Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse 1917-002/1922
  • S.

    XXX.

    EINE SCHWIERIGKEIT DER PSYCHOANALYSE. 9

    Ich will gleich zum Eingang sagen, daß ich nicht eine
    intellektuelle Schwierigkeit meine, etwas, was die Psycho-
    analyse für das Verständnis des Empfängers (Hörers oder
    Lesers) unzugänglich macht, sondern eine affektive Schwierig-
    keit: etwas, wodurch sich die Psychoanalyse die Gefühle des
    Empfängers entfremdet, so daß er weniger geneigt wird, ihr
    Interesse oder Glauben zu schenken. Wie man merkt, kommen
    beiderlei Schwierigkeiten auf dasselbe hinaus. Wer für eine
    Sache nicht genug Sympathie aufbringen kann, wird sie auch
    nicht so leicht verstehen.

    Aus Rücksicht auf den Leser, den ich mir noch als völlig
    unbeteiligt vorstelle, muß ich etwas weiter ausholen: In der
    Psychoanalyse hat sich aus einer großen Zahl von Einzel-
    beobachtungen und Eindrücken endlich etwas wie eine Theorie
    gestaltet, die unter dem Namen der Libidotheorie bekannt ist.
    Die Psychoanalyse bescháftigt sich bekanntlich mit der Auf-
    klårung und der Beseitigung der sogenannten nervósen Stó-
    rungen. Für dieses Problem mußte ein Angriffspunkt gefunden
    werden, und man entschlof sich, ihn im Triebleben der Seele
    zu suchen. Annahmen über das menschliche Triebleben wurden

    also die Grundlage unserer Auffassung der Nervosität.

    *) Imago V, 1917. Zuerst in ungarischer Sprache abgedruckt in der
    Zeitschrift , Nyugat", herausgegeben von H. Ignotus, Budapest 1917.

  • S.

    554 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE, IV.

    Die Psychologie, die auf unseren Schulen gelehrt wird,
    gibt uns nur sehr wenig befriedigende Antworten, wenn wir sie
    nach den Problemen des Seelenlebens befragen. Auf keinem Ge-
    biet sind aber ihre Auskiinfte kiimmerlicher als auf dem der
    Triebe.

    Es bleibt uns überlassen, wie wir uns hier eine erste
    Orientierung schaffen wollen. Die populåre Auffassung trennt
    Hunger und Liebe als Vertreter der Triebe, welche das Einzel-
    wesen zu erhalten, und jener, die es fortzupflanzen streben.
    Indem wir uns dieser so nahe liegenden Sonderung anschließen,
    unterscheiden wir auch in der Psychoanalyse die Selbsterhal-
    tungs- oder Ich-Triebe von den Sexualtrieben und nennen die
    Kraft, mit welcher der Sexualtrieb im Seelenleben auftritt,
    Libido — sexuelles Verlangen — als etwas dem Hunger, dem
    Machtwillen u. dgl. bei den Ich-Tricben Analoges,

    Auf dem Boden dieser Annahme machen wir dann die
    erste bedeutungsvolle Entdeckung. Wir erfahren, daß fiir das
    Verständnis der neurotischen Erkrankungen den Sexualtrieben
    die weitaus größere Bedeutung zukommt, daß die Neurosen
    sozusagen die spezifischen Erkrankungen der Sexualfunktion
    sind. Daß es von der Quantität der Libido und von der Måg-
    lichkeit, sie zu befriedigen und durch Befriedigung abzu-
    führen, abhängt, ob ein Mensch überhaupt an einer Neurose
    erkrankt. Daß die Form der Erkrankung bestimmt wird durch
    die Art, wie der einzelne den Entwicklungsweg der Sexual-
    funktion zurückgelegt hat, oder, wie wir sagen, durch die Fixie-
    rungen, welche seine Libido im Laufe ihrer Entwicklung er-
    fahren hat. Und daß wir in einer gewissen, nicht sehr einfachen
    Technik der psychischen Beeinflussung ein Mittel haben,
    manche Gruppen der Neurosen gleichzeitig aufzuklären und
    rückgängig zu machen. Den besten Erfolg hat unsere thera-

  • S.

    XXX, EINE SCHWIERIGKEIT DER PSYCHOANALYSE, 555

    peutische Bemühung bei einer gewissen Klasse von Neurosen,
    die aus dem Konflikt zwischen den Ich-Trieben und den Sexual-
    trieben hervorgehen. Beim Menschen kommt es nämlich vor,
    daß. die Anforderungen der Sexualtriebe, die ja weit über
    das Einzelwesen hinausgreifen, dem Ich als Gefahr erscheinen,
    die seine Selbsterhaltung oder seine Selbstachtung bedrohen.
    Dann setzt sich das Ich zur Wehre, versagt den Sexual-
    trieben die gewünschte Befriedigung, nötigt sie zu jenen Um-
    wegen einer Ersatzbefriedigung, die sich als nervóse Symptome |
    kundgeben.

    Die psychoanalytische Therapie bringt es dann zu stande,
    den VerdrångungsprozeB einer Revision zu unterziehen und
    den Konflikt zu einem besseren, mit der Gesundheit vertråg-
    lichen Ausgang zu leiten. Unverståndige Gegnerschaft wirft
    uns dann unsere Schátzung der Sexualtriebe als einseitig vor:
    Der Mensch habe noch andere Interessen als die sexuellen.
    Das haben wir keinen Augenblick lang vergessen oder ver-
    leugnet. Unsere Einseitigkeit ist wie die des Chemikers, der
    alle Konstitutionen auf die Kraft der chemischen Attraktion
    zurückführt. Er leugnet darum die Schwerkraft nicht, er über-
    läßt ihre Würdigung dem Physiker.

    i Während der therapeutisc
    die Verteilung der Libido bei

    ren Arbeit müssen wir uns um

    dem Kranken bekümmern, wir

    forschen nach, an welche Objektvorstellungen seine Libido

    gebunden ist, und machen sie

    fügung zu stellen. Dabei sind

    frei, um sie dem Ich zur Ver-
    wir dazu gekommen, uns ein

    sehr merkwiirdiges Bild von der anfänglichen, der Urverteilung

    der Libido beim Menschen zu machen. Wir mußten annehmen,
    daß zu Beginn der individuellen Entwicklung alle Libido (alles
    erotische Streben, alle Liebes
    geknüpft ist, wie wir sagen, das eigene Ich besetzt. Erst

    ähigkeit) an die eigene Person

  • S.

    556 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    später geschieht es in Anlehnung an die Befriedigung der
    großen Lebensbedürfnisse, daß die Libido vom Ich auf die
    äußeren Objekte überfließt, wodurch wir erst in die Lage
    kommen, die libidinósen Triebe als solche zu erkennen und
    von den Ich-Trieben zu unterscheiden. Von diesen Objekten
    kann die Libido wieder abgelöst und ins Ich zurückgezogen
    werden.

    Den Zustand, in dem das Ich die Libido bei sich behält,
    heißen wir Narzißmus, in Erinnerung der griechischen Sage
    vom Jüngling Narzissus, der in sein eigenes Spiegelbild
    verliebt blieb.

    Wir schreiben also dem Individuum einen Fortschritt zu
    vom Narzißmus zur Objektliebe. Aber r ir glauben nicht, daß
    jemals die gesamte Libido des Ichs auf die Objekte über-
    geht. Ein gewisser Betrag von Libido verbleibt immer beim
    Ich, ein gewisses Maß von Narzißmus bleibt trotz hochent-
    wickelter Objektliebe fortbestehen. Das Ich ist ein großes
    Reservoir, aus dem die für die Objekte bestimmte Libido aus-
    strömt, und dem sie von den Objekten her wieder zuflieBt.
    Die Objektlibido wär zuerst Ich-Libido und kann sich wieder
    in Ich-Libido umsetzen. Es ist für die volle Gesundheit der
    Person wesentlich, daß ihre Libido die volle Beweglichkeit
    nicht verliere. Zur Versinnlichung dieses Verhältnisses denken
    wir an ein Protoplasmatierchen, dessen zähflüssige Substanz
    Pseudopodien (Scheinfüßchen) aussendet, Fortsetzungen, in
    welche sich die Leibessubstanz hineinerstreckt, die aber jeder-
    zeit wieder eingezogen werden können, so daß die Form des
    Protoplasmaklümpchens wieder hergestellt wird,

    Was ich durch diese Andeutungen zu beschreiben ver-
    sucht habe, ist die Libidotheorie der Neurosen, auf welche
    alle unsere Auffassungen vom Wesen dieser krankhaften Zu-

  • S.

    XXX. EINE SCHWIERIGKEIT DER PSYCHOANALYSE. 557

    stände und unser therapeutisches Vorgehen gegen dieselben
    begründet sind. Es ist selbstverständlich, daß wir die Voraus-
    setzungen der Libidotheorie auch für das normale Verhalten
    geltend. machen. Wir sprechen vom Narzißmus des kleinen
    Kindes und wir schreiben es dem überstarken Narzißmus des
    primitiven Menschen zu, daß er an die Allmacht seiner Ge-
    danken glaubt und darum den Ablauf der Begebenheiten in
    der äußeren Welt durch die Technik der Magie beeinflussen
    will.
    7 Nach dieser Einleitung möchte ich ausführen, daß der all-
    gemeine NarziBmus, die Eigenliebe der Menschheit, bis jetzt
    drei schwere Krånkungen von seiten der wissenschaftlichen
    Forschung erfahren hat.
    a) Der Mensch glaubte zuerst in den Anfängen seiner
    Forschung, daß sich sein Wohnsitz, die Erde, ruhend im Mittel-
    punkt des Weltalls befinde, während Sonne, Mond und Pla-

    neten sich in kreisfórmigen Bahnen um die Erde bewegen.

    Er folgte dabei in naiver Weise dem Eindruck seiner Sinnes-
    wahrnehmungen, denn eine Bewegung der Erde verspiirt er
    nicht, und wo immer er frei um sich blicken kann, findet er

    sich im Mittelpunkt eines Kreises, der die äußere Welt um-
    schließt. Die zentrale Stellung der Erde war ihm aber eine
    Gewähr für ihre herrschende Rolle im Weltall und schien
    in guter Ubereinstimmung mit seiner Neigung, sich als den
    Herrn dieser Welt zu fühlen.

    Die Zerstörung dieser narziBtischen Illusion knüpft sich -
    für uns an den Namen und das Werk des Nik. Kopernikus
    im sechzehnten Jahrhundert. Lange vor ihm hatten die Pytha-
    gorüer an der bevorzugten Stellung der Erde gezweifelt, und
    Aristarch von Samos hatte im dritten vorchristlichen Jahr-
    hundert ausgesprochen, daß die Erde viel kleiner sei als die

  • S.

    558 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV,

    Sonne und sich um diesen Himmelskörper bewege, Auch die
    große Entdeckung des Kopernikus war also schon vor
    ihm gemacht worden, Als sie aber allgemeine Anerkennung
    fand, hatte die menschliche Eigenliebe ihre erste, die k os m o-
    logische, Krånkung erfahren.

    b) Der Mensch warf sich im Laufe seiner Kulturentwick-
    lung zum Herrn über seine tierischen Mitgeschópfe auf, Aber
    mit dieser Vorherrschaft nicht zufrieden, begann er eine Kluft
    zwischen ihrem und scinem Wesen zu legen. Er sprach ihnen
    die Vernunft ab und legte sich eine unsterbliche Seele bei,
    berief sich auf eine hohe góttliche Abkunft, die das Band
    der Gemeinschaft mit der Tierwelt zu zerreiBen gestattete.
    Es ist merkwürdig, daß diese Überhebung dem kleinen Kinde
    wie dem primitiven und dem Urmenschen noch ferne liegt.
    Sie ist das Ergebnis einer späteren anspruchsvollen Entwick-
    lung. Der Primitive fand es auf der Stufe des Totemismus
    nicht anstôBig, seinen Stamm auf einen tierischen Ahnherrn

    .Zurückzuleiten. Der Mythus, welcher den Niederschlag jener

    alten Denkungsart enthält, läßt die Götter Tiergestalt an-
    nchmen, und die Kunst der ersten Zeiten bildet die Gótter
    mit Tierkópfen. Das Kind empfindet keinen Unterschied zwi-
    schen dem eigenen Wesen und dem des Tieres; es läßt die
    Tiere ohne Verwunderung im Märchen denken und sprechen;
    es verschiebt einen Angsteffekt, der dem menschlichen Vater
    gilt, auf den Hund oder auf das Pferd, ohne damit eine
    Herabsetzung des Vaters zu beabsichtigen. Erst wenn es er-
    wachsen ist, wird es sich dem Tiere soweit entfremdet haben,
    daß es den Menschen mit dem Namen des Tieres beschimpfen
    kann.

    Wir wissen es alle, daB die Forschung Ch. Darwins,
    seiner Mitarbeiter und Vorgánger, vor wenig mehr als einem

  • S.

    XXX. EINE SCHWIERIGKEIT DER PSYCHOANALYSE. 559

    halben Jahrhundert dieser Uberhebung des Menschen ein Ende
    bereitet hat. Der Mensch ist nichts anderes und nichts Besseres
    als die Tiere, er ist selbst aus der Tierreihe hervorgegangen,
    einigen Arten näher, anderen ferner verwandt. Seine späteren
    Erwerbungen vermochten es nicht, die Zeugnisse der Gleich-
    wertigkeit zu verwischen, die in scinem Körperbau wie in seinen
    scolischen Anlagen gegeben sind. Dies ist aber die zweite,
    die biologische Kränkung des menschlichen Narzißmus.

    с) Am empfindlicheten trifft wohl die dritte Kränkung,
    die psychologischer Natur ist.

    Der Mensch, ob auch draußen erniedrigt, fühlt sich

    souverän in seiner eigenen Seele. Irgendwo im Kern scines Ichs

    hat er sich ein Aufsichtsorgan geschaffen, welches seine

    eigenen Regungen und Handlungen überwacht, ob sie mit
    seinen Anforderungen zusammenstimmen. Tun sie das nicht,
    so werden sic unerbittlich gehemmt und zurückgezogen. Seine
    "innere Wahrnehmung, das Bewußtsein, gibt dem Ich Kunde
    von allen bedeutungsvollen Vorgången im seelischen Getriebe,
    und der durch diese Nachrichten gelenkte Wille fiihrt aus,
    was das Ich anordnet, åndert ab, was sich selbståndig voll-
    ziehen möchte. Denn diese Seele ist nichts Einfaches, viel-
    mehr eine Hierarchie von über- und untergeordneten Instanzen,
    ein Gewirre von Impulsen, die unabhängig voneinander zur
    Ausführung drängen, entsprechend der Vielheit von Trieben
    und von Beziehungen zur Außenwelt, viele davon einander
    gegensåtzlich und miteinander unvertráglich. Es ist für die
    Funktion erforderlich, daß die oberste Instanz von allem Kennt-
    nis erhalte, was sich vorbereitet, und daß ihr Wille überallhin
    dringen könne, um scinen Einfluß zu üben. Aber das Ich fühlt
    sich sicher sowohl der Vollständigkeit und. Verläßlichkeit der
    Nachrichten als auch der Wegsamkeit für seine Befehle.

  • S.

    560 "SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    In gewissen Krankheiten, allerdings gerade bei den von
    uns studierten Neurosen, ist es anders. Das Ich fihlt sich
    unbehaglich, es stößt auf Grenzen. seiner Macht in seinem
    eigenen Haus, der Seele, Es tauchen plötzlich. Gedanken auf,
    von denen man nicht weiß, woher sie kommen; man kann
    auch nichts dazu tun, sie zu vertreiben. Diese fremden Gäste
    scheinen selbst mächtiger zu sein als die dem Ich unterwor-
    fenen; sic widerstehen allen sonst so erprobten Machtmitteln
    des Willens, bleiben unbeirrt durch die logische Widerlegung,
    unangetastet durch die Gegenaussage der Realitåt. Oder es
    kommen Impulse, die wie die eines Fremden sind, so daß
    das Ich sie verleugnet, aber es muß sich doch vor ihnen firch-
    ten und Vorsichten gegen sie treffen. Das Ich sagt sich, das
    ist eine Krankheit, eine fremde Invasion, es verschårft seine
    Wachsamkeit, aber es Ea nicht verstehen, warum es sich
    in so seltsamer Weise geláhmt fühlt.

    Die Psychatrie bestreitet zwar fiir solche. Vorfälle, daß
    sich böse, fremde Geister ins Seelenleben eingedrångt haben,
    aber sonst sagt sie nur achselzuckend : Degeneration, hereditåre
    Disposition, konstitutionelle Minderwertigkeit! Die Psycho-
    analyse unternimmt es, diese unheimlichen Krankheitsfälle auf-
    zuklären, sie stellt sorgfältige und langwierige Untersuchungen
    an, schafft sich Hilfsbegriffe und wissenschaftliche Konstruk-
    tionen und kann dem Ich endlich sagen: „Es ist nichts Frem-
    des in dich gefahren; ein Teil von deinem eigenen Seelen-
    leben hat sich deiner Kenntnis und der Herrschaft deines
    Willens entzogen. Darum bist du auch so schwach in der Ab-
    wehr; du kåmpfst mit einem Teil deiner Kraft gegen den
    anderen Teil, kannst nicht wie gegen einen äußeren Feind

    deine ganze Kraft zusammennehmen. Und es ist nicht einmal
    der schlechteste oder unwichtigste Anteil deiner seelischen

  • S.

    XXX. EINE SCHWIERIGKEIT DER PSYCHOANALYSE, 561

    Kräfte, der so in Gegensatz zu dir getreten und unabhängig
    von dir geworden ist. Die Schuld, muß ich sagen, liegt an
    . dir selbst. Du hast deine Kraft überschätzt, wenn du ge-
    glaubt hast, du kónntest mit deinen Sexualtrieben anstellen,
    was du willst, und brauchtest auf ihre Absichten nicht die
    mindeste Rücksicht zu nehmen. Da haben sie sich denn em-
    port und sind ihre eigenen dunklen Wege gegangen, um sich
    der Unterdrückung zu entziehen, haben sich ihr Recht ge-
    schaffen auf eine Weise, die dir nicht mehr recht sein kann.
    Wie sie das zu stande gebracht haben, und welche Wege sie
    gewandelt sind, das hast du nicht erfahren; nur das Ergebnis
    dieser Arbeit, das Symptom, das du als Leiden empfindest,
    ist zu deiner Kenntnis gekommen. Du erkennst es dann nicht
    als. Abkommling deiner eigenen verstoBenen Triebe und weißt
    nicht, daß es deren Ersatzbefriedigung ist.“

    „Der ganze Vorgang wird aber nur durch den einen Um-
    stand móglich, daf du dich auch in einem anderen wichtigen
    Punkte im Irrtum befindest. Du vertraust darauf, daß du
    alles erfáhrst, was in deiner Seele vorgeht, wenn es nur wich-
    tig.genug ist, weil dein Bewußtsein es dir dann meldet. Und
    wenn du von etwas in deiner Seele keine Nachricht bekommen
    hast, nimmst du zuversichtlich an, es sei nicht in ihr (ent-
    halten. Ja, du gehst so weit, daß du ‚seelisch‘ für identisch
    hältst mit ‚bewußt‘, d. h. dir bekannt, trotz der augenschein-
    lichsten Beweise, daß in deinem Seelenleben beständig viel
    mehr vor sich gehen muß, als deinem Bewußtsein bekannt werden
    kann. Laß dich doch in diesem einen Pünkt belehren! Das
    Seelische in dir fällt nicht mit dem dir Bewulten zusammen;
    es ist etwas anderes, ob etwas in deiner Seele vorgeht, und
    ob du es auch erfährst. Für gewöhnlich, ich will es zugeben,

    reicht; der Nachrichtendienst an dein Bewußtsein für deine
    Freud, Neurosenlehre. IV. 36

  • S.

    562 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    Bedürfnisse aus. Du darfst dich in der Illusion wiegen, daß
    du alles Wichtigere crfåhrst. Aber in manchen Fällen, 7. В.
    in dem eines solchen Triebkonfliktes, versagt er und dein
    Wille reicht dann nicht weiter als dein Wissen. In allen
    Fallen aber sind diese Nachrichten deines Bewuftseins un-
    vollständig und häufig unzuverlåssig; auch trifft es sich oft
    genug, daß du von den Geschehnissen erst Kunde bekommst,
    wenn sie bereits vollzogen sind und du nichts mehr an ihnen
    ändern kannst. Wer kann, selbst wenn du nicht krank bist,
    ormessen, was sich alles in deiner Scele regt, wovon du nichts
    erfährst, oder worüber du falsch berichtet wirst. Du be-
    nimmst dich wie ein absoluter Herrscher, der es sich an den
    Informationen seiner obersten Hofämter genügen läßt und
    nicht zum Volk herabsteigt, um dessen Stimme zu hören,
    Geh in dich, in deine Tiefen und lerne dich erst kennen, dann
    wirst du verstchen, warum du krank werden mußt, und viel-
    leicht vermeiden, krank zu werden.*

    So wollte die Psychoanalyse das Ich belehren. Aber die
    beiden Aufklårungen, daß das Triebleben der Sexualität in

    uns nicht voll zu bándigen ist, und daf die seelischen Vor-

    gånge an sich unbewuft sind und nur durch eine unvoll-
    ständige und unzuverlissice Wahrnehmung dem Ich zugäng-
    lich und ihm unterworfen werden, kommen der .Behauptung
    gleich, daß das Ich nicht Herrseiinseinem eigenen
    Hanus. Sie stellen miteinander die dritte Krånkung der Eigen-
    liebe dar, die ich die psychologische nennen móchte. Kein
    Wunder daher, daB das Ich der Psychoanalyse nicht seine
    Gunst zuwendet und ihr hartnückig den Glauben verweigert.

    Die wenigsten Menschen dürften sich klar gemacht haben,
    einen wie folgenschweren Schritt die Annahme unbewuBter
    seelischer Vorgänge für Wissenschaft und Leben bedeuten

  • S.

    XXX. FINE SCHWIERIGKEIT DER PSYCHOANALYSE. 563

    würde, Beeilen wir uns aber hinzuzufügen, daß nicht die
    Psychoanalyse diesen Schritt zuerst gemacht hat. Es sind
    namhafte Philosophen als Vorgänger anzufiihren, vor allen
    der große Denker Schopenhauer, dessen unbewußter
    „Wille“ den seelischen Trieben der Psychoanalyse gleichzu-
    setzen ist. Derselbe Denker übrigens, der in Worten von un-
    vergeßlichem Nachdruck die Menschen an die immer noch

    unterschätzte Bedeutung ihres Sexualstrebens gemahnt hat.

    Die Psychoanalyse hat nur das eine voraus, daß sic die beiden
    dem Narzißmus so peinlichen Sätze von der psychischen Be-

    deutung der Sexualität und von der Unbewußtheit des Seelen-
    lebens nicht abstrakt behauptet, sondern an einem Material
    erweist, welches jeden einzelnen persönlich angeht und seine
    Stellungnahme zu diesen Problemen erzwingt. Aber gerade
    darum lenkt sie die Abneigung und die Widerstände auf sich,

    welche. den großen Namen des Philosophen noch scheu
    vermeiden,