Mythologische Parallele zu einer plastischen Zwangsvorstellung 1916-002/1922
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    MYTHOLOGISCHE PARALLELE ZU EINER
    PLASTISCHEN ZWANGSVORSTELLUNG. *)

    Bei einem etwa 2ljährigcn Kranken werden die Produkte
    der unbewußten Geistesarbeit nicht nur als Zwangsgedanken,
    sondern auch als Zwangsbilder bewußt. Die beiden können
    einander begleiten oder unabhängig voneinander auftreten.
    Zu einer gewissen Zeit traten bei ihm innig verknüpft ein
    Zwangswort und ein Zwangsbild auf, wenn er seinen Vater
    ins Zimmer kommen sah. Das Wort lautete: „Vaterarsch“,
    das begleitende Bild stellte den Vater als einen nackten, mit
    Armen und Beinen versehenen Unterkörper dar, dem Kopf
    und Oberkörper“ fehlten. Die Genitalien waren nicht ange-
    zeigt, die Gesichtszüge auf dem Bauch aufgemalt.

    Zur Erläuterung dieser mehr als gewöhnlich tollen
    Symptombildung ist zu bemerken, daß der intellektuell voll-
    cutwickelte und ethisch hochstrebende Mann bis über sein
    zehntes Jahr eine sehr lebhafte Analerotik in den verschie-
    densten Formen betätigt hatte. Nachdem sie überw'unden
    war, wurde sein Sexualleben durch den späteren Kampf gegen
    die Genitalerotik auf die änale Vorstufe zurückgedrämgt.
    Seinen Vater liebte und respektierte er sehr, fürchtete ihn
    auch nicht wenig; vom Standpunkte seiner hohen Ansprüche

    *) Intern Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse, IV, 1916.
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    an Triebunterrlriickung und Askese erschien ihm der Vater
    aber als der Vertreter der „Völlerei“, der aufs Materielle ge-
    richteten Genußsucht.

    „Vaterarsch“ erklärte sich bald als mutwillige Ver-
    deutschung_ des Ehrcntitels „Patr'mrch“. Das Zwangsbild isL
    eine offenkuridige Karikatur. Es erinnert an andere Dar-
    stellungen, die in herabsetzender Absicht die ganze Person
    durch ein einziges Organ, z. B. ihr Genitale ersetzen, en un—
    bewußte Phantasien, welche zur Identifizierung des Genitales
    mit; dem ganzen Menschen führen, und. an scherzhafte Redens-
    arten, wie: „Ich bin ganz Ohr.“

    Die Anbringung der Gesichtsziige auf dem Bauche der
    Spottfigur erschien mir zunächst sehr sonderbar. Ich er—
    innerte mich aber bald, ähnliches an französischen Karikaturen
    gesehen zu haben. (Vgl.»: Das unanständige Albion, Karikatur
    von Jean Veber aus dem Jahre 1901 auf England in F
    Fuchs. Das Erotische Element in der Karikatur 1904.) Der
    Zufall hat mich dann mit einer antiken Darstellung bekannt
    gemacht, die volle Übereinstimmung mit dern Zwangsbild
    meines ‚Patienten zeigt.

    Nach der griechischen Sage war Demeter auf der Suche
    nach ihrer geraub’oen Tochter nach Elensis gekommen, fand
    Aufnahme bei Dysaules und seiner Frau ‘Baubo, verweigerte
    aber in ihrer tiefen Trauer, Speise und Trank zu berühren.
    Da. brachte sie die VVirtin Banbo zum Lachen, indem sie
    plötzlich ihr Kleid aufhob und ihren Leib enthüllte. Die
    Diskussion dieser Anckdote, die wahrscheinlich ein nicht
    mehr verstandenes magisches Zeremonie-ll erklären soll. findet
    sich im vierten Bande des Werkes „Cultes Mythes et Reli-
    gions“, 1912, von Salomon Reinach. Ebendort wird auch
    erwähnt. daß sich bei den Ausgrabungen des kleinasiatischen

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    I’riene Terrakot-ten gefunden haben, welche diese Ba-ubo dar-
    stellen.* Sie zeigen einen Frauenleib ohne Kopf und Brust,
    auf dessen Bauch ein Gesicht gebildet ist; der a,ufgehobene
    Rock umrahmt dieses Gesicht wie eine Haarkrone. (S. Rei-
    nach, 1. c. p. 117.)