S.
Xl.
MYTHOLOGISCHE PARALLELE ZU EINER
PLASTISCHEN ZWANGSVORSTELLUNG. *)Bei einem etwa 2ljåhrigen Kranken werden die Produkte
der unbewuften Geistesarbeit nicht nur als Zwangsgedanken,
sondern auch als Zwangsbilder bewuBt. Die beiden kónnen
einander begleiten oder unabhängig voneinander auftreten.
Zu einer gewissen Zeit traten bei ihm innig verknüpft ein
Zwangswort und ein Zwangsbild auf, wenn er seinen Vater
ins Zimmer kommen sah. Das Wort lautete: , Vaterarsch",
das begleitende Bild stellte den Vater als einen nackten, mit
Armen und Beinen versehenen Unterkérper dar, dem Kopf
und Oberkórper fehlten. Die Genitalien waren nicht ange-
zeigt, die Gesichtszüge auf dem Bauch aufgemalt.Zur Erläuterung dieser mehr als gewöhnlich tollen
Symptombildung ist zu bemerken, daß der intellektuell voll-
entwickelte und ethisch hochstrebende Mann bis über sein
zehntes Jahr eine sehr lebhafte Analerotik in den verschie-
densten Formen betätigt hatte. Nachdem sie überwunden
war, wurde sein Sexualleben durch den späteren Kampf gegen
die Genitalerotik auf die anale Vorstufe zurickgedrångt.
Seinen Vater liebte und respektierte er sehr, fürchtete ihn
auch nicht wenig; vom Standpunkte seiner hohen Ansprüche*) Intern. Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse, IV, 1916.
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196 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV,
an Triebunterdriickung und Askese erschien ihm der Vater
aber als der Vertreter der ,,Völlerei“, der aufs Materielle ge-
richteten GenuBsucht.⑧ »Vaterarsch“ erklärte sich bald als mutwillige Ver-
deutschung des Ehrentitels , Patriarch“. Das Zwangsbild ist
eine offenkundige Karikatur. Es erinnert an andere Dar-
stellungen, die in herabsetzender Absicht die ganze Person
durch ein einziges Organ, z. B. ihr Genitale ersetzen, an un-
bewußte Phantasien, welche zur Identifizierung des Genitales
mit dem ganzen Menschen führen, und an scherzhafte Redens-
arten, wie: „Ich bin ganz Ohr,“ ⑧Dic Anbringung der Gesichtsziige auf dem Bauche der
Spottfigur erschien mir zunächst sehr sonderbar. Ich er-
innerte mich aber bald, ähnliches an französischen Karikaturen
gesehen zu haben. (Vgl.: Das unanståndige Albion, Karikatur
von Jean Veber aus dem Jahre 1901 auf England in E.
Fuchs. Das Erotische Element in der Karikatur 1904.) Der
Zufall hat mich dann mit einer antiken Darstellung bekannt
gemacht, die volle Ubereinstimmung mit dem Zwangsbild
meines Patienten zeigt,Nach der griechischen Sage war Demeter auf der Suche
nach ihrer geraubten Tochter nach Eleusis gekommen, fand
Aufnahme bei Dysaules und seiner Frau Baubo, verweigerte
aber in ihrer tiefen Trauer, Speise und Trank zu berühren.
Da brachte sie die Wirtin Baubo zum Lachen, indem sie
plötzlich ihr Kleid aufhob und ihren Leib enthüllte. Die
Diskussion dieser Anekdote, die wahrscheinlich. ein nicht
mehr verstandenes magisches Zeremoniell erkliren soll, findet
sich im vierten Bande des Werkes „Cultes Mythes et Reli-
gions“, 1912, von Salomon Reinach. Ebendort wird auch
erwähnt, daß sich bei den Ausgrabungen des kleinasiatischenS.
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