S.
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XIII.
BEITRÄGE ZUR PSYCHOLOGIE DES LIEBESLEBENS.I.
ÜBER EINEN BESONDEREN TYPUS
DER OBJEKTWAHL BEIM MANNE.*)Wir haben es bisher den Dichtern überlassen, uns zu
schildern, nach welchen „Liebesbedingungen“ die Menschen
ihre Objektwahl treffen, und wie sie die Anforderungen ihrer
Phantasie mit der Wirklichkeit in Einklang bringen. Die
Dichter verfügen auch über manche Eigenschaften, welche
sie zur Lösung einer solchen Aufgabe befähigen, vor allem
über die Feinfühligkeit für die Wahrnehmung verborgener
Seelenregungen bei anderen und den Mut, ihr eigenes Un-
bewußtes laut werden zu lassen. Aber der Erkenntniswert
ihrer Mitteilungen wird durch einen Umstand herabgesetzt.
Die Dichter sind an die Bedingung gebunden, intellektuelle
und ästhetische Lust sowie bestimmte Gefühlswirkungen zu
erzielen, und darum können sie den Stoff der Realität nicht
unverändert darstellen, sondern müssen Teilstücke desselben
isolieren, störende Zusammenhänge auflösen, das Ganze mil-
dern und Fehlendes ersetzen. Es sind dies Vorrechte der
sogenannten „poetischen Freiheit“. Auch können sie nur wenig*)Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische For-
schungen, Bd. II, 1910.S.
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Interesse für die Herkunft und Entwicklung solcher seeli-
scher Zustände äußern, die sie als fertige beschreiben. So-
mit wird es doch unvermeidlich, daß die Wissenschaft mit
plumperen Händen und zu geringerem Lustgewinne sich mit
denselben Materien beschäftige, an deren dichterischer Be-
arbeitung sich die Menschen seit Tausenden von Jahren er-
freuen. Diese Bemerkungen mögen zur Rechtfertigung einer
streng wissenschaftlichen Bearbeitung auch des menschlichen
Liebeslebens dienen. Die Wissenschaft ist eben die voll-
kommenste Lossagung vom Lustprinzip, die unserer psychi-
schen Arbeit möglich ist.Während der psychoanalytischen Behandlungen hat man
reichlich Gelegenheit, sich Eindrücke aus dem Liebesleben
der Neurotiker zu holen, und kann sich dabei erinnern, daß
man ähnliches Verhalten auch bei durchschnittlich Gesunden
oder selbst bei hervorragenden Menschen beobachtet oder
erfahren hat. Durch Häufung der Eindrücke infolge zu-
fälliger Gunst des Materials treten dann einzelne Typen deut-
licher hervor. Einen solchen Typus der männlichen Objekt-
wahl will ich hier zuerst beschreiben, weil er sich durch
eine Reihe von „Liebesbedingungen“ auszeichnet, deren Zu-
sammentreffen nicht verständlich, ja eigentlich befremdend
ist, und weil er eine einfache psychoanalytische Aufklärung
zuläßt.1. Die erste dieser Liebesbedingungen ist als geradezu
spezifisch zu bezeichnen; sobald man sie vorfindet, darf man
nach dem Vorhandensein der anderen Charaktere dieses Typus
suchen. Man kann sie die Bedingung des „Geschädigten
Dritten“ nennen; ihr Inhalt geht dahin, daß der BetreffendeS.
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niemals ein Weib zum Liebesobjekt wählt, welches noch frei
ist, also ein Mädchen oder eine alleinstehende Frau, son-
dern nur ein solches Weib, auf das ein anderer Mann als
Ehegatte, Verlobter, Freund Eigentumsrechte geltend machen
kann. Diese Bedingung zeigt sich in manchen Fällen so un-
erbittlich, daß dasselbe Weib zuerst übesehen oder selbst
verschmäht werden kann, solange es niemandem angehört,
während es sofort Gegenstand der Verliebtheit wird, sobald
es in eine der genannten Beziehungen zu einem anderen
Manne tritt.2. Die zweite Bedingung ist vielleicht minder konstant,
aber nicht weniger auffällig. Der Typus wird erst durch ihr
Zusammentreffen mit der ersten erfüllt, während die erste
auch für sich allein in großer Häufigkeit vorzukommen
scheint. Diese zweite Bedingung besagt, daß das keusche
und unverdächtige Weib niemals den Reiz ausübt, der es
zum Liebesobjekt erhebt, sondern nur das irgendwie sexuell
anrüchige, an dessen Treue und Verläßlichkeit ein Zweifel
gestattet ist. Dieser letztere Charakter mag in einer bedeu-
tungsvollen Reihe variieren, von dem leisen Schatten auf
dem Ruf einer dem Flirt nicht abgeneigten Ehefrau bis zur
offenkundig polygamen Lebensführung einer Kokotte oder
Liebeskünstlerin, aber auf irgend etwas dieser Art wird von
den zu unserem Typus Gehörigen nicht verzichtet. Man mag
diese Bedingung mit etwas Vergröberung die der „Dirnenliebe“
heißen.Wie die erste Bedingung Anlaß zur Befriedigung von
agonalen, feindseligen Regungen gegen den Mann gibt, dem
man das geliebte Weib entreißt, so steht die zweite Bedin-
gung, die der Dirnenhaftigkeit des Weibes, in Beziehung zur
Betätigung der Eifersucht, die für Liebende dieses TypusS.
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ein Bedürfnis zu sein scheint. Erst, wenn sie eifersüchtig
sein können, erreicht die Leidenschaft ihre Höhe, gewinnt
das Weib seinen vollen Wert, und sie versäumen nie, sich
eines Anlasses zu bemächtigen, der ihnen das Erleben dieser
stärksten Empfindungen gestattet. Merkwürdigerweise ist
es nicht der rechtmäßige Besitzer der Geliebten, gegen den
sich diese Eifersucht richtet, sondern neu auftauchende
Fremden, mit denen man die Geliebte in Verdacht bringen
kann. In grellen Fällen zeigt der Liebende keinen Wunsch,
das Weib für sich allein zu besitzen, und scheint sich in
dem dreieckigen Verhältnis durchaus wohl zu fühlen. Einer
meiner Patienten, der unter den Seitensprüngen seiner Dame
entsetzlich gelitten hatte, hatte doch gegen ihre Verheiratung
nichts einzuwenden, sondern förderte diese mit allen Mitteln;
gegen den Mann zeigte er dann durch Jahre niemals eine
Spur von Eifersucht. Ein anderer typischer Fall war in
seinen ersten Liebesbeziehungen allerdings sehr eifersüchtig
gegen den Ehegatten gewesen und hatte die Dame genötigt,
den ehelichen Verkehr mit diesem einzustellen; in seinen
zahlreichen späteren Verhältnissen benahm er sich aber wie
die anderen und faßte den legitimen Mann nicht mehr als
Störung auf.Die folgenden Punkte schildern nicht mehr die vom
Liebesobjekt geforderten Bedingungen, sondern das Verhalten
des Liebenden gegen das Objekt seiner Wahl.3. Im normalen Liebesleben wird der Wert des Weibes
durch seine sexuelle Integrität bestimmt und durch die An-
näherung an den Charakter der Dirnenhaftigkeit herabgesetzt.
Es erscheint daher als eine auffällige Abweichung vom Nor-
malen, daß von den Liebenden unseres Typus die mit diesem
Charakter behafteten Frauen als höchstwertige LiebesobjekteS.
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behandelt werden. Die Liebesbeziehungen zu diesen
Frauen werden mit dem höchsten psychischen Aufwand bis
zur Aufzehrung aller anderen Interessen betrieben; sie sind
die einzigen Personen, die man lieben kann, und die Selbst-
anforderung der Treue wird jedesmal wieder erhoben, so oft
sie auch in der Wirklichkeit durchbrochen werden mag. In
diesen Zügen der beschriebenen Liebesbeziehungen prägt
sich überdeutlich der zwanghafte Charakter aus, welcher
ja in gewissem Grade jedem Falle von Verliebtheit eignet.
Man darf aber aus der Treue und Intensität der Bindung
nicht die Erwartung ableiten, daß ein einziges solches Liebes-
verhältnis das Liebesleben der Betreffenden ausfülle oder
sich nur einmal innerhalb desselben abspiele. Vielmehr wie-
derholen sich Leidenschaften dieser Art mit den gleichen
Eigentümlichkeiten – die eine das genaue Abbild der an-
deren – mehrmals im Leben der diesem Typus Angehörigen,
ja die Liebesobjekte können nach äußeren Bedingungen, z. B.
Wechsel von Aufenthalt und Umgebung, einander so häufig
ersetzen, daß es zur Bildung einer langen Reihe
kommt.4. Am überraschendsten wirkt auf den Beobachter die
bei den Liebenden dieses Typus sich äußernde Tendenz, die
Geliebte zu „retten“. Der Mann ist überzeugt, daß die Ge-
liebte seiner bedarf, daß sie ohne ihn jeden sittlichen Halt
verlieren und rasch auf ein bedauernswertes Niveau herab-
sinken würde. Er rettet sie also, indem er nicht von ihr
läßt. Die Rettungsabsicht kann sich in einzelnen Fällen
durch die Berufung auf die sexuelle Unverläßlichkeit und
die sozial gefährdete Position der Geliebten rechtfertigen;
sie tritt aber nicht minder deutlich hervor, wo solche An-
lehnungen an die Wirklichkeit fehlen. Einer der zumS.
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beschriebenen Typus gehörigen Männer, der seine Damen durch
kunstvolle Verführung und spitzfindige Dialektik zu ge-
winnen verstand, scheute dann im Liebesverhältnis keine An-
strengung, um die jeweilige Geliebte durch selbstverfaßte
Traktate auf dem Wege der „Tugend“ zu erhalten.Überblickt man die einzelnen Züge des hier geschilderten
Bildes, die Bedingungen der Unfreiheit und der Dirnenhaftig-
keit der Geliebten, die hohe Wertung derselben, das Bedürfnis
nach Eifersucht, die Treue, die sich doch mit der Auflösung
in eine lange Reihe verträgt, und die Rettungsabsicht, so
wird man eine Ableitung derselben aus einer einzigen Quelle
für wenig wahrscheinlich halten. Und doch ergibt sich eine
solche leicht bei psychoanalytischer Vertiefung in die Lebens-
geschichte der in Betracht kommenden Personen. Diese eigen-
tümlich bestimmte Objektwahl und das so sonderbare Liebes-
verhalten haben dieselbe psychische Abkunft wie im Liebes-
leben des Normalen, sie entspringen aus der infantilen Fixie-
rung der Zärtlichkeit an die Mutter und stellen einen der
Ausgänge dieser Fixierung dar. Im normalen Liebesleben er-
übrigen nur wenige Züge, welche das mütterliche Vorbild
der Objektwahl unverkennbar verraten, so z. B. die Vorliebe
junger Männer für gereiftere Frauen; die Ablösung der Libido
von der Mutter hat sich verhältnismäßig rasch vollzogen.
Bei unserem Typus hingegen hat die Libido auch nach dem
Eintritt der Pubertät so lange bei der Mutter verweilt, daß
den später gewählten Liebesobjekten die mütterlichen Cha-
raktere eingeprägt bleiben, daß diese alle zu leicht kennt-
lichen Muttersurrogaten werden. Es drängt sich hier der Ver-
gleich mit der Schädeldeformation des Neugeborenen auf;
nach protrahierter Geburt muß der Schädel des Kindes den
Ausguß der mütterlichen Beckenenge darstellen.S.
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Es obliegt uns nun wahrscheinlich zu machen, daß die
charakteristischen Züge unseres Typus, Liebesbedingungen
wie Liebesverhalten, wirklich der mütterlichen Konstellation
entspringen. Am leichtesten dürfte dies für die erste Bedin-
gung, die der Unfreiheit des Weibes oder des geschädigten
Dritten, gelingen. Man sieht ohne weiteres ein, daß bei dem
in der Familie aufwachsenden Kinde die Tatsache, daß die
Mutter dem Vater gehört, zum unabtrennbaren Stück des
mütterlichen Wesens wird, und daß kein anderer als der
Vater selbst der geschädigte Dritte ist. Ebenso ungezwungen
fügt sich der überschätzende Zug, daß die Geliebte die Ein-
zige, Unersetzliche ist, in den infantilen Zusammenhang ein,
denn niemand besitzt mehr als eine Mutter, und die Be-
ziehung zu ihr ruht auf dem Fundament eines jedem Zweifel
entzogenen und nicht zu wiederholenden Ereignisses.Wenn die Liebesobjekte bei unserem Typus vor allem
Muttersurrogate sein sollen, so wird auch die Reihenbildung
verständlich, welche der Bedingung der Treue so direkt zu
widersprechen scheint. Die Psychoanalyse belehrt uns auch
durch andere Beispiele, daß das im Unbewußten wirksame
Unersetzliche sich häufig durch die Auflösung in eine un-
endliche Reihe kundgibt, unendlich darum, weil jedes Sur-
rogat doch die erstrebte Befriedigung vermissen läßt. So
erklärt sich die unstillbare Fragelust der Kinder in gewissem
Alter daraus, daß sie eine einzige Frage zu stellen haben,
die sie nicht über ihre Lippen bringen, die Geschwätzigkeit
mancher neurotisch geschädigter Personen aus dem Drucke
eines Geheimnisses, das zur Mitteilung drängt, und das sie
aller Versuchung zum Trotze doch nicht verraten.Dagegen scheint die zweite Liebesbedingung, die der
Dirnenhaftigkeit des gewählten Objektes, einer Ableitung ausS.
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dem Mutterkomplex energisch zu widerstreben. Dem bewußten
Denken des Erwachsenen erscheint die Mutter gern als Per-
sönlichkeit von unantastbarer sittlicher Reinheit, und wenig
anderes wirkt, wenn es von außen kommt, so beleidigend,
oder wird, wenn es von innen aufsteigt, so peinigend empfun-
den wie ein Zweifel an diesem Charakter der Mutter. Gerade
dieses Verhältnis von schärfstem Gegensatze zwischen der
„Mutter“ und der „Dirne“ wird uns aber anregen, die Ent-
wicklungsgeschichte und das unbewußte Verhältnis dieser
beiden Komplexe zu erforschen, wenn wir längst erfahren
haben, daß im Unbewußten häufig in Eines zusammenfällt,
was im Bewußtsein in zwei Gegensätze gespalten vorliegt.
Die Untersuchung führt uns dann in die Lebenszeit zurück,
in welcher der Knabe zuerst eine vollständigere Kenntnis von
den sexuellen Beziehungen zwischen den Erwachsenen ge-
winnt, etwa in die Jahre der Vorpubertät. Brutale Mittei-
lungen von unverhüllt herabsetzender und aufrührerischer
Tendenz machen ihn da mit dem Geheimnis des Geschlechts-
lebens bekannt, zerstören die Autorität der Erwachsenen, die
sich als unvereinbar mit der Enthüllung ihrer Sexual-
betätigung erweist. Was in diesen Eröffnungen den stärksten
Einfluß auf den Neueingeweihten nimmt, das ist deren Be-
ziehung zu den eigenen Eltern. Dieselbe wird oft direkt von
dem Hörer abgelehnt, etwa mit den Worten: Es ist möglich,
daß deine Eltern und andere Leute so etwas miteinander
tun, aber von meinen Eltern ist es ganz unmöglich.Als selten fehlendes Korollar zur „sexuellen Aufklärung“
gewinnt der Knabe auch gleichzeitig die Kenntnis von der
Existenz gewisser Frauen, die den geschlechtlichen Akt er-
werbsmäßig ausüben und darum allgemein verachtet werden.
Ihm selbst muß diese Verachtung ferne sein; er bringt fürS.
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diese Unglücklichen nur eine Mischung von Sehnsucht und
Grausen auf, sobald er weiß, daß auch er von ihnen in das
Geschlechtsleben eingeführt werden kann, welches ihm bis-
her als der ausschließliche Vorbehalt der „Großen“ galt. Wenn
er dann den Zweifel nicht mehr festhalten kann, der für
seine Eltern eine Ausnahme von den häßlichen Normen der
Geschlechtsbetätigung fordert, so sagt er sich mit zynischer
Korrektheit, daß der Unterschied zwischen der Mutter und
der Hure doch nicht so groß sei, daß sie im Grunde das
nämliche tun. Die aufklärenden Mitteilungen haben nämlich
die Erinnerungsspuren seiner frühinfantilen Eindrücke und
Wünsche in ihm geweckt und von diesen aus gewisse seelische
Regungen bei ihm wieder zur Aktivität gebracht. Er beginnt
die Mutter selbst in dem neugewonnenen Sinne zu begehren
und den Vater als Nebenbuhler, der diesem Wunsche im
Wege steht, von neuem zu hassen; er gerät, wie wir sagen,
unter die Herrschaft des Ödipuskomplexes. Er vergißt es der
Mutter nicht und betrachtet es im Lichte einer Untreue,
daß sie die Gunst des sexuellen Verkehrs nicht ihm, sondern
dem Vater geschenkt hat. Diese Regungen haben, wenn sie
nicht rasch vorüberziehen, keinen andern Ausweg, als sich
in Phantasien auszuleben, welche die Sexualbetätigung der
Mutter unter den mannigfachsten Verhältnissen zum Inhalte
haben, deren Spannung auch besonders leicht zur Lösung im
onanistischen Akte führt. Infolge des beständigen Zusammen-
wirkens der beiden treibenden Motive, der Begehrlichkeit und
der Rachsucht, sind Phantasien von der Untreue der Mutter
die bei weitem bevorzugten; der Liebhaber, mit dem die
Mutter die Untreue begeht, trägt fast immer die Züge des
eigenen Ichs, richtiger gesagt, der eigenen, idealisierten,
durch Altersreifung auf das Niveau des Vaters gehobenenS.
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Persönlichkeit. Was ich an anderer Stelle*) als „Familien-
roman“ geschildert habe, umfaßt die vielfältigen Ausbildun-
gen dieser Phantasietätigkeit und deren Verwebung mit ver-
schiedenen egoistischen Interessen dieser Lebenszeit. Nach
Einsicht in dieses Stück seelischer Entwicklung können wir
es aber nicht mehr widerspruchsvoll und unbegreiflich fin-
den, daß die Bedingung der Dirnenhaftigkeit der Geliebten
sich direkt aus dem Mutterkomplex ableitet. Der von uns
beschriebene Typus des männlichen Liebeslebens trägt die
Spuren dieser Entwicklungsgeschichte an sich und läßt sich
einfach verstehen als Fixierung an die Pubertätsphantasien
des Knaben, die späterhin den Ausweg in die Realität des
Lebens doch noch gefunden haben. Es macht keine Schwie-
rigkeiten anzunehmen, daß die eifrig geübte Onanie der
Pubertätsjahre ihren Beitrag zur Fixierung jener Phantasien
geleistet hat.Mit diesen Phantasien, welche sich zur Beherrschung
des realen Liebeslebens aufgeschwungen haben, scheint die
Tendenz, die Geliebte zu retten, nur in lockerer, oberfläch-
licher und durch bewußte Begründung erschöpfbarer Verbin-
dung zu stehen. Die Geliebte bringt sich durch ihre Neigung
zur Unbeständigkeit und Untreue in Gefahren, also ist es
begreiflich, daß der Liebende sich bemüht, sie vor diesen
Gefahren zu behüten, indem er ihre Tugend überwacht und
ihren schlechten Neigungen entgegenarbeitet. Indes zeigt
das Studium der Deckerinnerungen, Phantasien und nächt-
lichen Träume der Menschen, daß hier eine vortrefflich ge-
lungene „Rationalisierung“ eines unbewußten Motivs vorliegt,
die einer gut geratenen sekundären Bearbeitung im Traume*)O. Rank, Der Mythus von der Geburt des Helden, 1909. Schrif-
ten zur angewandten Seelenkunde, Heft V. Fr. Deuticke, WienS.
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gleichzusetzen ist. In Wirklichkeit hat das Rettungsmotiv
seine eigene Bedeutung und Geschichte, und ist ein
selbständiger Abkömmling des Mutter‑ oder, richtiger gesagt,
des Elternkomplexes. Wenn das Kind hört, daß es sein Leben
den Eltern verdankt, daß ihm die Mutter „das Leben
geschenkt“ hat, so vereinen sich bei ihm zärtliche, mit
großmannssüchtigen, nach Selbständigkeit ringenden Regun-
gen, um den Wunsch entstehen zu lassen, den Eltern dieses
Geschenk zurückzuerstatten, es ihnen durch ein gleichwer-
tiges zu vergelten. Es ist, wie wenn der Trotz des Knaben
sagen wollte: Ich brauche nichts vom Vater, ich will ihm
alles zurückgeben, was ich ihn gekostet habe. Er bildet dann
die Phantasie, den Vater aus einer Lebensgefahr zu
retten, wodurch er mit ihm quitt wird, und diese Phantasie
verschiebt sich häufig genug auf den Kaiser, König oder
sonst einen großen Herrn und wird nach dieser Entstellung
bewußtseinsfähig und selbst für den Dichter verwertbar. In
der Anwendung auf den Vater überwiegt bei weitem der
trotzige Sinn der Rettungsphantasie, der Mutter wendet sie
meist ihre zärtliche Bedeutung zu. Die Mutter hat dem Kinde
das Leben geschenkt, und es ist nicht leicht, dies eigenartige
Geschenk durch etwas Gleichwertiges zu ersetzen. Bei ge-
ringem Bedeutungswandel, wie er im Unbewußten erleichtert
ist – was man etwa dem bewußten Ineinanderfließen der
Begriffe gleichstellen kann –, gewinnt das Retten der Mutter
die Bedeutung von: ihr ein Kind schenken oder machen,
natürlich ein Kind, wie man selbst ist. Die Entfernung vom
ursprünglichen Sinn der Rettung ist keine allzugroße, der
Bedeutungswandel kein willkürlicher. Die Mutter hat einem
ein Leben geschenkt, das eigene, und man schenkt ihr dafür
ein anderes Leben, das eines Kindes, das mit dem eigenenS.
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Selbst die größte Ähnlichkeit hat. Der Sohn erweist sich
dankbar, indem er sich wünscht, von der Mutter einen Sohn
zu haben, der ihm selbst gleich ist, d. h. in der Rettungs-
phantasie identifiziert er sich völlig mit dem Vater. Alle
Triebe, die zärtlichen, dankbaren, lüsternen, trotzigen, selbst-
herrlichen, sind durch den einen Wunsch befriedigt, sein
eigener Vater zu sein. Auch das Moment der Gefahr
ist bei dem Bedeutungswandel nicht verloren gegangen; der
Geburtsakt selbst ist nämlich die Gefahr, aus der man durch
die Anstrengung der Mutter gerettet wurde. Die Geburt ist
ebenso die allererste Lebensgefahr wie das Vorbild aller spä-
teren, vor denen wir Angst empfinden, und das Erleben der
Geburt hat uns wahrscheinlich den Affektausdruck, den wir
Angst heißen, hinterlassen. Der Macduff der schottischen
Sage, den seine Mutter nicht geboren hatte, der aus seiner
Mutter Leib geschnitten wurde, hat darum auch die Angst
nicht gekannt.Der alte Traumdeuter Artemidoros hatte sicherlich
Recht mit der Behauptung, der Traum wandle seinen Sinn
je nach der Person des Träumers. Nach den für den Aus-
druck unbewußter Gedanken geltenden Gesetzen kann das
„Retten“ seine Bedeutung variieren, je nachdem es von einer
Frau oder von einem Mann phantasiert wird. Es kann eben-
sowohl bedeuten: ein Kind machen = zur Geburt bringen
(für den Mann) wie: selbst ein Kind gebären (für die Frau).Insbesondere in der Zusammensetzung mit dem Wasser
lassen sich diese verschiedenen Bedeutungen des Rettens in
Träumen und Phantasien deutlich erkennen. Wenn ein Mann
im Traume eine Frau aus dem Wasser rettet, so heißt das:
er macht sie zur Mutter, was nach den vorstehenden Er-
örterungen gleichsinnig ist dem Inhalte: er macht sie zuS.
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seiner Mutter. Wenn eine Frau einen anderen (ein Kind)
aus dem Wasser rettet, so bekennt sie sich damit wie die
Königstochter in der Mosessagex) als seine Mutter, die ihn
geboren hat.Gelegentlich enthält auch die auf den Vater gerichtete
Rettungsphantasie einen zärtlichen Sinn. Sie will dann den
Wunsch ausdrücken, den Vater zum Sohne zu haben, d. h.
einen Sohn zu haben, der so ist wie der Vater. Wegen all
dieser Beziehungen des Rettungsmotivs zum Elternkomplex
bildet die Tendenz, die Geliebte zu retten, einen wesentlichen
Zug des hier beschriebenen Liebestypus.Ich halte es nicht für notwendig, meine Arbeitsweise
zu rechtfertigen, die hier wie bei der Aufstellung der Analerotik
darauf hinausgeht, aus dem Beobachtungsmateriale
zunächst extreme und scharf umschriebene Typen heraus-
zuheben. Es gibt in beiden Fällen weit zahlreichere Individuen,
in denen nur einzelne Züge dieses Typus, oder diese nur in
unscharfer Ausprägung festzustellen sind, und es ist selbst-
verständlich, daß erst die Darlegung des ganzen Zusammen-
hanges, in den diese Typen aufgenommen sind, deren richtige
Würdigung ermöglicht.*)Rank, l. c.
sksn42
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