Die Handhabung der Traumdeutung in der Psychoanalyse 1911-004/1922
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    XXI.

    DIE HANDHABUNG DER TRAUMDEUTUNG
    IN DER PSYCHOANALYSE *)

    Das „Zentralblatt für Psychoanalyse“ hat sich nicht nur
    die eine Aufgabe gesetzt, über die Fortschritte der Psycho-
    analyse zu orientieren und selbst kleinere Beiträge zur Ver-
    öffentlichung zu bringen, sondern möchte auch den anderen
    Aufgaben genügen, das bereits Erkannte in klarer Fassung
    dem Lernenden vorzulegen und dem Anfänger in der analy-
    tischen Behandlung durch geeignete Anweisungen Aufwand
    an Zeit und Mühe zu ersparen. Es werden darum in dieser
    Zeitschrift von nun an auch Aufsätze didaktischer Natur und
    technischen Inhaltes erscheinen, an denen es nicht wesent-
    lich ist, ob sie auch etwas Neues mitteilen.

    Die Frage, die ich heute zu behandeln gedenke, ist
    nicht die nach der Technik der Traumdeutung. Es soll nicht
    erörtert werden, wie man Träume zu deuten und deren Deu-
    tung zu verwerten habe, sondern nur, welchen Gebrauch man
    bei der psychoanalytischen Behandlung von Kranken von der
    Kunst der Traumdeutung machen solle. Man kann dabei ge-
    wiß in verschiedener Weise vorgehen, aber die Antwort auf
    technische Fragen ist in der Psychoanalyse niemals selbst-
    verständlich. Wenn es vielleicht mehr als nur einen guten
    Weg gibt, so gibt es doch sehr viele schlechte, und eine

    *) Zentralblatt für Psychoanalyse, II, 1912.

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    Vergleichung verschiedener Techniken kann nur aufklärend
    wirken, auch wenn sie nicht zur Entscheidung für eine be-
    stimmte Methode führen sollte.

    Wer von der Traumdeutung her zur analytischen Be-
    handlung kommt, der wird sein Interesse für den Inhalt der
    Träume festhalten und darum jeden Traum, den ihm der
    Kranke erzählt, zur möglichst vollständigen Deutung brin-
    gen wollen. Er wird aber bald merken können, daß er sich
    nun unter ganz andersartigen Verhältnissen befindet, und daß
    er mit den nächsten Aufgaben der Therapie in Kollision
    gerät, wenn er seinen Vorsatz durchführen will. Erwies sich
    etwa der erste Traum des Patienten als vortrefflich brauch-
    bar für die Anknüpfung der ersten an den Kranken zu rich-
    tenden Aufklärungen, so stellen sich alsbald Träume ein, die
    so lang und so dunkel sind, daß ihre Deutung in der be-
    grenzten Arbeitsstunde eines Tages nicht zu Ende gebracht
    werden kann. Setzt der Arzt diese Deutungsarbeit durch die
    nächsten Tage fort, so wird ihm unterdes von neuen Träu-
    men berichtet, die zurückgestellt werden müssen, bis er den
    ersten Traum für erledigt halten kann. Gelegentlich ist die
    Traumproduktion so reichlich und der Fortschritt des Kran-
    ken im Verständnis der Träume dabei so zögernd, daß der
    Analytiker sich der Idee nicht erwehren kann, diese Art der
    Darreichung des Materials sei nur eine Äußerung des Wider-
    standes, welcher sich der Erfahrung bedient, daß die Kur
    den ihr so gebotenen Stoff nicht bewältigen kann. Unterdes
    ist die Kur aber ein ganzes Stück hinter der Gegenwart zu-
    rückgeblieben und hat den Kontakt mit der Aktualität ein-
    gebüßt. Einer solchen Technik muß man die Regel entgegen-
    halten, daß es für die Behandlung von größter Bedeutung
    ist, die jeweilige psychische Oberfläche des Kranken zu

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    kennen, darüber orientiert zu sein, welche Komplexe und
    welche Widerstände derzeit bei ihm rege gemacht sind,
    und welche bewußte Reaktion dagegen sein Benehmen
    leiten wird. Dieses therapeutische Ziel darf kaum jemals
    zu Gunsten des Interesses an der Traumdeutung hintan-
    gesetzt werden.

    Wie soll man es also mit der Traumdeutung in der
    Analyse halten, wenn man jener Regel eingedenk bleiben
    will? Etwa so: Man begnüge sich jedesmal mit dem Ergebnis
    an Deutung, welches in einer Stunde zu gewinnen ist, und
    halte es nicht für einen Verlust, daß man den Inhalt des
    Traumes nicht vollständig erkannt hat. Am nächsten Tage
    setze man die Deutungsarbeit nicht wie selbstverständlich
    fort, sondern erst dann, wenn man merkt, daß inzwischen
    nichts anderes sich beim Kranken in den Vordergrund ge-
    drängt hat. Man mache also von der Regel, immer das zu
    nehmen, was dem Kranken zunächst in den Sinn kommt,
    zu Gunsten einer unterbrochenen Traumdeutung keine Aus-
    nahme. Haben sich neue Träume eingestellt, ehe man die
    früheren zu Ende gebracht, so wende man sich diesen rezen-
    teren Produktionen zu und mache sich aus der Vernachläs-
    sigung der älteren keinen Vorwurf. Sind die Träume gar zu
    umfänglich und weitschweifig geworden, so verzichte man
    bei sich von vornherein auf eine vollständige Lösung. Man
    hüte sich im allgemeinen davor, ein ganz besonderes Inter-
    esse für die Deutung der Träume an den Tag zu legen oder
    im Kranken die Meinung zu erwecken, daß die Arbeit stille
    stehen müsse, wenn er keine Träume bringe. Man läuft sonst
    Gefahr, den Widerstand auf die Traumproduktion zu lenken
    und ein Versiegen der Träume hervorzurufen. Der Analy-
    sierte muß vielmehr zur Überzeugung erzogen werden, daß 

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    die Analyse in jedem Falle Material zu ihrer Fortsetzung
    findet, gleichgültig ob er Träume beibringt oder nicht, und
    in welchem Ausmaße man sich mit ihnen beschäftigt.

    Man wird nun fragen: Verzichtet man nicht auf zuviel
    wertvolles Material zur Aufdeckung des Unbewußten, wenn
    man die Traumdeutung nur unter solchen methodischen Ein-
    schränkungen ausübt? Darauf ist folgendes zu erwidern: Der
    Verlust ist keineswegs so groß, wie es bei geringer Vertiefung
    in den Sachverhalt erscheinen wird. Man mache sich einer-
    seits klar, daß irgend ausführliche Traumproduktionen bei
    schweren Fällen von Neurosen nach allen Voraussetzungen
    als prinzipiell nicht vollständig lösbar beurteilt werden
    müssen. Ein solcher Traum baut sich oft über dem gesamten
    pathogenen Material des Falles auf, welches Arzt und Pa-
    tient noch nicht kennen (sog. Programmträume, biographi-
    sche Träume); er ist gelegentlich einer Übersetzung des
    ganzen Inhalts der Neurose in die Traumsprache gleichzu-
    stellen. Beim Versuch einen solchen Traum zu deuten, wer-
    den alle noch unangetastet vorhandenen Widerstände zur
    Wirkung kommen und der Einsicht bald eine Grenze setzen.
    Die vollständige Deutung eines solchen Traumes fällt eben
    zusammen mit der Ausführung der ganzen Analyse. Hat man
    ihn zu Beginn der Analyse notiert, so kann man ihn etwa
    am Ende derselben, nach vielen Monaten, verstehen. Es ist
    derselbe Fall wie beim Verständnis eines einzelnen Symptoms
    (des Hauptsymptoms etwa). Die ganze Analyse dient der
    Aufklärung desselben; während der Behandlung muß man der
    Reihe nach bald dies bald jenes Stück der Symptombedeutung
    zu erfassen suchen, bis man all diese Stücke zusammensetzen
    kann. Mehr darf man also auch von einem zu Anfang der
    Analyse vorfallenden Traume nicht verlangen; man muß sich 

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    zufrieden geben, wenn man aus dem Deutungsversuch zu-
    nächst eine einzelne pathogene Wunschregung errät.

    Man verzichtet also auf nichts Erreichbares, wenn man
    die Absicht einer vollständigen Traumdeutung aufgibt. Man
    verliert aber auch in der Regel nichts, wenn man die Deu-
    tung eines älteren Traumes abbricht, um sich einem rezen-
    teren zuzuwenden. Wir haben aus schönen Beispielen voll
    gedeuteter Träume erfahren, daß mehrere aufeinanderfolgende
    Szenen desselben Traumes den nämlichen Inhalt haben können,
    der sich in ihnen etwa mit steigender Deutlichkeit durch-
    setzt. Wir haben ebenso gelernt, daß mehrere in derselben
    Nacht vorfallende Träume nichts anderes zu sein brauchen
    als Versuche, denselben Inhalt in verschiedener Ausdrucks-
    weise darzustellen. Wir können ganz allgemein versichert sein,
    daß jede Wunschregung, die sich heute einen Traum schafft,
    in einem anderen Traume wiederkehren wird, solange sie nicht
    verstanden und der Herrschaft des Unbewußten entzogen ist.
    So wird auch oft der beste Weg, um die Deutung eines
    Traumes zu vervollständigen, darin bestehen, daß man ihn
    verläßt, um sich dem neuen Traume zu widmen, der das näm-
    liche Material in vielleicht zugänglicherer Form wieder auf-
    nimmt. Ich weiß, daß es nicht nur für den Analysierten,
    sondern auch für den Arzt eine starke Zumutung ist, die
    bewußten Zielvorstellungen bei der Behandlung aufzugeben
    und sich ganz einer Leitung zu überlassen, die uns doch immer
    wieder als „zufällig“ erscheint. Aber ich kann versichern,
    es lohnt sich jedesmal, wenn man sich entschließt, seinen
    eigenen theoretischen Behauptungen Glauben zu schenken,
    und sich dazu überwindet, die Herstellung des Zusammen-
    hanges der Führung des Unbewußten nicht streitig zu machen.

    Ich paidiere also dafür, daß die Traumdeutung in der

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    analytischen Behandlung nicht als Kunst um ihrer selbst
    willen betrieben werden soll, sondern daß ihre Handhabung
    jenen technischen Regeln unterworfen werde, welche die Aus-
    führung der Kur überhaupt beherrschen. Natürlich kann
    man es gelegentlich auch anders machen und seinem theo-
    retischen Interesse ein Stück weit nachgehen. Man muß da-
    bei aber immer wissen, was man tut. Ein anderer Fall ist
    noch in Betracht zu ziehen, der sich ergeben hat, seitdem
    wir zu unserem Verständnis der Traumsymbolik größeres Zu-
    trauen haben und uns von den Einfällen der Patienten un-
    abhängiger wissen. Ein besonders geschickter Traumdeuter
    kann sich etwa in der Lage befinden, daß er jeden Traum
    des Patienten durchschaut, ohne diesen zur mühsamen und
    zeitraubenden Bearbeitung des Traumes anhalten zu müssen.
    Für einen solchen Analytiker entfallen also alle Konflikte
    zwischen den Anforderungen der Traumdeutung und jenen
    der Therapie. Er wird sich auch versucht fühlen, die Traum-
    deutung jedesmal voll auszunützen und dem Patienten alles
    mitzuteilen, was er aus seinen Träumen erraten hat. Dabei
    hat er aber eine Methodik der Behandlung eingeschlagen,
    die von der regulären nicht unerheblich abweicht, wie ich in
    anderem Zusammenhange dartun werde. Dem Anfänger in
    der psychoanalytischen Behandlung ist jedenfalls zu wider-
    raten, daß er sich diesen außergewöhnlichen Fall zum Vor-
    bild nehme.

    Gegen die allerersten Träume, die ein Patient in der
    analytischen Behandlung mitteilt, so lange er selbst noch
    nichts von der Technik der Traumübersetzung gelernt hat,
    verhält sich jeder Analytiker wie jener von uns angenommene
    überlegene Traumdeuter. Diese initialen Träume sind sozu-
    sagen naiv, sie verraten dem Zuhörer sehr viel, ähnlich wie

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    die Träume sogenannt gesunder Menschen. Es entsteht nun
    die Frage, soll der Arzt auch sofort dem Kranken alles über-
    setzen, was er selbst aus dem Traume herausgelesen hat.
    Diese Frage soll aber hier nicht beantwortet werden, denn
    sie ist offenbar der umfassenderen Frage untergeordnet, in
    welchen Phasen der Behandlung und in welchem Tempo der
    Kranke in die Kenntnis des ihm seelisch Verhüllten vom
    Arzte eingeführt werden soll. Je mehr dann der Patient von
    der Übung der Traumdeutung erlernt hat, desto dunkler wer-
    den in der Regel seine späteren Träume. Alles erworbene
    Wissen um den Traum dient auch der Traumbildung als
    Warnung.

    In den „wissenschaftlichen“ Arbeiten über den Traum,
    die trotz der Ablehnung der Traumdeutung einen neuen Im-
    puls durch die Psychoanalyse empfangen haben, findet man
    immer wieder eine recht überflüssige Sorgfalt auf die ge-
    treue Erhaltung des Traumtextes verlegt, der angeblich vor
    den Entstellungen und Usuren der nächsten Tagesstunden
    bewahrt werden muß. Auch manche Psychoanalytiker schei-
    nen sich ihrer Einsicht in die Bedingungen der Traumbildung
    nicht konsequent genug zu bedienen, wenn sie dem Behan-
    delten den Auftrag geben, jeden Traum unmittelbar nach
    dem Erwachen schriftlich zu fixieren. Diese Maßregel ist in
    der Therapie überflüssig; auch bedienen sich die Kranken
    der Vorschrift gern, um sich im Schlafe zu stören und einen
    großen Eifer dort anzubringen, wo er nicht von Nutzen sein
    kann. Hat man nämlich auf solche Weise mühselig einen
    Traumtext gerettet, der sonst vom Vergessen verzehrt wor-
    den wäre, so kann man sich doch leicht überzeugen, daß
    für den Kranken damit nichts erreicht ist. Zu dem Text
    stellen sich die Einfälle nicht ein, und der Effekt ist der 

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    nämliche, als ob der Traum nicht erhalten geblieben wäre.
    Der Arzt hat allerdings in dem einen Falle etwas erfahren,
    was ihm im anderen entgangen wäre. Aber es ist nicht das-
    selbe, ob der Arzt oder ob der Patient etwas weiß; die Be-
    deutung dieses Unterschiedes für die Technik der Psycho-
    analyse soll ein anderes Mal von uns gewürdigt werden.

    Ich will endlich noch einen besonderen Typus von Träu-
    men erwähnen, die ihren Bedingungen nach nur in einer psy-
    choanalytischen Kur vorkommen können, und die den An-
    fänger befremden oder irreführen mögen. Es sind dies die
    sogenannten nachhinkenden oder bestätigenden Träume, die
    der Deutung leicht zugänglich sind und als Übersetzung
    nichts anderes ergeben, als was die Kur in den letzten Tagen
    aus dem Material der Tageseinfälle erschlossen hatte. Es
    sieht dann so aus, als hätte der Patient die Liebenswürdig-
    keit gehabt, gerade das in Traumform zu bringen, was man
    ihm unmittelbar vorher „suggeriert“ hat. Der geübtere Ana-
    lytiker hat allerdings Schwierigkeiten, seinem Patienten solche
    Liebenswürdigkeiten zuzumuten; er greift solche Träume als
    erwünschte Bestätigungen auf und konstatiert, daß sie nur
    unter bestimmten Bedingungen der Beeinflussung durch die
    Kur beobachtet werden. Die weitaus zahlreichsten Träume
    eilen ja der Kur voran, so daß sich aus ihnen nach Abzug
    von allem bereits Bekannten und Verständlichen ein mehr
    oder minder deutlicher Hinweis auf etwas, was bisher ver-
    borgen war, ergibt.