Märchenstoffe in Träumen 1913-006/1922
  • S.

    VIII.

    MÄRCHENSTOF FE IN TRÄUMEN. *)

    Es ist keine Überraschung, auch aus der Psychoanalyse
    zu erfahren, welche Bedeutung unsere Volksmärehen für das
    Seelenleben unserer Kinder gewonnen haben. Bei einigen
    Menschen hat sich die Erinnerung an ihre Lieblingsmärchen
    an die Stelle eigener Kindheitserinnerungen gesetzt; sie haben
    die Märchen zu Deckerinnerungen erhoben

    Elemente und Situationen, die aus diesen Märchen kom- '
    men, finden sich nun auch häufig in Träumen. Zur Deutung
    "der betreffenden Stellen fällt den Anzilysierten das für sie
    bedeutungsvolle Märchen ein. Von diesem sehr gewöhnlichen
    Vorkommnis will ich hier zwei Beispiele nnführen. Die Be—
    ziehungen der Märchen zur Kindheitsgeschichte und zur
    Neurose der Träumer werden aber nur angedeutet werden
    können, auf die Gefahr hin, die dem Analytiker wertvollsten

    Zusammenhänge zu zerreißen.

    I.

    Traum einer jungen Frau, die vor wenigen Tagen den
    Besuch ihres Mannes empfangen hat: Sie ist in einem
    ganz braunen Zimmer. Durch eine kleine Tür
    kommt man auf eine steile Stiege, und über diese
    kommt ein sonderbares Männlein ins Zimmer,

    *) Intern. Zeitschn für ärzt]. Psychoanalyse, I, 1913.

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    /

    VIII. MÄRCHENSTOFFE IN TRÄUMEN. 169*

    klein, mit weißen Haaren, Glutze und roter Nase‚>
    das im Zimmer vor ihr herumtanzt7 sich sehr
    komisch; gebärdet und dann Wieder zur Stiege—
    herabgeh 1. Es ist in ein gra ues G ewa‚nd geklei-
    det, welches alle Formen \erkennen läßt. (Kor—
    rektur: Es trägt einen In rigen schwarzen Rock
    und eine graue Hose,)

    Analyse: Die Personsbeschreibung des Mitnnleins paßt‘
    ohne weitere Veränderung*) auf ihren Schwiegervater. Dann
    fällt ihr aber sofort das )lärehen'von Ru1npelstilzchem
    ein, der so komisch Wie der Munn_ im Träume herumtnnzt,

    ‚und dabei eier Königin seinen Namen verrät. Dadurch hat
    er aber seinen Anspruch auf das, erste Kind der Königin ver—-
    leren und reißt- sich in der Wut selbst mitten entzwei.

    Am Traumta.g war sie selbst so wütend auf ihren Mann.
    und äußerte: Ich könnte ihn mitten entzweireißeni‘

    Das braune Zimmer macht; zunächst Schwierigkeiten. Es;
    fällt ihr nur das Speisezimmer ihrer Eltern ein, das so _,
    holzbraun —« getäfelt ist, und dann erzählt sie Geschichten
    von Bet-ten, in denen man zu ‘zweien so unbeqnem schläft.
    Vor einigen Tagen hat sie, als v'on Betten in anderen Lä,n--
    dern die Rede war, etwas sehr Ungeschiektes gesagt — in.
    harmloser Absicht, meint sie —‚ worüber ihre Gesellschaft.
    fürchterlich lachen mußte. _

    Der Traum ist nun bereits verständlich. Das holzbraune—
    Zimmcr**) ist zunächst das Bett, durch die Beziehung auf'
    das Speisezimmer ein Ehebett.***) Sie befindet sich also im
    _ .

    *) Bis auf dns Detail kungeschnibtener Haare, während der Sehwic--
    germter das Haar lang trä.wt.

    **) Holz wie bekannt haufig weibliches, mühterliehes Symbol (materin„ ,
    Madeira. usw.).

    ***) Tisch und Bett repräsentieren ja die Ehe.

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    170 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    Ehebett. Der Besucher sollte ihr junger Mann sein. der nach
    mehrmonntlicher Abwesenheit zu ihr gekommen war. um seine
    Rolle im Ehebett zu spielen. Es ist aber zunächst der Vater
    des Mannes, der Schwiegervater.

    Hinter dieser ersten Deutung blickt man auf eine tiefer
    liegende, rein sexuellen Inhaltes. Das Zimmer ist jetzt die
    Vagina. (Das Zimmer ist in ihr, im Traume umgekehrt.)
    Der kleine Mann. der seine Grima—ssen macht und sich so
    komisch benimmt, ist der Penis; die enge Tür und die steile
    Treppe bestätigen die Auffassung der Situation als einer
    Keitusdarstellung. “’ir sind sonst gewöhnt, daß das Kind
    den Penis symbolisiert, werden aber verstehen. daß es einen
    guten Sinn hat, wenn hier der Vater zur Vertretung des
    Penis herangezogen wird. '

    ' Die Auflösung des noch zurückgehaltenen Bestes vom
    Traume wird uns in der Deutung ganz sicher machen. Das
    durchs‘cheinende graue Gewand erklärt sie selbst als Kondom.
    Wir dürfen erfahren, daß Interessen der Kiriderverhütung,
    Besorgnisse, ob nicht dieser Besuch des Mannes den Keim
    zu einem zweiten Kind gelegt, zu den Anregern dieses Trau-
    1nes gehören.

    Der schwarze Rock: Ein solcher steht ihrem Manne aus-
    gezeichnet. Sie will ihn beeinflussen, daß er ihn immer trage
    anstatt seiner gewöhnlicher Kleidung. Im schwarzen Rock
    ist ihr Mann also so7 wie sie ihn gern sieht. Schwarzer Rock
    und graue Hose: das heißt aus zwei verschiedenen, einander
    überdeckenden Schichten: So gekleidet will ich dich haben.
    So gefällst du mir. .

    Rumpelstilzchen verknüpft sich mit den aktuellen Ge-
    danken des Traumes — den Tagesresten — durch eine schöne
    Gegensatzbeziehung. Er kommt im Märchen, um der Königin

  • S.

    VIII. MÄRCHENSTOFFE IN TRÄUMEN. 171

    das erste Kind zu nehmen; der kleine Mann im Traum kommt
    als. Vater, weil er wahrscheinlich ein zweites Kind gebracht
    hat. Aber Rumpelstilzchen vermittelt auch den Zugang zur
    tieferen, infantilen Schicht der 'l‘raumgedanken. Der passier-
    liche kleine Kerl, dessen Namen man nicht einmal weiß,
    dessen Geheimnis man kennen möchte, der so außerordent-
    liche Kunststiicke kann (im Märchen Stroh in Gold ver-
    wandeln) — die Wut, die man gegen ihn hat, eigentlich
    gegen seinen Besitzer, den man um diesen Besitz beneidet,
    (ler Penisneid der Mädchen —, das sind Elemente, deren
    Beziehung; zu den Grundlagen der Neurose, wie gesagt, hier
    nur gestreift werden soll. Zum Kastrationsthemzt gehören
    wohl auch die geschnittenen Haare des Männchens im Trauma.

    Wenn man in durchsichtigen Beispielen darauf achten
    wird, was der Träumer mit dem Märchen macht, und an
    welche Stelle er es setzt, so wird man dadurch- vielleicht
    auch Winke für die noch ausstehende Deutung dieser Mär-
    chen selbst gewinnen.,

    II. »

    Ein junger Mann, der einen Anhalt für seine Kindheit.;-
    erinnerungen in dem Umstande findet, daß seine Eltern ihr
    bisheriges Landgut gegen ein anderes vertauschten, als er
    noch nicht fünf Jahre war, erzählt als seinen frühesten Traum,
    der noch auf dem ersten Gut vorgefallen“, folgendes:

    ‚„Ich habe geträumt, daß es Nacht ist und ich
    in meinem Bett liege (m'ein Bett stand mit dem
    Fußende gegen das Fenster, vor dem Fenster
    befand sich eine Reihe alter Nußbäume. Ich
    weiß, es war Winter, als ich träumte und Nacht-
    zeit). Plötzlich geht das Fenster von selbst
    auf, und ich sehe mit großem Schrecken, da‚ß

  • S.

    172 ‚ SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. iv.

    ‚auf dem großen Nußbannr vor dem Fenster ein
    paar weiße Wölfe sitzen. Es waren sechs oder
    sieben Stück. Die W'Ölfe waren ganz weiß und
    sahen eher aus wie Füchse oder Sehiiferhunrle,
    denn sie hatten große Schwänze wie, Füchse und
    ihre Ohren waren aufgestellt wie bei den Hun—
    den, wenn sie auf etwas passen. Unter großer -
    Angst, offenbar von den Wölfen auf_gefrcssen zu
    werden, schrie ich auf und erwachte. Meine Kin—
    derfrau eilte zu meinem Bett, um iiziclizusehen, was mit mir
    geschehen war. Es dauerte eine ganze W'eile, bis ich über-
    zeugt war, es sei nur ein Traum gewesen, so natürlich und
    deutlich war mir das Bild vorgekommen, wie das Fenster
    aufgeht und die V\"ölfe auf dem Baume sitzen. Endlich be-
    ru.higte ich mich, fühlte mich wie von einer Gefahr befreit
    und schlief wieder ein.“

    „Die einzige Aktion im Träume war das Aufgehen des
    Fensters, denn die Wölfe saßen ganz ruhig ohne jede Be-
    wegung auf den Ästen des Baumes, rechts und links vom
    Stamm und schauten mich an. Es sah so aus, als ob sie
    ihre ganze Aufmerksamkeit auf mich gerichtet hätten. —
    Ich glaube, dies war mein erster Angstti‘aum. Ich war dii-
    n1als drei, vier, höchstens fünf Jahre alt. Bis in mein elftes
    oder zwölftes Jahi‘ hatte ich von da. an immer Angst, etwas
    Sehréekliches im Traume zu sehen.“

    Er gibt dann noch eine Zeichnung des Baumes mit den
    Wölfen, die seine Beschreibung bestätigt. Die Analyse des
    Traumes fördert nachstehendes Material zu Tage.

    Er hat diesen Traum immer in Beziehung zu der Er-
    innerung gebracht, daß er in diesen Jahren der Kindheit eine
    ganz ungeheuerliche Angst vor dem Bilde eines \Volfes in

  • S.

    VIH. MÄRCHENSTOFFE IN TRÄUMEN. 173

    einem Märchenbuche zeigte. Die ältere, ihm recht überlegene
    Schwester pflegte ihn z\f necken, indem sie ihm unter irgend
    einem Vorwand gerade dieses Bild vorhielt, worauf er ent-
    setzt zu schreien begann. Auf diesem Bilde stand der Wolf
    aufrecht, mit einem Fuß ausschreitend, die Tatzen ausge-
    streekt und die Ohren aufgestellt. Er meint, dieses Bild habe
    als Illustration zum Märchen von Rotkäppchen gehört.

    Warum sind die Wölfe weiß? Das läßt ihn «an die
    Schafe denken, von denen große Herden in der Nähe des
    Gutes gehalten wurden. Der Vater nahm ihn gelegentlich
    mit, diese Herden zu besuchen, und er war dann jedesmal
    sehr stolz, und selig. Später — nach eingezogcnen Erkun-
    digungen kann es leicht kurz wer der Zeit dieses Traumcs
    gewesen sein —, brach unter diesen Schafen eine Seuche aus.
    Der Vater ließ einen Pasteursehiiler kommen, der die Tiere
    impfte, aber sie starben nach der Impfung noch zahlreicher
    ‚als vorhin. ’

    Wie kommen die Wölfe auf den Baum? Dazu fällt ihm
    eine Geschichte ein, die er den Großvater erzählen gehört.
    Er kann sich nicht erinnern, ob vor oder nach dem Träume,
    aber ihr Inhalt spricht entschieden für das erstere. Die Ge-
    schichte lautet: Ein Schneider sitzt in seinem Zimmer bei
    der Arbeit, da öffnet sich das Fenster und ein Wolf springi
    herein Der Schneider schlägt mit der Elle nach ihm — nein,
    verbessert er sich, packt ihn beim Schwanz und reißt ihm
    diesen aus, so daß der Wolf erschreckt davonrennt. Eine,
    Weile später geht der Schneider in den \Vald'und sieht
    plöizlich ein Rudel Wölfe herankommen, vor denen er sich
    auf einen Baum flüchtet. Die Wölfe sind zunächst ratlos,
    aber der Verstiimmelte, der unter ihnen ist und sich {nn
    Schneider rä.chen Will, macht den Vorschlag, daß einer auf

  • S.

    174 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEFIRE. IV.

    den anderen steigen soll, bis der letzte den Schneider er-
    reicht hat. Er selbst — es ist eirl kräftiger Alter —— will
    die Basis dieser Pyramide machen. Die Wölfe tun so, aber
    der Schneider hat, den gezüchtigten Besucher erkannt und
    ruft plötzlich wie damals: l’ackt den Grauen beim Schwanz.
    Der schwanzlose Wolf erschrickt; bei dieser Erinnerung, läuft
    davon und die anderen purzeln alle herab.

    In! dieser Erzählung findet sich der Baum vor, auf dem
    im Traume die Wölfe sitzen. Sie enthält aber auch eine un-
    zweideutige Anknüpfung an den Kastrationskomplex. Der
    alte Wolf ist vom Schneider um den Schwanz gebracht
    werden. Die Fuchsseliwänze der Wölfe im Träume sind wohl
    Kompensationen dieser Schwanzlosigkeit.

    Warum sind es sechs oder sieben Wölfe? Diese Frage
    schien nicht zu beantworten, bis ich den Zweifel aufwarf,
    ob sich sein Angstbild auf das Rotkäppchenrnärche'n bezogen
    haben könne. Dies Märchen gibt nur Anlaß zu zwei Illustra-
    tionen, zur Begegnung des Rotkäppchens mit dem Wolf im
    \Va‚lde und, zur Szene, wo der Wolf mit der Haube der Groß-
    mutter irn Bette liegt. Es müsse sich also ein anderes Mär-
    chen hinter der Erinnerung an das Bild verbergen. Er fand
    dann bald, daß es nur die Geschichte vom Wolf und den
    sieben Geißlein sein könne. Hier findet sich die Sieben—
    za.hl, aber auch die sechs, denn der ‘Volf frißt nur sechs
    Geißlein auf, das siebeute versteck'if sich im Uhrkasten. Auch
    das Weiß kommt in dieser Geschichte vor, denn der “'elf
    läßt sich beim Bäcker die Pfote weiß mächen, nachde ihn
    die Geißlcin bei seinem ersten Besuch an der grauen Pfote
    erkannt haben. Beide Märchen haben übrigens viel Gemein-
    sames. In beiden findet sich das Auffressen, das Bauch-
    aufschneiden, die Herausbeförderungz der gefressenen Per-

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    VIII. MÄRCHENSTOFFE IN TRÄUMEN. 175

    senen, deren Ersatz durch schwere Steine, und endlich kommt
    in beiden der böse Welt um. Im Märchen von den Geißlein
    kommt auch noch der Baum vor. Der Wolf legt sich nach
    der Mahlzeit unter einen Baum und schnareht.

    Ich werde mich mit diesem Traum wegen eines beson-
    deren Umstandes noch an anderer Stelle beschäftigen müssen
    und ihn dann eingehender deuten und würdigen. Es ist ja
    ein erster aus der Kindheit erinnerter Angsttraum, dessen
    Inhalt im Zusammenhang mit, anderen Träumen; die bald
    nachher erfolgten, und mit gewissen Begebenheiten in der
    Kinderzeit des Träuiners ein Interesse von ganz besonderer
    Art wachruft. Hier beschränken wir uns auf die Beziehung
    des Traunies zu zwei Märchen, die viel Gemeinsames haben,
    zum „Rotkäppchen“ und zum „Wolf und die sieben Geißlein",
    Der Eindruck dieser Märchen äußerte sich bei dem kindlichen
    ']fräuiner in einer richtigen Tierphobie, die sich von’andcren
    ähnlichen Fällen nur dadurch auszeichnete, daß das Angst-
    tier nicht ein der Vi'alunehmung leicht zugängliches Objekt
    war (wie etwa. Pferd und Hund), sondern nur aus Erzählung
    und Bilderbuch gekannt war.

    Ich werde ein andermal auseinandersetzen, welehe Er—
    klärun,gr diese Tierphobien haben und welche Bedeutung ihnen;
    zukommt. Vorgreifend bemerke ich nur, daß diese Erklärung
    sehr zu dem Ha.uptchnrakter stimmt, welchen die Neurose
    des Träumch in späteren Lebenszeiten erkennen ließ. Die
    Angst vor dem Vater war das stärkste Motiv seiner Erkran—
    kung gewesen, und die arnbivalente Einstellung zu jedem
    Vaterersatz beherrschte sein Leben wie sein Verhalten in der
    Behandlung. V "

    Wenn der Wolf bei meinem Patienten nur der erste
    Vaterersatz war, so fragt es sich, ob die Märchen vom Wolf,

  • S.

    1176 SCHRIF'IEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    der die Geißlein auffrißt, und vom Rotkäppchen etwas im»
    —deres als die infantile Angst vor dem Vater zum geheimen
    Inhalt haben.*) Der Vater meines Patienten hatte übrigens
    die Eigentümlichkeit des „zärtlichen Schiinpfens“, die
    :so viele Personen im Umgang mit ihren Kindern zeigen, und
    die scherzhafte Drohung: „Ich fress’ (lich auf“ mag in den ‘
    ersten Jahren, als der später strenge Vater mit dem Söhnlein
    ‚zu spielen und zu koscn pflegte, mehr als einmal geäußert
    worden sein. Eine meiner Patientinnen erzählte mir, daß ihre
    beiden Kinder den Gi'eßv31t9r nie lieb gewinnen konnten, weil
    er sie in seinem zärtlichen Spiel zu schrecken pflegte‚ er
    ‘Wcrde ihnen den Bauch anfsehneidcn.

    *) Vgl die von O. Rank hervorgehobene Ähnlichkeit dieser beiden
    Märchen mis dem Mythus von Kronos. (Völkerpsychologische Parallelen
    ‚zu den infantilen Sexualtheorien; Zentralblatt für Psychoanalyse, II, 8.)