S.
XXVII
DAS MOTIV DER KASTOHENWAHL.“I
Zwei Szenen aus Shakespeare, eine heitere und eine
tragische, haben mir kiirzlich den AnlaB zu einer kleinen
Problemstellung und Lösung gegeben. :Die heitere ist die Wahl des Freiers zwischen drei Käst-
chen im „Kaufmann von Venedig“. Die schöne und kluge
Porzia ist durch den Willen ihres Vaters gebunden, nur den
von ihren Bewerbern zum Manne zu nehmen, der von drei
ihm vorgelegten Kästchen das richtige wählt. Die drei Käst-
chen sind von Gold, von Silber und von Blei; das richtige
ist jenes, welches ihr Bildnis einschließt. Zwei Bewerber sind
bereits erfolglos abgezogen, sie hatten Gold und Silber ge-
wählt. Bassanio, der dritte, entscheidet sich für das Blei;
er gewinnt damit die Braut, deren Neigung ihm bereits vor
der Schicksalsprobe gehört hat. Jeder der Freier hatte seine
Entscheidung durch eine Rede motiviert, in welcher er das
von ihm bevorzugte Metall anpries, während er die beiden
anderen herabsetzte. Die schwerste Aufgabe war dabei dem
glücklichen dritten Freier zugefallen; was er zur Verherr-
lichung des Bleis gegen Gold und Silber sagen kann, ist
wenig und klingt gezwungen. Stünden wir in der psycho-*) Imago, II, 1913.
S.
XXVII. DAS MOTIV DER KÅSTCHENWAHL. 471
analytischen Praxis vor solcher Rede, so würden wir hinter
der unbefriedigenden Begründung geheimgehaltene Motive
wittern. :Shakespeare hat das Orakel der Kåstchenwahl nicht
selbst erfunden, er nahm es aus einer Erzählung der „Gesta
Romanorum“, in welcher ein Madchen dieselbe Wahl vor-
nimmt, um den Sohn des Kaisers zu gewinnen.*) Auch hier
ist das dritte Metall, das Blei, das Glückbringende. Es ist
nicht schwer zu erraten, daB hier ein altes Motiv vorliegt,
welches nach Deutung, Ableitung und Zurückführung ver-
langt. Eine erste Vermutung, was wohl die Wahl zwischen
Gold, Silber und Blei bedeuten möge, findet bald Bestätigung
durch eine Äußerung von E. Stucken**), der sich in weit-
ausgreifendem Zusammenhang mit dem nämlichen Stoffe be-
schäftigt. Er sagt: , Wer die drei Freier Porzias sind, erhellt
aus dem, was sie wählen: Der Prinz von Marokko wählt den
goldenen Kasten: er ist die Sonne; der Prinz von Arragon
wählt den silbernen Kasten: er ist der Mond; Bassanio wählt
den bleiernen Kasten: er ist der Sternenknabe.“ Zur Unter-
stützung dieser Deutung zitiert er eine Episode aus dem est-
nischen Volksepos Kalewipoeg, in welcher die drei Freier
unverkleidet als Sonnen-, Mond- und Sternenjüngling („des
Polarsterns ältestes Söhnchen“) auftreten und die Braut wie-
derum dem Dritten zufällt.So führte also unser kleines Problem auf einen Astral-
mythus! Nur schade, daß wir mit dieser Aufklärung nicht
zu Ende gekommen sind. Das Fragen setzt sich weiter fort,
denn wir glauben nicht mit manchen Mythenforschern, daß
die Mythen vom Himmel herabgelesen worden sind, vielmehr*) G. Brandes, Wiliam Shakespeare, 1896.
**) Ed. Stucken, Astralmythen, p. 655, Leipzig 1907.
S.
472 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
urteilen wir mit О. Rank”), daß sie auf den Himmel pro-
jiziert wurden, nachdem sie anderswo unter rein mensch-
lichen Bedingungen entstanden waren. Diesem menschlichen
Inhalte gilt aber unser Interesse.Fassen wir unseren Stoff nochmals ins Auge. Im est-
nischen Epos wie in der Erzählung der Gesta Romanorum
handelt es sich um die Wahl eines Mädchens zwischen drei
Freiern, in der Szene des „Kaufmann von Venedig" anschei-
nend um das nåmliche, aber gleichzeitig tritt an dieser letz-
ten Stelle etwas wie eine Umkehrung des Motivs auf: Ein
Mann wählt zwischen drei — Kästchen, Wenn wir es mit
einem Traum zu tun håtten, wiirden wir sofort daran den-
ken, daB die Kåstchen auch Frauen sind, Symbole des We-
sentlichen an der Frau und darum der Frau selbst, wie
Biichsen, Dosen, Schachteln, Körbe usw. Gestatten wir uns
eine solche symbolische Ersetzung auch beim Mythus anzu-
nehmen, so wird die Kåstchenszene im „Kaufmann von Ve-
nedig^ wirklich zur Umkehrung, die wir vermutet haben.
Mit einem Rucke, wie er sonst nur im Märchen beschrieben
wird, haben wir unserem Thema das astrale Gewand abge-
streift und sehen nun, es behandelt ein menschliches Motiv,
die Wahl eines Mannes zwischen drei Frauen.Dasselbe ist aber der Inhalt einer anderen Szene Shake-
speares in einem der erschiitterndsten seiner Dramen, keine
Brautwahl diesmal, aber doch durch so viel geheime Ahn-
lichkeiten mit der Kåstchenwahl im „Kaufmann“ verknüpft.
Der alte Konig Lear beschließt noch bei Lebzeiten sein Reich
unter seine drei Töchter. zu verteilen, je nach Maßgabe der
Liebe, die sie fiir ihn äußern. Die beiden älteren, Goneril% O. Rank, Der Mythus von der Geburt des Helden, p. 8 fg,
Wien und Leipzig' 1909.S.
XXVIL DAS MOTIV DER KASTCHENWAHL. 473
und Regan, erschópfen sich in Beteuerungen und Anprei-
sungen ihrer Liebe, die dritte, Cordelia, weigert sich dessen.
Er hatte diese unscheinbare, wortlose Licbe der Dritten er-
kennen und belohnen sollen, aber er verkennt sie, verstößt
Cordelia und teilt das Reich unter die beiden anderen, zu
seinem und aller Unheil. Ist das nicht wieder eine Szene
der Wahl zwischen drei Frauen, von denen die jüngste die
beste, die vorzüglichste ist?Sofort fallen uns nun aus Mythus, Märchen und Dich-
tung andere Szenen ein, welche die nämliche Situation zum
Inhalte haben: Der Hirte Paris hat die Wahl zwischen drei
Gottinnen, von denen er die dritte zur Schönsten erklärt.
Aschenputtel ist eine ebensolche Jüngste, die der Kônigs-
sohn den beiden Älteren vorzieht, Psyche im Märchen des
Apulejus ist die jingste und schonste von drei Schwestern,
Psyche, die einerseits als menschlich gewordene Aphrodite
verehrt wird, anderseits von dieser Göttin behandelt wird
wie Aschenputtel von ihrer Stiefmutter, einen vermischten
Haufen von Samenkórnern schlichten soll und es mit Hilfe
von kleinen Tieren (Tauben bei Aschenputtel, Ameisen bei
Psyche) zustandebringt.*) Wer sich weiter im Materiale um-
sehen wollte, würde gewiß noch andere Gestaltungen desselben
Motives mit Erhaltung derselben wesentlichen Ziige auffinden
können.Begnügen wir uns mit Cordelia, Aphrodite, Aschenputtel
und Psyche! Die drei Frauen, von denen die dritte die vor-
züglichste ist, sind wohl als irgendwie gleichartig aufzu-
fassen, wenn sie als Schwestern vorgeführt werden. Es soll
uns nicht irre machen, wenn es bei Lear die drei Töchter*) Den Hinweis auf diese Ubereinstimmungen verdanke ich Dr.
O. Rank. sS.
474 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE, IV.
des Wahlenden sind, das bedeutet vielleicht nichts anderes,
als daB Lear als alter Mann dargestellt werden soll. Den
alten Mann kann man nicht leicht anders zwischen drei
Frauen wählen lassen; darum werden diese zu seinen Töchtern.Wer sind aber diese drei Schwestern und warum muß
die Wahl auf die Dritte fallen? Wenn wir diese Frage beant-
worten könnten, wären wir im Besitze der gesuchten Deutung.
Nun haben wir uns bereits einmal der Anwendung psycho-
analytischer Techniken bedient, als wir uns die drei Kåst-
chen symbolisch als drei Frauen aufklårten. Haben wir den
Mut, ein solches Verfahren fortzusetzen, so betreten wir einen
Weg, der zunächst ins Unvorhergesehene, Unbegreifliche, auf
Umwegen vielleicht zu einem Ziele führt.Es darf uns auffallen, daB jene vorzügliche Dritte in
mehreren Fállen aufer ihrer Schónheit noch gewisse Beson-
derheiten hat. Es sind Eigenschaften, die nach irgendeiner
Einheit zu streben scheinen; wir dürfen gewi nicht erwarten,
sie in allen Beispielen gleich gut ausgeprágt zu finden. Cor-
delia macht sich unkenntlich, unscheinbar wie das Blei, sie
bleibt stumm, sie „liebt und schweigt“. Aschenputtel ver-
birgt sich, so daß sie nicht aufzufinden ist. Wir dürfen viel-
leicht das Sichverbergen dem Verstummen gleichsetzen. Dies
wären allerdings nur zwei Fälle von den fünf, die wir heraus-
gesucht haben. Aber eine Andeutung davon findet sich merk-
würdigerweise auch noch bei zwei anderen, Wir haben uns
ja entschlossen, die widerspenstig ablehnende Cordelia dem
Blei zu vergleichen. Von diesem heißt es in der kurzen Rede
des Bassanio wihrend der Kástchenwahl, eigentlich so ganz
unvermittelt :Thy paleness moves me more than eloquence.
(plainness nach anderer Leseart).S.
XXVII. DAS MOTIV DER KASTCHENWAHL. 475
Also: Deine Schlichtheit geht mir näher als der beiden
anderen schreiendes Wesen. Gold und Silber sind „laut“,
das Blei ist stumm, wirklich wie Cordelia, die „liebt und
schweigt“.*)In den altgriechischen Erzählungen des Parisurteils ist
von einer solchen Zurückhaltung der Aphrodite nichts ent-
halten. Jede der drei Gôttinnen spricht zu dem Jüngling
und sucht ihn durch Verheiüungen zu gewinnen. Aber in
einer ganz modernen Bearbeitung derselben Szene kommt der
uns auffällig gewordene Zug der Dritten sonderbarerweise
wieder zum Vorscheine. Im Libretto der „Schönen Helena“
erzählt Paris, nachdem er von den Werbungen der beiden
anderen Göttinnen berichtet, wie sich Aphrodite in diesem
Wettkampfe um den Schönheitspreis benommen :Und die Dritte — ja die Dritte —
Stand daneben und blieb stumm.
Ihr muft ich den Apfel geben usw.Entschliefen wir uns, die Eigentümlichkeiten unserer
Dritten in der „Stummheit* konzentriert zu sehen, so sagt
uns die Psychoanalyse: Stummheit ist im Traume eine ge-
bråuchliche Darstellung des Todes.**)Vor mehr als zehn Jahren teilte mir ein hochintelligenter
Mann einen Traum mit, den er als Beweis für die telepa-
thische Natur der Triume verwerten wollte. Er sah einen
abwesenden Freund, von dem er überlange keine Nachricht
erhalten hatte, und machte ihm eindringliche Vorwürfe über*) In der Schlegelschen Übersetzung geht diese Anspielung ganz
verloren, ja sie wird zur Gegenseite gewendet:Dein schlichtes Wesen spricht beredt mich an.
**) Auch in Stekels „Sprache des Traumes“ 1911 unter den Todes-
symbolen angeführt (p. 351).S.
476 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV,
sein Stillschweigen. Der Freund gab keine Antwort. Es stellte
sich dann heraus, daß er ungefähr um die Zeit dieses Traumes
durch Selbstmord geendet hatte. Lassen wir das Problem
der Telepathie beiseite; daß die Stummheit im Traume zur
Darstellung des Todes wird, scheint hier nicht zweifelhaft.
Auch das Sichverbergen, Unauffindbarsein, wie es der Mär-
chenprinz dreimal beim Aschenputtel erlebt, ist im Traume
ein unverkennbares Todessymbol; nicht minder die auffällige
Blåsse, an welche die paleness des Bleies in der einen Lesc-
art des Shakespeareschen Textes erinnert.*) Die Uber-
tragung dieser Deutungen aus der Sprache des Traumes auf
die Ausdrucksweise des uns beschåftigenden Mythus wird uns
aber wesentlich erleichtert, wenn wir wahrscheinlich machen
können, daß die Stummheit auch in anderen Produktionen,
die nicht Tråume sind, als Zeichen des Totseins gedeutet
werden muß,Ich greife hier das neunte der Grimm schen Volks-
mårchen heraus, welches die Überschrift hat: , Die zwölf
Brūder“.**) Ein König und eine Königin hatten zwölf Kin-
der, lauter Buben. Da sagte der Konig, wenn das dreizehnte
Kind ein Mädchen ist, müssen die Buben sterben. In Er-
wartung dieser Geburt läßt er zwölf Sárge machen. Die
zwölf Söhne flüchten sich mit Hilfe der Mutter in einen
versteckten Wald und schwören jedem Mädchen den Tod,
das sie begegnen sollten,Ein Mädchen wird geboren, wächst heran und erfährt
einmal von der Mutter, daB es zwölf Brüder gehabt hat. Es
beschlieBt, sie aufzusuchen, und findet im Walde den Jüng-
sten, der sie erkennt aber verbergen móchte wegen des Eides*) Stokel Le,
**) S. 50 der Reklamausgabe, I. Bd.S.
XXVII: DAS MOTIV DER KÅSTCHENWAHL. 477
der Brüder, Die Schwester sagt: Ich will gerne sterben, wenn
ich damit meine zwölf Brüder erlösen kann. Die Brüder
nehmen sie aber herzlich auf, sie bleibt bei ihnen und be-
sorgt ihnen das Haus.In einem kleinen Garten. bei dem Hause wachsen zwölf
Lilienblumen; die bricht das Mädchen ab, um jedem Bruder
eine zu schenken, In diesem Augenblicke werden die Brüder
in Raben verwandelt und verschwinden mit Haus und Garten.
— Die Raben sind Seelenvögel, die Tötung der zwölf Brüder
durch ihre Schwester wird durch das Abpflücken der Blumen
von nenem dargestellt, wie zu Eingang durch die Sårge und
das Verschwinden der Brüder, Das Mädchen, das wiederum
bereit ist, seine Brüder vom Tode zu erlösen, erfährt nun als
Bedingung, daß sie sieben Jahre stumm sein, kein einziges
Wort sprechen darf, Sie unterzieht sich dieser Probe, durch
die sie selbst in Lebensgefahr gerät, d. h. sie stirbt selbst
für die Brüder, wie sie es vor dem Zusammentreffen mit
den Brüdern gelobt hat. Durch die Einhaltung der Stumm-
heit gelingt ihr endlich die Erlösung der Raben.Ganz ähnlich werden im Märchen von den „sechs Schwä-
nen“ die in Vögel verwandelten Brüder durch die Stummheit
der Schwester erlöst, d. h. wiederbelebt. Das Mädchen hat
den festen Entschluß gefaßt, seine Brüder zu erlösen, und
„wenn es auch sein Leben kostete“ und bringt als Gemahlin
des Königs wiederum ihr eigenes Leben in Gefahr, weil sie
gegen böse Anklagen ihre Stummheit nicht aufgeben will,Wir würden sicherlich aus den Märchen noch andere
Beweise erbringen können, daß die Stummheit als Darstel-
Iung des Todes. verstanden werden muß, Wenn wir diesen
Anzeichen folgen dürfen, so wäre die dritte unserer Schwe-
stern, zwischen denen die Wahl stattfindet, eine Tote, SieS.
478 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV,
kann aber auch etwas anderes sein, nämlich der Tod selbst,
die Todesgóttin. Vermôge einer gar nicht seltenen Verschie-
bung werden die Eigenschaften, die eine Gottheit den Men-
schen zuteilt, ihr selbst zugeschrieben. Am wenigsten wird
uns solche Verschiebung bei der Todesgôttin befremden, denn
in der modernen Auffassung und Darstellung, die hier vor-
weggenommen würde, ist der Tod selbst nur ein Toter.Wenn aber die dritte der Schwestern die Todesgôttin
ist, so kennen wir die Schwestern. Es sind die Schicksals-
schwestern, die Moiren oder Parzen oder Nornen, dejren
dritte Atropos heiBt: die Unerbittliche,Tn
Stellen wir die Sorge, wie die gefundene Deutung in
unseren Mythus einzufügen ist, einstweilen beiseite, und holen
wir uns bei den Mythologen Belehrung iiber Rolle und Her-
kunft der Schicksalsgóttinnen.*)Die älteste griechische Mythologie kennt nur eine Moioa
als Personifikation des unentrimbaren Schicksals (bei Homer).
Die Fortentwicklung dieser einen Moira zu einem Schwester-
verein von drei (seltener zwei) Gottheiten erfolgte wahr-
scheinlich in Anlehnung an andere Gôttergestalten, denen
die Moiren nahestehen, die Chariten und die Horen.Die Horen sind urspriinglich Gottheiten der himmlischen
Gewässer, die Regen und Tau spenden, der Wolken, pus
denen der Regen niederfållt, und da diese Wolken als Ge-
spinst erfaßt werden, ergibt sich für diese Gottinnen der
Charakter der Spinnerinnen, der dann an den Moiren fixiert
wird. In den von der Sonne verwóhnten Mittelmeerlindern*) Das folgende nach Roschers Lexikon der griechischen und
römischen Mythologie unter den entsprechenden Titeln.S.
XXVII. DAS MOTIV DER KÅSTCHENWAHL, 479
ist es der Regen, von dem die Fruchtbarkeit des Bodens
abhångig wird, und darum wandeln sich die Horen zu Vege-
tationsgottheiten, Man dankt ihnen die Schönheit der Blu-
men und den Reichtum der Friichte, stattet sie mit einer
Fülle von liebenswiirdigen und anmutigen Zügen aus. Sie
werden zu den göttlichen Vertreterinnen der Jahreszeiten
und erwerben vielleicht durch diese Beziehung ihre Dreizahl,
wenn die heilige Natur der Drei zu deren Aufklårung nicht
geniigen sollte. Denn diese alten Volker unterschieden zuerst
nur drei Jahreszeiten: Winter, Frühling und Sommer. Der
Herbst kam erst in späten griechisch-romischen Zeiten hinzu;
dann bildete die Kunst häufig vier Horen ab.Die Beziehung zur Zeit blieb den Horen erhalten; sie
wachten später über die Tageszeiten wie zuerst über die
Zeiten des Jahres; endlich sank ihr Name zur Bezeichnung
der Stunde (heure, ora) herab. Die den Horen und Moiren
wesensverwandten Nornen der deutschen Mythologie tragen
diese Zeitbedeutung in ihren Namen zur Schau. Es konnte
aber nicht ausbleiben, daß das Wesen dieser Gottheiten
tiefer erfaßt und in das Gesetzmäßige im Wandel der Zeiten
verlegt wurde; die Horen wurden so zu Hüterinnen des Natur-
gesetzes und der heiligen Ordnung, welche mit unabånder-
licher Reihenfolge in der Natur das gleiche wiederkehren låBt,Diese Erkenntnis der Natur wirkte zurück auf die Auf-
fassung des menschlichen Lebens. Der Naturmythus wan-
delte sich zum Menschenmythus; aus den Wettergöttinnen
wurden Schicksalsgottheiten. Aber diese Seite der Horen
kam erst in den Moiren zum Ausdrucke, die über die mot-
wendige Ordnung im Menschenleben so unerbittlich wachen
wie die Horen über die Gesetzmäßigkeit der Natur. Das
unabwendbar Strenge des Gesetzes, die Beziehung zu TodS.
480 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
und Untergang, die an den lieblichen Gestalten der Horen
vermieden worden waren, sie prägten sich nun an den Moi-
ren aus, als ob der Mensch den ganzen Ernst des Naturgesetzes
erst dann empfånde, wenn er die eigene Person ihm unter-
‚ordnen soll.Die Namen der drei Spinnerinnen haben auch bei den
Mythologen bedeutsames Verständnis gefunden. Die zweite
Lachesis scheint das „innerhalb der GesetzmiBigkeit des
Schicksals Zufällige“ zu bezeichnen*) — wir würden sagen:
das Erleben 一 wie Atropos das Unabwendbare, den Tod,
und dann bliebe fiir Klotho die as der verhängnis-vollen, mitgebrachten Anlage.
Und nun ist es Zeit, zu dem der Deutung unterliegenden
Motive der Wahl zwischen drei Schwestern zurückzukehren,
Mit tiefem MiBvergniigen werden wir bemerken, wie unver-
ständlich die betrachteten Situationen werden, wenn wir in
sie die gefundene Deutung einsetzen, und welche Widersprüche
zum scheinbaren Inhalte derselben sich dann ergeben. Die
dritte der Schwestern soll die Todesgöttin sein, der Tod
selbst, und im Parisurteile ist es die Liebesgöttin, im Mär-
chen des Apulejus eine dieser letzteren vergleichbare Schön-
heit, im „Kaufmann“ die schönste und klügste Frau, im
Lear die einzige treue Tochter. Kann ein Widerspruch voll-
kommener gedacht werden? Doch vielleicht ist diese un-
wahrscheinliche Steigerung ganz in der Nähe. Sie liegt wirk-
lich vor, wenn in unserem Motive jedesmal zwischen den
Frauen frei gewählt wird, und wenn die Wahl dabei auf
den Tod fallen soll, den doch niemand wählt, dem man
durch ein Verhängnis zum Opfer fällt.*) J. Roscher nach Preller-Robert, Griech. Mythologie.
S.
XXVII. DAS MOTIV DER KÅSTCHENWAHL. 481
Indes Widerspriiche von einer gewissen Art, Ersetzun-
gen durch das volle kontradiktorisehe Gegenteil bereiten der
analytischen Deutungsarbeit keine ernste Schwierigkeit. Wir
werden uns hier nicht darauf berufen, daB Gegensåtze in
den Ausdrucksweisen des UnbewuBten wie im Traume so
håufig durch eines und das nåmliche Element dargestellt
werden. Aber wir werden daran denken, daß es Motive im
Scelenleben gibt, welche die Ersetzung durch das Gegenteil
als sogenannte Reaktionsbildung herbeiführen, und können
den Gewinn unserer Arbeit gerade in der Aufdeckung solcher
verborgener Motive suchen. Die Schöpfung der Moiren ist
der Erfolg einer Einsicht, welche den Menschen mahnt, auch
er sei ein Stück der Natur und darum dem unabänderlichen
Gesetze des Todes unterworfen. Gegen diese Unterwerfung
mußte sich etwas im Menschen stråuben, der nur höchst
ungern auf seine Ausnahmsstellung verzichtet. Wir wissen,
daB der Mensch seine Phantasietåtigkeit zur Befriedigung
seiner von der Realitåt unbefriedigten Wiinsche verwendet.
So Ichnte sich denn seine Phantasie gegen die im Moiren-
mythus verkörperte Einsicht auf und schuf den davon ab-
geleiteten Mythus, in dem die Todesgôttin durch die Liebes-
gôttin, und was ihr an menschlichen Gestaltungen gleich-
kommt, ersetzt ist. Die dritte der Schwestern ist nicht mehr
der Tod, sie ist die schönste, beste, begehrenswerteste, lie-
benswerteste der Frauen. Und diese Ersetzung war technisch
keineswegs schwer; sie war durch eine alte Ambivalenz vor-
bereitet, sie vollzog sich lings eines uralten Zusammenhanges,
der noch nicht lange vergessen sein konnte, Die Liebesgót-
tin selbst, die jetzt an die Stelle der Todesgöttin trat, war
einst mit ihr identisch gewesen. Noch die griechische Aphro-
dite entbehrte nicht völlig der Beziehungen zur Unterwelt,Freud, Neurosenlchre. IV. 31
S.
482 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
obwohl sie ihre chthonische Rolle längst an andere Gøtter-
gestalten, an die Persephone, die dreigestaltige Artemis-He-
kate, abgegeben hatte. Die großen Muttergottheiten der orien-
talischen Völker scheinen aber alle ebensowohl Zeugerinnen
wie Vernichterinnen, Göttinnen des Lebens und der Befruch-
tung wie Todesgôttinnen gewesen zu sein. So greift die Er-
setzung durch ein Wunschgegenteil bei unserem Motive auf
eine uralte Identität zurück,Dieselbe Erwägung beantwortet uns die Frage, woher der
Zug der Wahl in den Mythus von den drei Schwestern ge-
raten ist. Es hat hier wiederum eine Wunschverkehrung statt-
gefunden. Wahl steht an der Stelle von Notwendigkeit, von
Verhängnis, So überwindet der Mensch den Tod, den er in
seinem Denken anerkannt hat. Es ist kein stärkerer Triumph
der Wunscherfüllung denkbar, Man wählt dort, wo man in
Wirklichkeit dem Zwange gehorcht, und die man wählt, ist
nicht. die Schreckliche, sondern die Schönste und Begehrens-
werteste,Bei näherem Zusehen merken wir freilich, daß die Ent-
stellungen des ursprünglichen Mythus nicht gründlich genug
sind, um sich nicht durch Resterscheinungen zu verraten,
Die freie Wahl zwischen den drei Schwestern ist eigentlich
keine freie Wahl, denn sie muß notwendigerweise die dritte
treffen, wenn nicht, wie im Lear, alles Unheil aus ihr ent-
stehen soll. Die Schönste und Beste, welche an Stelle der
göttin getreten ist, hat Züge behalten, die an das Un-
heimliche streifen, so daß wir aus ihnen das Verborgene er-raten konnten.*)
*) Auch die Psyche des Apulejus hat reichlich Züge bewahrt,
welche an ihre Beziehung zum Tode mahnen. Ihre Hochzeit wird gerüstet
wie eine Leichenfeier, sie muß in die Unterwelt hinabsteigen und ver-
sinkt nachher in einen totenähnlichen Schlaf (О. Rank).S.
XXVII. DAS MOTIV DER KÄSTCHEN WAHL, 483
Wir haber bisher den Mythus und seine Wandlung vers
folgt und hoffen die geheimen Gründe dieser Wandlung auf-
gezeigt zu haben. Nun darf uns wohl die Verwendung des
Motivs beim Dichter interessieren. Wir bekommen den Ein-
druck, als ginge beim Dichter eine Reduktion des Motivs
auf den ursprünglichen Mythus vor sich, so daß der ergrei-
fende, durch dic Entstellung abgeschwächte Sinn des letz-
teren von uns wieder verspürt wird. Durch diese Reduktion
der Entstellung, die teilweise Rückkehr zum Ursprünglichen,
erziele der Dichter die tiefere Wirkung, die er bei uns erzeugt.Um Mißverständnissen vorzubeugen, will ich sagen, ich
habe nicht die Absicht zu widersprechen, daß das Drama
vom König Lear die beiden weisen Lehren einschärfen wolle;
man solle auf sein Gut und seine Rechte nicht zu Lebzeiten
verzichten, und man müsse sich hüten, Schmeichelei für bare
Münze zu nehmen, Diese und ähnliche Mahnungen ergeben
sich wirklich aus dem Stücke, aber es erscheint mir ganz
unmöglich, die ungeheure Wirkung des Lear aus dem Fin-
drucke dieses Gedankeninhaltes zu erklären oder anzunehmen,
daß die persönlichen Motive: des Dichters mit der Absicht
diese Lehren vorzutragen, erschöpft seien. Auch die Auskunft,
der Dichter habe uns die Tragödie der Undankbarkeit vor-
spielen wollen, deren Bisse er wohl am eigenen Leibe ver-Uber die Bedeutung der Psyche als Frühlingsgottheit und als „Braut
des Todes“ s. A. Zinzow: „Psyche und Eros“ (Halle 1881).In einem anderen Grim m schen Märchen (Nr. 179, Die Gänsehirtin
am Brunnen) findet sich wie beim Aschenputtel die Abwechslung von
schöner und häßlicher Gestalt der dritten Tochter, in der man wohl eine
Andeutung von deren Doppelnatur — vor und nach der Ersetzung —
erblicken darf. Diese dritte wird von ihrem Vater nach einer Probe
verstoßen, welche mit der im König Lear fast zusammenfällt. Sie soll
wie die anderen Schwestern angeben, wie lieb sie den Vater hat, findet
aber keinen anderen Ausdruck ihrer Liebe als den Vergleich mit dem
Salze. (Freundliche Mitteilung von Dr. Hanns Sachs.)31%
S.
484 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
spürt, und die Wirkung des Spieles beruhe auf dem rein
formalen Momente der künstlerischen Einkleidung, scheint
mir das Verständnis nicht zu ersetzen, welches uns durch
die Würdigung des Motivs der Wahl zwischen den drei
Schwestern eröffnet wird.Lear ist ein alter Mann. Wir sagten schon, darum er-
scheinen die drei Schwestern als seine Töchter. Das Vater-
verhältnis, aus dem so viel fruchtbare dramatische Antriebe
erflieben könnten, wird im Drama weiter nicht verwertet.
Lear ist aber nicht nur ein Alter, sondern auch ein Ster-
bender. Die so absonderliche Voraussetzung der Erbteilung
verliert dann alles Befremdende. Dieser dem Tode Verfal-
lene will aber auf die Liebe des Weibes nicht verzichten,
er will hören, wie sehr er geliebt wird. Nun denke man an
die erschütternde letzte Szene, einen der Höhepunkte der
Tragik im modernen Drama: Lear trägt den Leichnam der
Cordelia auf die Bühne. Cordelia ist der Tod. Wenn man
die Situation umkehrt, wird sie uns verständlich und ver-
traut. Es ist die Todesgöttin, die den verstorbenen Helden
vom Kampfplatze wegträgt, wie die Walküre in der deut-
schen Mythologie. Ewige Weisheit im Gewande des uralten
Mythus rät dem alten Manne, der Liebe zu entsagen, den
Tod zu wählen, sich mit der Notwendigkeit des Sterbens zu
befreunden.Der Dichter bringt uns das alte Motiv nåher, indem er
die Wahl zwischen den drei Schwestern von einem Gealterten
und Sterbenden vollziehen läßt. Die regressive Bearbeitung,
die er so mit dem durch Wunschverwandlung entstellten
Mythus vorgenommen, läßt dessen alten Sinn so weit durch-
schimmern, daß uns vielleicht auch eine flächenhafte, alle-
gorische Deutung der drei Frauengestalten des Motivs er-S.
XXVII, DAS MOTIV DER KÅSTCHENWAHL. 485
möglicht wird. Man könnte sagen, es seien die drei fiir den
Mann unvermeidlichen Beziehungen zum Weibe, die hier dar-
gestellt sind: Die Gebårerin, die Genossin und die Verder-
berin. Oder die drei Formen, zu denen sich ihm das Bild
der Mutter im Laufe des Lebens wandelt: Die Mutter selbst,
die Geliebte, die er nach deren Ebenbild gewählt, und zuletzt
. die Mutter Erde, die ihn wieder aufnimmt, Der alte Mann
. aber hascht vergebens nach der Liebe des Weibes, wie er
sksn4
470
–485