gewendet hat. Ihr wird die unglückliche Ehe und Scheidung
    angedichtet, welche die Träumerin in ihren geheimsten Wün-
    schen selbst fürchten müßte. Wir Wissen aber, daß es die
    Tante ist, welche die Träumerin von ihrem Verlobten ge-
    schieden hat. So mag die „Verkäuferin von Eßwaren“ (was
    einer infa.ntilen symbolischen Bedeutung nicht zu entbehren
    braucht) zur Repräsentantin der, übrigens nicht viel älteren,
    Tante—Chefin werden, welche bei unserer Träumerin die her—
    gebrachte Rolle der Mutter-Konkurrentin eingenommen hat.
    Eine gute Bestätigung dieser Deutung liegt in dem Umstand,
    daß der im Traume „bekannte“ Ort, an dem sie die in Rede
    stehende Person vor ihrer Tür findet, der Ort ist, wo eben
    diese Tante als Oberin lebt.

    Infolge der Distanz, welche den Analysierenden vom Ob-
    jekt der Analyse trennt, muß es ratsam werden, nicht weiter
    in das Gewebe dieses Traumes einzudringen. Man darf viel-
    leicht sagen, auch soweit er der Deutung zugänglich wurde,
    zeigte er sich reich an Bestätigungen wie an neuen Pro—
    blemen.