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XXI.
DIE HANDHABUNG DER TRAUMDEUTUNG
IN DER PSYCHOANALYSE *)Das „Zentralblatt für Psychoanalyse“ hat sich nicht nur
die eine Aufgabe gesetzt, über die Fortschritte der Psycho-
analyse zu orientieren und selbst kleinere Beiträge zur Ver-
öffentlichung zu bringen, sondern möchte auch den anderen
Aufgaben genügen, das bereits Erkannte in klarer Fassung
dem Lernenden vorzulegen und dem Anfänger in der analy-
tischen Behandlung durch geeignete Anweisungen Aufwand
an Zeit und Mühe zu ersparen. Es werden darum in dieser
Zeitschrift von nun an auch Aufsätze didaktischer Natur und
technischen Inhaltes erscheinen, an denen es nicht wesent-
lich ist, ob sie auch etwas Neues mitteilen.Die Frage, die ich heute zu behandeln gedenke, ist
nicht die nach der Technik der Traumdeutung. Es soll nicht
erörtert werden, wie man Träume zu deuten und deren Deu-
tung zu verwerten habe, sondern nur, welchen Gebrauch man
bei der psychoanalytischen Behandlung von Kranken von der
Kunst der Traumdeutung machen solle. Man kann dabei ge-
wiß in verschiedener Weise vorgehen, aber die Antwort auf
technische Fragen ist in der Psychoanalyse niemals selbst-
verständlich. Wenn es vielleicht mehr als nur einen guten
Weg gibt, so gibt es doch sehr viele schlechte, und eine*) Zentralblatt für Psychoanalyse, II, 1912.
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Vergleichung verschiedener Techniken kann nur aufklärend
wirken, auch wenn sie nicht zur Entscheidung für eine be-
stimmte Methode führen sollte.Wer von der Traumdeutung her zur analytischen Be-
handlung kommt, der wird sein Interesse für den Inhalt der
Träume festhalten und darum jeden Traum, den ihm der
Kranke erzählt, zur möglichst vollständigen Deutung brin-
gen wollen. Er wird aber bald merken können, daß er sich
nun unter ganz andersartigen Verhältnissen befindet, und daß
er mit den nächsten Aufgaben der Therapie in Kollision
gerät, wenn er seinen Vorsatz durchführen will. Erwies sich
etwa der erste Traum des Patienten als vortrefflich brauch-
bar für die Anknüpfung der ersten an den Kranken zu rich-
tenden Aufklärungen, so stellen sich alsbald Träume ein, die
so lang und so dunkel sind, daß ihre Deutung in der be-
grenzten Arbeitsstunde eines Tages nicht zu Ende gebracht
werden kann. Setzt der Arzt diese Deutungsarbeit durch die
nächsten Tage fort, so wird ihm unterdes von neuen Träu-
men berichtet, die zurückgestellt werden müssen, bis er den
ersten Traum für erledigt halten kann. Gelegentlich ist die
Traumproduktion so reichlich und der Fortschritt des Kran-
ken im Verständnis der Träume dabei so zögernd, daß der
Analytiker sich der Idee nicht erwehren kann, diese Art der
Darreichung des Materials sei nur eine Äußerung des Wider-
standes, welcher sich der Erfahrung bedient, daß die Kur
den ihr so gebotenen Stoff nicht bewältigen kann. Unterdes
ist die Kur aber ein ganzes Stück hinter der Gegenwart zu-
rückgeblieben und hat den Kontakt mit der Aktualität ein-
gebüßt. Einer solchen Technik muß man die Regel entgegen-
halten, daß es für die Behandlung von größter Bedeutung
ist, die jeweilige psychische Oberfläche des Kranken zuS.
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kennen, darüber orientiert zu sein, welche Komplexe und
welche Widerstände derzeit bei ihm rege gemacht sind,
und welche bewußte Reaktion dagegen sein Benehmen
leiten wird. Dieses therapeutische Ziel darf kaum jemals
zu Gunsten des Interesses an der Traumdeutung hintan-
gesetzt werden.Wie soll man es also mit der Traumdeutung in der
Analyse halten, wenn man jener Regel eingedenk bleiben
will? Etwa so: Man begnüge sich jedesmal mit dem Ergebnis
an Deutung, welches in einer Stunde zu gewinnen ist, und
halte es nicht für einen Verlust, daß man den Inhalt des
Traumes nicht vollständig erkannt hat. Am nächsten Tage
setze man die Deutungsarbeit nicht wie selbstverständlich
fort, sondern erst dann, wenn man merkt, daß inzwischen
nichts anderes sich beim Kranken in den Vordergrund ge-
drängt hat. Man mache also von der Regel, immer das zu
nehmen, was dem Kranken zunächst in den Sinn kommt,
zu Gunsten einer unterbrochenen Traumdeutung keine Aus-
nahme. Haben sich neue Träume eingestellt, ehe man die
früheren zu Ende gebracht, so wende man sich diesen rezen-
teren Produktionen zu und mache sich aus der Vernachläs-
sigung der älteren keinen Vorwurf. Sind die Träume gar zu
umfänglich und weitschweifig geworden, so verzichte man
bei sich von vornherein auf eine vollständige Lösung. Man
hüte sich im allgemeinen davor, ein ganz besonderes Inter-
esse für die Deutung der Träume an den Tag zu legen oder
im Kranken die Meinung zu erwecken, daß die Arbeit stille
stehen müsse, wenn er keine Träume bringe. Man läuft sonst
Gefahr, den Widerstand auf die Traumproduktion zu lenken
und ein Versiegen der Träume hervorzurufen. Der Analy-
sierte muß vielmehr zur Überzeugung erzogen werden, daßS.
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die Analyse in jedem Falle Material zu ihrer Fortsetzung
findet, gleichgültig ob er Träume beibringt oder nicht, und
in welchem Ausmaße man sich mit ihnen beschäftigt.Man wird nun fragen: Verzichtet man nicht auf zuviel
wertvolles Material zur Aufdeckung des Unbewußten, wenn
man die Traumdeutung nur unter solchen methodischen Ein-
schränkungen ausübt? Darauf ist folgendes zu erwidern: Der
Verlust ist keineswegs so groß, wie es bei geringer Vertiefung
in den Sachverhalt erscheinen wird. Man mache sich einer-
seits klar, daß irgend ausführliche Traumproduktionen bei
schweren Fällen von Neurosen nach allen Voraussetzungen
als prinzipiell nicht vollständig lösbar beurteilt werden
müssen. Ein solcher Traum baut sich oft über dem gesamten
pathogenen Material des Falles auf, welches Arzt und Pa-
tient noch nicht kennen (sog. Programmträume, biographi-
sche Träume); er ist gelegentlich einer Übersetzung des
ganzen Inhalts der Neurose in die Traumsprache gleichzu-
stellen. Beim Versuch einen solchen Traum zu deuten, wer-
den alle noch unangetastet vorhandenen Widerstände zur
Wirkung kommen und der Einsicht bald eine Grenze setzen.
Die vollständige Deutung eines solchen Traumes fällt eben
zusammen mit der Ausführung der ganzen Analyse. Hat man
ihn zu Beginn der Analyse notiert, so kann man ihn etwa
am Ende derselben, nach vielen Monaten, verstehen. Es ist
derselbe Fall wie beim Verständnis eines einzelnen Symptoms
(des Hauptsymptoms etwa). Die ganze Analyse dient der
Aufklärung desselben; während der Behandlung muß man der
Reihe nach bald dies bald jenes Stück der Symptombedeutung
zu erfassen suchen, bis man all diese Stücke zusammensetzen
kann. Mehr darf man also auch von einem zu Anfang der
Analyse vorfallenden Traume nicht verlangen; man muß sichS.
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zufrieden geben, wenn man aus dem Deutungsversuch zu-
nächst eine einzelne pathogene Wunschregung errät.Man verzichtet also auf nichts Erreichbares, wenn man
die Absicht einer vollständigen Traumdeutung aufgibt. Man
verliert aber auch in der Regel nichts, wenn man die Deu-
tung eines älteren Traumes abbricht, um sich einem rezen-
teren zuzuwenden. Wir haben aus schönen Beispielen voll
gedeuteter Träume erfahren, daß mehrere aufeinanderfolgende
Szenen desselben Traumes den nämlichen Inhalt haben können,
der sich in ihnen etwa mit steigender Deutlichkeit durch-
setzt. Wir haben ebenso gelernt, daß mehrere in derselben
Nacht vorfallende Träume nichts anderes zu sein brauchen
als Versuche, denselben Inhalt in verschiedener Ausdrucks-
weise darzustellen. Wir können ganz allgemein versichert sein,
daß jede Wunschregung, die sich heute einen Traum schafft,
in einem anderen Traume wiederkehren wird, solange sie nicht
verstanden und der Herrschaft des Unbewußten entzogen ist.
So wird auch oft der beste Weg, um die Deutung eines
Traumes zu vervollständigen, darin bestehen, daß man ihn
verläßt, um sich dem neuen Traume zu widmen, der das näm-
liche Material in vielleicht zugänglicherer Form wieder auf-
nimmt. Ich weiß, daß es nicht nur für den Analysierten,
sondern auch für den Arzt eine starke Zumutung ist, die
bewußten Zielvorstellungen bei der Behandlung aufzugeben
und sich ganz einer Leitung zu überlassen, die uns doch immer
wieder als „zufällig“ erscheint. Aber ich kann versichern,
es lohnt sich jedesmal, wenn man sich entschließt, seinen
eigenen theoretischen Behauptungen Glauben zu schenken,
und sich dazu überwindet, die Herstellung des Zusammen-
hanges der Führung des Unbewußten nicht streitig zu machen.Ich paidiere also dafür, daß die Traumdeutung in der
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analytischen Behandlung nicht als Kunst um ihrer selbst
willen betrieben werden soll, sondern daß ihre Handhabung
jenen technischen Regeln unterworfen werde, welche die Aus-
führung der Kur überhaupt beherrschen. Natürlich kann
man es gelegentlich auch anders machen und seinem theo-
retischen Interesse ein Stück weit nachgehen. Man muß da-
bei aber immer wissen, was man tut. Ein anderer Fall ist
noch in Betracht zu ziehen, der sich ergeben hat, seitdem
wir zu unserem Verständnis der Traumsymbolik größeres Zu-
trauen haben und uns von den Einfällen der Patienten un-
abhängiger wissen. Ein besonders geschickter Traumdeuter
kann sich etwa in der Lage befinden, daß er jeden Traum
des Patienten durchschaut, ohne diesen zur mühsamen und
zeitraubenden Bearbeitung des Traumes anhalten zu müssen.
Für einen solchen Analytiker entfallen also alle Konflikte
zwischen den Anforderungen der Traumdeutung und jenen
der Therapie. Er wird sich auch versucht fühlen, die Traum-
deutung jedesmal voll auszunützen und dem Patienten alles
mitzuteilen, was er aus seinen Träumen erraten hat. Dabei
hat er aber eine Methodik der Behandlung eingeschlagen,
die von der regulären nicht unerheblich abweicht, wie ich in
anderem Zusammenhange dartun werde. Dem Anfänger in
der psychoanalytischen Behandlung ist jedenfalls zu wider-
raten, daß er sich diesen außergewöhnlichen Fall zum Vor-
bild nehme.Gegen die allerersten Träume, die ein Patient in der
analytischen Behandlung mitteilt, so lange er selbst noch
nichts von der Technik der Traumübersetzung gelernt hat,
verhält sich jeder Analytiker wie jener von uns angenommene
überlegene Traumdeuter. Diese initialen Träume sind sozu-
sagen naiv, sie verraten dem Zuhörer sehr viel, ähnlich wieS.
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die Träume sogenannt gesunder Menschen. Es entsteht nun
die Frage, soll der Arzt auch sofort dem Kranken alles über-
setzen, was er selbst aus dem Traume herausgelesen hat.
Diese Frage soll aber hier nicht beantwortet werden, denn
sie ist offenbar der umfassenderen Frage untergeordnet, in
welchen Phasen der Behandlung und in welchem Tempo der
Kranke in die Kenntnis des ihm seelisch Verhüllten vom
Arzte eingeführt werden soll. Je mehr dann der Patient von
der Übung der Traumdeutung erlernt hat, desto dunkler wer-
den in der Regel seine späteren Träume. Alles erworbene
Wissen um den Traum dient auch der Traumbildung als
Warnung.In den „wissenschaftlichen“ Arbeiten über den Traum,
die trotz der Ablehnung der Traumdeutung einen neuen Im-
puls durch die Psychoanalyse empfangen haben, findet man
immer wieder eine recht überflüssige Sorgfalt auf die ge-
treue Erhaltung des Traumtextes verlegt, der angeblich vor
den Entstellungen und Usuren der nächsten Tagesstunden
bewahrt werden muß. Auch manche Psychoanalytiker schei-
nen sich ihrer Einsicht in die Bedingungen der Traumbildung
nicht konsequent genug zu bedienen, wenn sie dem Behan-
delten den Auftrag geben, jeden Traum unmittelbar nach
dem Erwachen schriftlich zu fixieren. Diese Maßregel ist in
der Therapie überflüssig; auch bedienen sich die Kranken
der Vorschrift gern, um sich im Schlafe zu stören und einen
großen Eifer dort anzubringen, wo er nicht von Nutzen sein
kann. Hat man nämlich auf solche Weise mühselig einen
Traumtext gerettet, der sonst vom Vergessen verzehrt wor-
den wäre, so kann man sich doch leicht überzeugen, daß
für den Kranken damit nichts erreicht ist. Zu dem Text
stellen sich die Einfälle nicht ein, und der Effekt ist derS.
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nämliche, als ob der Traum nicht erhalten geblieben wäre.
Der Arzt hat allerdings in dem einen Falle etwas erfahren,
was ihm im anderen entgangen wäre. Aber es ist nicht das-
selbe, ob der Arzt oder ob der Patient etwas weiß; die Be-
deutung dieses Unterschiedes für die Technik der Psycho-
analyse soll ein anderes Mal von uns gewürdigt werden.Ich will endlich noch einen besonderen Typus von Träu-
men erwähnen, die ihren Bedingungen nach nur in einer psy-
choanalytischen Kur vorkommen können, und die den An-
fänger befremden oder irreführen mögen. Es sind dies die
sogenannten nachhinkenden oder bestätigenden Träume, die
der Deutung leicht zugänglich sind und als Übersetzung
nichts anderes ergeben, als was die Kur in den letzten Tagen
aus dem Material der Tageseinfälle erschlossen hatte. Es
sieht dann so aus, als hätte der Patient die Liebenswürdig-
keit gehabt, gerade das in Traumform zu bringen, was man
ihm unmittelbar vorher „suggeriert“ hat. Der geübtere Ana-
lytiker hat allerdings Schwierigkeiten, seinem Patienten solche
Liebenswürdigkeiten zuzumuten; er greift solche Träume als
erwünschte Bestätigungen auf und konstatiert, daß sie nur
unter bestimmten Bedingungen der Beeinflussung durch die
Kur beobachtet werden. Die weitaus zahlreichsten Träume
eilen ja der Kur voran, so daß sich aus ihnen nach Abzug
von allem bereits Bekannten und Verständlichen ein mehr
oder minder deutlicher Hinweis auf etwas, was bisher ver-
borgen war, ergibt.
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