Mitteilung eines der psychoanalytischen Theorie widersprechenden Falles von Paranoia 1915-006/1922
  • S.

    IV.

    MITTEILUNG EINES DER PSYCHOANALYTISCHEN
    THEORIE W'IDERSPRECHENDEN FALLES VON
    PARANOIA. *)

    Vor Jahren ersuchte mich ein bekannter Rechtsanwalt
    um Begutachtung eines Falles, dessen Auffassung ihm zwei-
    felhait erschien. Eine junge Dame hatte sich an ihn ge—
    wendet‚ um. Schutz gegen die Verfolgungen eines Mannes
    zu finden, der sie zu einem Liebesverhä‚ltnis bewegen hatte.
    Sie behauptete, dä.ß dieser Mann ihre Gefügigkeit mißbraucht
    hatte, um von ungesehenen Zuschauern photographische Auf-
    nahmen ihres zärtlichen Beisammenseins herstellen zu lassen;
    nun läge es in seiner Hand., sie durch das Zeigen dieser Bilder
    zu beschärnen und zum Aufgeben ihrer Stellung zu zwingen.
    Der Rechtsfreund war erfahren genug, das krankhafte Ge-
    präge dieser Anklage zu erkennen, meinte aber, es komme
    so viel im Leben vor, was man fiir unglaubwiirdig halten
    möchte, daß ihm das Urteil eines Psychiaters über die Suche
    wertvoll \\"äI‘C. Er versprach, mich ein nächstes Mal in Ge—
    sellschaft der Klägerin zu besuchen.

    Ehe ich meinen Bericht fortsetze, Will ich bekennen,
    daß ich das Milieu der zu untersuchenden Begebenheit zur
    Unkenntlichkeit verändert habe, aber auch nichts anderes
    als dies. Ich halte es sonst für einen Mißbrauch, aus irgend

    *) Intern. Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse, III, 19153. ,

  • S.

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    126 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    welchen, wenn auch aus den besten Motiven, Züge einei-
    Krankengeschichte in der Mitteilung zu entstellen, da man
    unmöglich wissen kann, welche Seite des Falles ein selb—
    ständig urteilender Leser herausgreifen wird, und somit Ge-
    fahr läuft, diesen letzteren in die Irre zu führen.

    Die Patientin, die ich nun bald darauf kennen lernte,
    war ein 30jähriges Mädchen von ungewöhnlicher Anmut und
    Schönheit; sie schien viel jünger zu sein, als sie angab, und
    machte einen echt weiblichen Eindruck. Gegen den Arzt
    henahm sie sich voll ablehnend und gab sich keine Mühe,
    ihr Mißtrauen zu verbergen. Offenbar nur unter dem Drucke

    ‚des mita.nwesenden Rechtsfreundes erzählte sie die folgende

    Geschichte, die mir ein später zu erwähnendes Problem auf—
    gab. Ihre Mienen und Affektäußerungen verrieten dabei nichts
    von einer scharnhaften Befangenheit, wie sie der Einstellung
    zu dem fremden Zuhörer entsprochen hätte. Sie stand aus-
    schließlich unter dem Banne der Besorgnis, die sich aus
    ihrem Erlebnis ergeben hatte.

    Sie war jahrelang Angestellte in einem großen Institut
    gewesen, indem sie einen verantwortlichen Posten zur eigenen
    Befriedigung und zur Zufriedenheit der Vorgesetzten —inno-
    hatte. Liebesbeziehungen zu Männern hatte sie nie gesucht;
    sie lebte ruhig neben einer alten Mutter, deren einzige Stütze
    sie war. Geschwister fehlten, der Vater war vor vielen Jahren
    gestorben. In der letzten Zeit hatte sich ein männlicher
    Beamter desselben Bureans ihr genähert, ein sehr gebildeten
    einnehmencler Mann, dem auch sie ihre Sympathie nicht ver—
    sagen konnte. Eine Heirat zwischen ihnen war durch äußere
    Verhältnisse ausgeschlossen, aber der Mann wollte nichts
    davon wissen, dieser Unmöglichkeit wegen den Verkehr auf—
    zugeben. Er hielt ihr vor, wie unsinnig es sei, wegen sozialer

  • S.

    IV. MITTEILUNG EINES FALLES VON PARANOIA. 127

    Konventionen auf alles zu verzichten, was sie sich beide
    wünschten, worauf sie ein unzvveifelhaftes Anrecht hätten,
    und was wie nichts anderes zur Erhöhung des Lebens bci—
    triige. Da er versprochen hatte, sie nicht in Gefahr zu
    bringen, Willigte sie endlich ein, ihn in seiner Junggesellen-
    wohnung bei Tage zu besuchen. Dort kann es nun zu Küssen
    und Umarmungen, sie lagerten sich nebeneinander, er be-
    wunderte ihre zum Teil enthüllte Schönheit. Mitten in dieser
    Schäferstunde wurde sie durch ein einmaliges Geräusch wie
    ein Pochen oder Ticken erschreckt. Es kann von der Gegend
    des Schreibtisches her, welcher schräg vor dem Fenster
    stand; der Zwischenraum‚zwischen Tisch und Fenster war
    zum Teil von einem schweren Vorhang eingenommen. Sie
    erzählte, daß sie den Freund sofort nach der Bedeutung des
    Geräusches gefragt und von ihm die Auskunft bekommen
    hatte, es rühre wahrscheinlich von der kleinen7 auf dem
    Schreibtisch befindlichen Stehuhr her; ich werde mir aber
    (lie Freiheit nehmen, zu. diesem Teil ihres Berichtes später
    eine Bemerkung zu machen.

    Als sie das Haus verließ, traf sie noch auf der Treppe
    niit zwei Männern zusammen, die bei ihrem Anblick einan—
    der etwas zuflüsterten. Einer der beiden Unbekannten trug
    einen verhüllten Gegenstand Wie ein Kästchen. Die Begeg-
    nung beschäftigte ihre Gedanken; noch auf dem Heimwege
    bildete sie die Kombination, dies Kästchen könnte leicht
    ein photographischer Apparat gewesen sein, der Mann, der
    cs “trug. ein Photograph, der während ihrer Anwesenheit im
    Zimmer hinter dem Vorhang versteckt geblieben war, und
    (las Tickcn, das sie gehört, das Geräusch des Abdriickens,
    nachdem der Mann die besonders verfängliche Situation her-
    ausgefunden, die er im Bilde festhalten wollte. Ihr Argwohn

  • S.

    128 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    \

    gegen den Geliebten war von da, an nicht mehr zum Schwei—
    gen zu bringen; sie verfolgte ihn mündlich und schriftlich
    mit der Anforderung ihr Aufklärung und Beruhigung zu
    geben, und mit; Vorwürfen, erwies sich aber unzugäuglich
    gegen die Versicherungen, die er ihr machte, mit denen er
    die Aufrichtigkeit seiner Gefühle und die Grundlosigkcit ihrer
    Verdächtigung vertrat. Endlich wandte sie sich an den Ad—
    vokaten, erzählte ihm ihr Erlebnis und übergab ihm die
    Briefe, die sie in dieser Angelegenheit von dem Verdächtigten
    erhalten hatte, Ich konnte später in einige dieser Briefe Ein-
    sicht nehmen; sie machten mir den besten Eindruck; ihr
    Hauptinhalt war das Beclauern, daß ein so schönes, zärtliches
    Einvernehmen durch diese „unglückselige krankhafte Idee"
    zerstört werden sei.

    Es bedarf wohl keiner Rechtfertigung, (laß ich das Ur-
    teil des Beschuldigten auch zu dem meinigen machte. Aber
    der Fall hatte für mich ein anderes als bloß diagnostisches
    Interesse. Es war in der psychoanalytisehen Literatur be—
    hauptet werden, daß der Paranoiker gegen eine Verstärkung
    seiner homosexuellen Strebungen a.nkä.mpft‚ was im Grunde
    auf eine narzißtische Objektwahl zurückweist. Es war ferner
    gedeutet werden, daß der Verfolger im Grunde der Geliebte
    oder der ehemals Geliebte sei. Aus der Zusammensetzung
    beider Aufstellungen ergibt sich die Forderung, der Verfolger
    müsse von demselben Geschlecht sein wie der Verfolgtc. Den
    Satz von der Bedingtheit der Paranoia durch die Homo-
    sexualität hatten wir allerdings nicht als allgemein und aus-
    nahmslos gültig hingestellt, aber nur‘da‚rum nicht, lveil un—
    sere Beobachtungen nicht genug zahlreich waren. Er gehörte
    sonst zu jenen, die infolge gewisser Zusammenhänge nur
    dann bedeutungsvoll sind, wenn sie Allgemeinheit bean—

  • S.

    IV. MITTEILUNG EINES FALLES VON PARANOIA. ‘ 129

    spruchen können, In der psychiatrischen Literatur fehlte es
    gewiß nicht an Fällen, in denen sich der Kranke von Ange—
    hörigen des anderen Geschlechtes verfolgt glaubte, aber es
    blieb ein anderer Eindruck, von solchen Fällen zu lesen, als
    einen derselben selbst vor sich zu sehen. Was ich und meine
    Freunde hatten beobachten und analysieren können, hatte bis-
    her die Beziehung der Paranoia, zur Homosexualität ohne
    Schwierigkeit bestätigt. Der hier vorgeführte Fall sprach
    mit aller Entschiedenheit dagegen. Das Mädchen schien die
    Liebe zu einem Mann abzuwehren, indem sie den Geliebten
    unmittele in den Verfolger verwandelte; vom Einfluß des
    W'eibes, von einem Sträuben gegen eine homosexuelle Bin-
    dung war nichts zu finden.

    Bei dieser Sachlage war es wohl das Einfachste, die
    Parteinahme fiir eine allgemein gültige Abhängigkeit des
    ‚Verfolgungswahnes von der Homosexualität und alles, was
    sich weiter daran knüpfte, wieder aufzugeben. Man mußte
    wohl auf diese Erkenntnis verzichten, wenn man sich nicht
    etwa durch diese Abweichung von der Erwartung bestimmen
    ließ, sich auf die Seite des Rechtsfreundes zu schlagen und
    wie er ein richtig gedeutetes Erlebnis anstatt einer parunoi—
    schen Kombination anzuerkennen. Ich sah aber einen an-
    deren Ausweg, welcher die Entscheidung zunächst hinaus-
    schob. Ich erinnerte mich daran, wie oft man in die Lage
    gekommen war, psychisch Kranke falsch zu beurteilen, weil
    man sich nicht eindringlich genug mit ihnen beschäftigt
    und so zu wenig von ihnen erfahren hatte. Ich erklärte also,
    es sei mir unmöglich, heute ein Urteil zu äußern, und bitte
    sie vielmehr, mich ein zweites Mal zu besuchen, um mir die
    Geschichte ausführlicher und mit allen, diesmal vielleicht
    übergangenen, Nebenumsté'mclen zu erzählen. Durch die Ver—

    Freud,»l\‘eurosenlehrc. IV. 9

  • S.

    130 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    mittlung des Advokaten erreichte ich dies Zugesié'uulnis von
    der sonst unwilligen Patientin; er kann mir auch durch die
    Erklärung zu Hilfe, daß bei dieser zweiten Unterredung seine
    Anwesenheit überflüssig sei.

    Die zweite Erzählung der Patientin hob die frühere
    ‘ nicht auf, brachte aber solche Ergänzungen, daß alle Zweifel
    und Schwierigkeiten wegfielen. Vor allem, sie hatte den
    jungen Mann nicht einmal, sondern zweimal in seiner W011»
    nung besucht-. Beim zweiten Zusaminenscin ereignete sich
    die Störung durch das Geräusch, an welches sie ihren Ver-
    dacht angekniipft hatte; den ersten Besuch hatte sie bei
    der ersten Mitteilung unterschlagen, ausgelassen, weil er ihr
    nicht mehr bedeutsam vorkärn. Bei diesem ersten Besuch
    hatte sich nichts Auffälliges zugelragen, wohl aber am Tage
    nachher. Die Abteilung des großen Unternehmens, bei wel-
    cher sie tätig war, stand unter der Leitung einer alten Dame,
    die sie mit den Worten beschrieb: Sie hat; weiße Haare wie
    meine Mutter. Sie. war es gewöhnt, von dieser alten Vorge-
    setzten sehr zärtlich behandelt, auch wohl manchmal geneckt
    zu werden, und hielt sich für ihren besonderen Liebling. Am
    Tage nach ihrem ersten Besuch bei dem jungen Beamten er-
    schien dieser in den Geschäftsräumen, um der alten Dame
    etwas dienstlich mitzuteilen, und während er leise mit. dieser
    sprach, entstand in ihr plötzlich die Gewißhcit, er mache ihr
    Mitteilung von dem gestrigen Abenteuer, ja„ er unterhalte
    längst ein Verhältnis mit ihr, von dem sie selbst nur bisher
    nichts gemerkt habe. Die \\‘eißliaarige, mütterliche Alte wisse
    nun alles. Im weiteren Verlaufe des Tages konnte sie aus dem
    Benehmen und den Äußerungen der Alten diesen ihren Ver-
    dacht bekräftigen: Sie ergriff die nächste Gelegenheit, den
    Geliebten wegen seines Verrates zur Rede zu stellen. Der

  • S.

    IV. MITTEILUNG EINES FALLES VON PARANOIA. 131

    strä,ubte sich natürlich energisch gegen das, was er eine un-
    sinnigc Zumutung hieß, und es gelang ihm in der Tat, sie für
    diesmal von ihrem Wahn abzubringen, so daß sie einigé Zeit
    — ich glaube einige Wochen —— später vertrauensvoll genug
    war, den Besuch in seiner Wohnung zu wiederholen. Das Wei-
    tere ist uns aus der ersten Erzählung der Patientin bekannt,

    Was wir neu erfahren haben, macht zunächst dem Zweifel
    an ‚der krankhaften Natur der Verclä,chtigung ein Ende. Un-
    schwer erkennt man, daß die weißhaarige Vorsteherin ein
    Mutterersatz ist, daß der geliebte Mann trotz seiner Jugend
    an die Stelle des Vaters gerückt wird, und daß es die Macht
    des l\lutterkomplexes ist, welche die Kranke zwingt, ein
    Liebesverhältnis zwischen den beiden imgleichen Partnern,
    aller Unwahrscheinlichkeit zum 'l'rotze, anzunehmen. Damit
    verflüchtigt sich aber auch der anscheinende Widerspruch
    gegen die von der psychoanalytischeu Lehre gelrährte Er-
    wartung, eine überstarke homosexuelle Bindung werde sich
    als die Bedingung zur Entwicklung eines Verfolgungswahnes
    heransstellen. Der ursprüngliche Verfolger, die Instanz, deren
    Einfluß man sich entziehen will, ist auch in diesem Falle
    nicht der Mann, sondern das Weib. Die Vorsteherin weiß
    von den Liebesbeziehungen des Mädchens, mißbilligt sie und
    gibt ihr diese Verurteilung durch geheimnisvolle Andeu—
    tungen zu erkennen. Die Bindung an das gleiche Geschlecht
    \Vidersetzt sich den Bemühungen, ein Mitglied des anderen
    Geschlechtes zum Liebesobjekt zu gewinnen. Die Liebe zur
    Mutter wird zur \Vortfiihrerin all der Strebungen, welche in
    der Rolle eines „Gewisséns“ das Mädchen bei dem ersten
    Schritt auf dem neuen, in vielen—Hinsichten gefährlichen Weg
    zur normalen Sexualbefriedigung zurückhalten wollen, und
    sie erreicht es auch, die Beziehung zum Mannc zu stören.

    9*

  • S.

    132 SCHRIF'I‘EN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    Wenn die Mutter die Sexuulbetä.tigung der Tochter
    hemmt oder aufhält, so erfüllt sie eine normale Funktion,
    welche durch Kindheitsheziehungen vorgezeichnct ist, starke,
    unbewußte Motivierungen besitzt und die Sanktion der Ge—
    sellschaft gefunden hat. Sache der Tochter ist es, sich von
    diesem Einfluß abzulösen und sich auf Grund breiter, ratio—
    neller Motiv-ierung für ein Maß von Gestattung oder Ver—
    sagung des Sexualgenusses zu entscheiden. Verfä.llt sie bei
    dem Versuch dieser Befreiung in neurotische Erkrankung, so
    liegt ein in der Regel überstarker, sicherlich aber unbe-
    herrschter Mutterkomplex vor, dessen Konflikt mit der neuen
    libidinösen Strömung je nach der verwendbaren Disposition
    in der Form dieser oder jener Neurose erledigt wird. In allen
    Fällen werden die Erscheinungen der neurotischen Reaktion
    nicht durch dié'gegenwärtige Beziehung zur aktuellen Mutter,
    sondern durch die infantilen Beziehungen zum urzeitlichen
    Mutterbild bestimmt werden. .

    Von unserer Patientin wissen Wir, daß sie seit langen
    Jahren vaterlos war, wir dürfen auch annehmen, daß sie
    nicht bis zum Alter von 30 Jahren frei vom Menue geblieben
    wäre, wenn ihr nicht eine starke Gefühlsbindung an die
    Mutter eine Stütze geboten hätte. Diese Stütze wird ihr zur
    lästigen Fessel, da ihre Libido auf den Anruf einer eindring—
    liohen Werbung zum Marine zu streben beginnt. Sie sucht
    sie abzustreifen, sich ihrer homosexuellen Bindung zu ent-
    ledigen. Ihre Disposition — von der hier nicht die Rede
    zu sein braucht — gestattet, daß dies in der Form der para-
    noischen Wahnbildung vor sich gehe. Die Mutter wird also
    zur feindseligen, mißgünstigen Beobachterin und Verfolgerin,
    Sie könnte als solche überwunden werden, wenn nicht der
    Mutterkomplex die Macht behielte, die in seiner Absicht

  • S.

    IV. MITTEILUNG EINES FALLES VON PARANOIA. 133

    liegende Fernhaltung vom Manne durchzusetzen. Am Ende
    dieser ersten Phase des Konfliktes hat sie sich also der Mutter
    entfrerndet und dem Marine nicht angeschlossen. Beide kon—
    spirieren ja gegen sie. Da, gelingt es der kräftigen Bemühung
    des Mannes, sie entscheidend an sich zu ziehen. Sie iiber—
    windet den Einspruch der Mutter und ist bereit, dem Ge-
    liebten eine neue Zusammenkunft zu gewähren. Die Mutter
    kommt in den weiteren Gesehehnissen nicht mehr vor ; wir
    dürfen aber daran festhalten, daß in dieser Phase der geliebte
    Mann nicht direkt zum Verfolger geworden war, sondern auf
    dem Wege über die Mutter und kraft seiner Beziehung zur
    Mutter, welcher in der ersten Wahnbildung die Hauptrolle
    zugefallen war.

    Man sollte nun glauben, der Widerstand sei endgültig
    überwunden und das bisher an die Mutter gebundene Mäd—
    chen habe es erreicht, einen Mann zu lieben. Aber nach dem
    zweiten Beisammensein erfolgt eine neue Wahnbildung,
    welche es durch geschickte Benützung einiger Zufälligkciten
    durchsetzt, diese Liebe zu verderben, und somit die Absicht
    des Mutterkomplexes erfolgreich fortfiihrt. Es erscheint uns
    noch immer befremdlich, daß das Weib sich der Liebe zum
    Hanne mit Hilfe eines paränoischen Wahnes erwehren sollte.
    Ehe wir aber dieses Verhältnis näher beleuchten, wollen wir
    den Zufälligkeiten einen Blick schenken, auf welche sich die
    zweite \Vahnbildung, die allein gegen den Mann gerichtete,
    stützt.

    Halb entkleiclet auf dem Divan neben dem Geliebten
    liegend hört sie ein Geräusch wie ein Ticken, Klopfeu, Pochen,
    dessen Ursache sie nicht kennt, das.sie aber später deutet,
    nachdem sie auf der Treppe des Hauses zwei Männer be-
    gegnet hat, ven denen einer etwas wie ein verdecktes Käst-

  • S.

    ]34 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    chen trägt. Sie gewinnt die Überzeugung, daß sie im Auf—
    trage des Geliebten während des inti1nen Beisamrnenseins
    belauscht und photographiert wurde. Es liegt, uns natürlich
    fern zu denken, wenn dies unglückselige Geräusch sich nicht
    ereignet hätte, wäre auch die Wa.hnbildung nicht zu stande
    gekommeri. Wir erkennen vielmehr hinter dieser Zufälligkeit
    etwas Notwendiges, was sich ebenso zwanghaft durchsetzen
    mußte wie die Annahme eines Liebesverhältnisses zwischen
    dem geliebten Marine und der alten, zum Muttercrsatz er-
    korenen Vorsteherin. Die Beobachtung des Liebesverkehres
    der Eltern ist ein selten vermißtes Stück aus dem Schatze
    unbewußter»Phantasien‚ die man bei allen Neurotikern, wahr-
    scheinlich bei allen Menschenkindern, durch die Analyse
    auffinden kann. Ich heiße diese Phantasiebildungen, die der
    Beobachtung des elterlichen Gcschlechtsverkehres, die der
    Verführung7 der Kastration u. a. Urphantasicn und werde
    an anderer Stelle deren Herkunft sowie ihr Verhältnis zum
    individuellen Erleben eingehend untersuchen. Das zufällige
    Geräusch spielt also nur die Rolle einer Provokation, welche
    die typische, im Elternkomplex enthaltene Phantasie von
    der Belauschung aktiviert. Ja, es ist fraglich, ob wir es
    als ein „zufiiliiges“ bezeichnen sollen. Wie O. Rank mir be—
    merkt hat, ist es vielmehr ein notwendiges Requisit dor
    Belauschungsphantasie und wiederholt entweder das Geräusch,
    durch welches sich der Verkehr der Eltern verrät, oder auch
    das, vtoduroh sich das lauschende Kind zu verraten fürchtet.
    Nun erkennen Wir aber mit einem Male, auf welchem Boden
    wir uns befinden. Der Geliebte ist noch immer der Vater.
    an Stelle der Mutter ist sie selbst getreten. Die Belauschimg
    muß dann einer fremden Person zugeteilt werden. Es wird
    uns ersichtlich, auf welche Weise sie sich Ivan der homo-

  • S.

    IV. MITTEILUNG EINES FALLES VON PARANOIA. 135

    sexuellen Abhängigkeit von der Mutter frei gemacht hat.
    Durch ein. Stückchen Regression; anstatt die Mutter zum
    Liebesobjokt zu nehmen, hat sie sicli mit ihr identifiziert,
    ist sie selbst zur Mutter geworden. Die Möglichkeit dieser
    Regression weist auf den narzißtisehen Ursprung ihrer homo-
    sexuellen Objektwahl und somit, auf die bei ihr vorhandene
    Disposition zur paranoischen Erkrankung hin. Man könnte
    einen Gedankengang entwerfen, der zu demselben Ergebnis
    führt wie diese Identifizierung: Wenn die Mutter das tut,
    darf ich es auch; ich habe dasselbe Recht wie die Mutter.

    Man kann in der Aufhebung der Zufälligkeiten einen
    Schritt weiter gehen, ohne zu fordern, daß ihn der Leser
    initinache, denn das Unterbleiben einer tieferen analytischen
    Untersuchung macht es in unserem Falle unmöglich, hier
    über eine gewisse Wahrscheinlichkeit hinauszukommen. Die
    Kranke hatte in unserer ersten Besprechung angegeben} daß
    sie sich sofort nach der Ursache des Geräusches erkundigt
    und die Auskunft erhalten habe, wahrscheinlich habe die
    auf dem Schreibtisch befindliche kleine Stancluhr getickt.
    Ich nehme mir die Freiheit, diese Mitteilung als eine Er-
    innerungstäuschung aufzulösen. Es ist mir viel glaubhafter,
    daß sie zunächst jede Reaktion auf das Geräusch unterlassen,
    und daß ihr dies erst nach dem" Zusammentreffen mit den
    beiden Männern auf der Treppe bedeutungsvoll erschienen
    ist, Den Erklärungsversuch aus dem Ticken der Uhr wird
    der Mann, der das Geräusch vielleicht überhaupt nicht ge-
    hört hatte, später einmal gewagt haben, als ihn der Argwolin
    des Mädchens bestürrnte‚ „Ich weiß nicht, was du da. gehört
    haben kannst; vielleicht hat gerade die Standuhr getickt,
    wie sie es manchmal tut.“ Solche Nachträglichkeit in der
    Verwertung von Eindrücken und solche Verschiebung in der

  • S.

    135 sei—namen ZUR NEUROSENLEHRE. w.

    Erinnerung sind gerade bei der Paranoia. häufig und für sie

    ' charakteristisch. Da. ich aber den Mann nie gesprochen habe
    und die Analyse des Mädchens nicht fortsetzen konnte, bleibt
    meine Annahme unbeweisbar.

    Ich könnte es wagen, in der Zersetzung der angeblich-
    realen „Zufälligkeit“ noch weiter zu gehen. Ich glaube über-
    haupt nicht, daß die Sianduhr gefickt hat, oder daß ein Ge—
    räusch zu hören war. Die Situation7 in der sie sich befand7
    rechtfertigte eine Empfindung von P_oehen [oder Klopfen am
    der Clitoris. Dies war es dann, was sie nachträglich als
    Wahrnehmung von einem äußeren Objekt hinausprojizierte.
    Ganz Ähnliches ist im Träume möglich. Eine meiner hyste-
    rischen Patientinnen berichtete einmal einen kurzen Weck-
    tra.um, zu dem sich kein Material von Einfiillen ergeben
    wollte. Der Traum hieß: Es klopft, und sie waehte auf. Es
    hatte niemand an die Tür geklopft, aber sie war in den
    Nächten vorher durch die peinlichen Sensationen von Polln-
    tionen geweckt werden und. hatte nun ein Interesse daran7
    zu erwaehen, sobald sich die ersten Zeichen der Genital—
    crregung einstellten. Es hatte an der Clitoris gel;lopft. Den
    nämlichen Projektionsvorgang möchte ich bei unserer Para—
    noika an die Stelle des zufälligen Geräusches setzen. Ich
    werde selbstverstä.ndlieh nicht dafür einstellen, daß mir die
    Kranke bei einer flüphtigen Bekanntschaft unter allen An—
    zeichen eines ihr unliebsamen Zwanges einen aufrichtigen
    Bericht über die Vorgänge bei den beiden zärtlichen Zu—
    sammenkünften gegeben, aber, die vereinzelte Clitoriskontrak—
    tion stimmt wohl zu ihrer Behauptung, daß eine Vereinigung
    der Genitalien dabei nicht stattgefunden habe. An der resul—
    tierenden Ablehnung des Mannes hat sicherlich neben dem
    „Gewissen“ auch die Unbefricdigung ihren Anteil.

  • S.

    \

    IV. MITTEILUNG EINES FALLES VON PARANOIA. 137

    Wir kehren nun zu der auffälligen Tatsache zurück,
    daß sich die Kranke der Liebe zum. Menue mit; Hilfe einer
    paranoischen Wahnbildung erwehrt. Den Schlüssel zum Ver-
    ständnis gibt die Entwicklungsgeschichte dieses Wahn88.
    Dieser richtete sich ursprünglich, wie wir erwarten durften,
    gegen das Weib, aber nun wurde auf dem Boden der
    Paranoia der Fortschritt von] \Veibe zum Mannc
    als Objekt vollzogen. Ein solcher Fortschritt ist bei
    der“ Paranoia. nicht gewöhnlich; wir finden in der Regel, daß
    der Verfolgtye an denselben Personen, also auch an demselben
    Geschlecht fixiert bleibt, dem seine Liebeswa.hl vor der parti-
    noischen Umwandlung galt. Aber er wird durch die neu-
    rotische Affektion nicht ausgeschlossen; unsere Beobachtung
    dürfte für viele andere vorbildlich sein. Es gibt außerhalb
    der Paranoia. viele ähnliche Vorgänge, welche bisher nicht
    unter diesem Gesichtspunkt zusammengefaßt werden sind,
    darunter sehr allgemein bekannte. So wird z. B. der soge—
    nannte Neurastheniker durch seine unbewußte Bindung an
    inzestuösc- Liebesobjekte davon abgehalten, ein fremdes Weib ,
    zum Objekt zu nehmen, und in seiner Sexualbetätigung auf
    die Phantasie eingeschränkt. Auf dem Boden der Phantasie
    bringt er aber den ihm versagten Fortschritt zu stande und
    kann Mutter" und Schwester durch fremde Objekte ersetzen.
    Da bei diesen der Einspruch der Zensur entfällt, wird ihm
    die Wahl dieser Ersatzpersonen in seinen Phantasien bewußt.

    Die Phänomene des versuchten Fortschrittes, von dem
    neuen meist regressiv erworbenen Boden her, stellen sich den
    Bemühungen zur Seite, welche bei manchen Neurosen un-
    ternommen werden, um eine bereits innegehabte, aber ver—
    lorene Position der Libido Wieder zu gewinnen; Die beiden
    Reihen ‚von Erscheinungen 'sind begrifflich kaum yoneinzm—

  • S.

    133 sonnn‘rmr ZUR NEUROSENLEH'RE. IV.

    der zu trennen. Wir neigen allzusehr zu der Auffassung, daß
    der Konflikt, welcher der Neurose zu Grunde liegt, mit der
    Symptombildung abgeschlossen sei. In Wirklichkeit geht der
    Kampf vielfach auch nach der Symptombildung weiter. Auf
    beiden Seiten tauchen neue Triebanteile auf, welche ihn
    fortführen. Das Symptom selbst wird zum Objekt dieses
    Kampfes; Strebungen, die es behaupten wollen, messen sich
    mit anderen, die seine Aufhebung und die Herstellung des
    früheren Zustandes durchzusetzen bemüht sind. Häufig wer-
    den Wege gesucht, um das Symptom zu entwerten, indem
    man das Verlorene und durch das Symptom Versagte von
    anderen Zugängen her zu gewinnen traohtet. Diese Verhält—
    nisse Werfen ein klärendes Licht auf eine Aufstellung von
    C. G, Ju 11 g, demzufolge eine eigentümlicho psychische Träg-
    heit, die sich der Veränderung und dem Fortschritt wider-
    setzt, die Grundbedingung der Neurose ist. Diese Trägheit
    ist in der Tat sehr eigentürnlich; sie ist keine allgemeine,
    sondern eine höchst spezialisierte, sie ist auch auf ihrem
    Gebiete nicht Alleinherrscherin, sondern kämpft mit Fort-
    sohritts- und. Wiederherstellungstendenzen, die sich selbst
    nach der Symptombildung der Neurose nicht beruhigen. Spürt
    man dem Ausgangspunkte dieser speziellen Träghcit nach, so
    enthüllt sie sich als die Äußerung von sehr frühzeitig er-
    folgten, sehr schwer lösbaren Verknüpfungen von Triebon
    mit Eindrücken und den in ihnen gegebenen Objekten, durch
    welche die. Weiterentwicklung dieser Triebanteile zum Still—
    stand gebracht wurde. Oder, um es anders zu sagen, diese
    spezialisierte „psychische Trägheit“ ist nur ein anderer, kann)
    ein besserer Ausdruck für das, was Wir in der Psychoanalyse
    eine Fixierung zu nennen gewohnt sind.