Libidotheorie 1923-021/1923
  • S.

    DU-CD

    296

    […]

    Libidotheorie. Libido ist ein Terminus aus der 
    Trieblehre, zur Bezeichnung des dynamischen Ausdrucks 
    der Sexualität schon von A. Moll in diesem Sinne ge-
    braucht (Untersuchungen über die Libido sexualis 1898), 
    von Freud in die Psychoanalyse (s. d.) eingeführt. 
    Im folgenden soll nur dargestellt werden, welche Ent-
    wicklungen, die noch nicht abgeschlossen sind, die 
    Trieblehre in der Psychoanalyse erfahren hat.

    Gegensatz von Sexualtrieben und Ich-
    trieben.Die Psychoanalyse, die bald erkannte, daß 
    sie alles seelische Geschehen über dem Kräftespiel der 
    elementaren Triebe aufbauen müsse, sah sich in der 
    übelsten Lage, da es in der Psychologie eine Trieb-
    lehre nicht gab und ihr niemand sagen konnte, was 
    ein Trieb eigentlich ist. Es herrschte vollste Willkür, 
    jeder Psychologe pflegte solche und so viele Triebe an-
    zunehmen, als ihm beliebte. Das erste Erscheinungs-
    gebiet, welches die Psychoanalyse studierte, waren die 
    sog. Übertragungsneurosen (Hysterie und Zwangs-
    neurose). Die Symptome derselben entstanden dadurch, 
    daß sexuelle Triebregungen von der Persönlichkeit 
    (dem Ich) abgewiesen (verdrängt) worden waren und 
    sich auf Umwegen durch das Unbewußte einen Aus-
    druck verschafft hatten. Somit konnte man zurecht-
    kommen, wenn man den Sexualtrieben Ichtriebe 
    (Selbsterhaltungstriebe) entgegenstellte, und 
    befand sich dann in Übereinstimmung mit der populär 
    gewordenen Aussage des Dichters, der das Welt-
    getriebe „durch Hunger und durch Liebe“ erhalten wer-
    den läßt. Die Libido war in gleichem Sinne die Kraft-
    äußerung der Liebe, wie der Hunger des Selbsterhal-
    tungstriebes. Die Natur der Ichtriebe blieb dabei zu-
    nächst unbestimmt und der Analyse unzugänglich wie 
    alle anderen Charaktere des Ichs. Ob und welche 
    qualitativen Unterschiede  zwischen beiden Triebarten 
    anzunehmen sind, war nicht anzugeben.

    DIE URLIBIDO. Diese Dunkelheit versuchte C. G. 
    Jung auf spekulativem Wege zu überwinden, indem 
    er nur eine einzige Urlibido annahm, die sexualisiert 
    und desexualisiert werden konnte, und also im Wesen 
    mit der seelischen Energie überhaupt zusammenfiel. 
    Diese Neuerung war methodisch anfechtbar, sie stiftete 
    viel Verwirrung, setzte den Terminus Libido zu einem 

  • S.

    297

    überflüssigen Synonym herab und mußte in der Praxis 
    doch immer zwischen sexueller und asexueller Libido 
    unterscheiden. Der Unterschied zwischen den Sexual-
    trieben und den Trieben mit anderen Zielen war eben 
    auf dem Wege einer neuen Definition nicht aufzuheben.

    Die Sublimierung.Das bedächtige Studium 
    der allein analytisch zugänglichen Sexualstrebungen 
    hatte unterdes bemerkenswerte Einzeleinsichten er-
    geben. Was man den Sexualtrieb nannte, war hoch 
    zusammengesetzt und konnte wieder in seine Partial-
    triebe zerfallen. Jeder Partialtrieb war unabänderlich 
    charakterisiert durch seine Quelle, nämlich die 
    Körperregion oder Zone, aus welcher er seine Er-
    regung bezog. Außerdem war an ihm ein Objekt 
    und ein Ziel zu unterscheiden. Das Ziel war immer 
    die Befriedigungsabfuhr, es konnte aber eine Wandlung 
    von der Aktivität zur Passivität erfahren. Das Objekt 
    hing dem Trieb minder fest an als man zunächst ge-
    meint hatte, es wurde leicht gegen ein anderes ein-
    getauscht‚ auch konnte der Trieb, der ein äußeres 
    Objekt gehabt hatte, gegen die eigene Person gewendet 
    werden. Die einzelnen Triebe konnten unabhängig von-
    einander bleiben oder – in noch unvorstellbarer Weise 
    – sich kombinieren, zur gemeinsamen Arbeit ver-
    schmelzen. Sie konnten auch füreinander eintreten, 
    einander ihre Libidobesetzung übertragen, so daß die
    Befriedigung des einen an Stelle der Befriedigung der 
    anderen trat. Am bedeutsamsten erschien das Trieb-
    schicksal der Sublimierung, bei dem Objekt und 
    Ziel gewechselt werden, so daß der ursprünglich 
    sexuelle Trieb nun in einer nicht mehr sexuellen, sozial 
    oder ethisch höher gewerteten Leistung Befriedigung 
    findet. Alles dies sind Züge, welche sich noch zu keinem 
    Gesamtbild zusammensetzen.

    Der Narzißmus.Ein entscheidender Fortschritt 
    erfolgte, als man sich an die Analyse der Dementia 
    praecox und anderer psychotischer Affektionen heran-
    wagte und somit das Ich selbst zu studieren begann, 
    das man bisher nur als verdrängende und wider-
    stehende Instanz gekannt hatte. Man erkannte als den 
    pathogenen Vorgang bei der Demenz, daß die Libido 
    von den Objekten abgezogen und ins Ich eingeführt 
    wird, während die lärmenden Krankheitserscheinungen 
    von dem vergeblichen Bestreben der Libido herrühren, 
    den Rückweg zu den Objekten zu finden. Es war also 
    möglich, daß sich Objektlibido in Ichbesetzung um-
    wandelte, und umgekehrt. Weitere Erwägungen zeig-
    ten, daß dieser Vorgang im größten Ausmaß anzunehmen 
    sei, daß das Ich vielmehr als ein großes Libidoreservoir 
    angesehen werden mußte, aus dem Libido auf die 
    Objekte entsandt wird, und das immer bereit sei, die 
    von den Objekten rückströmende Libido aufzunehmen. 
    Die Selbsterhaltungstriebe waren also auch libidinöser 
    Natur, es waren Sexualtriebe die anstatt der äußeren 
    Objekte das eigene Ich zum Objekt genommen hatten. 
    Man kannte aus der klinischen Erfahrung Personen, die 
    sich in auffälliger Weise so benahmen, als wären sie 
    in sich selbst verliebt, und hatte diese Perversion 
    Narzißmus genannt. Nun hieß man die Libido der 
    Selbsterhaltungstriebe narzißtische Libido und 
    anerkannte ein hohes Maß von solcher Selbstliebe als 
    den primären und normalen Zustand. Die frühere 
    Formel für die Übertragungsneurosen bedurfte jetzt 
    zwar nicht einer Korrektur, aber doch einer Modifika-
    tion; anstatt von einem Konflikt zwischen Sexual-
    trieben und Ichtrieben sprach man besser vom Konflikt 
    zwischen Objektlibido und Ichlibido, oder, da die Natur 
    der Triebe dieselbe war, zwischen den Objektbesetzun-
    gen und dem Ich.

    Scheinbare Annäherung an die Jung-
    sche Auffassung.Auf solche Art gewann es den 
    Anschein, als ob auch die langsame psychoanalytische 
    Forschung der Jungschen Spekulation von der Ur-
    libido nachgekommen wäre, besonders da mit der 
    Umwandlung der Objektlibido in Narzißrnus eine ge-
    wisse Desexualisierung, ein Aufgeben der speziellen 
    Sexualziele, unvermeidlich verbunden ist. Indes drängt 
    sich die Erwägung auf, daß, wenn die Selbsterhaltungs-
    triebe des Ichs als libidinös anerkannt sind, damit noch 
    nicht bewiesen ist, daß im Ich keine anderen Triebe wirken.

    Der Herdentrieb. Von vielen Seiten wird be-
    hauptet, daß es einen besonderen angeborenen und 
    nicht weiter auflösbaren „Herdentrieb“ gibt, der das 
    soziale Verhalten der Menschen bestimmt, die Einzelnen 
    zur Vereinigung in größeren Gemeinschaften drängt. 
    Die Psychoanalyse muß dieser Aufstellung wider-
    sprechen. Wenn der soziale Trieb auch angeboren sein 
    mag, so ist er doch ohne Schwierigkeit auf ursprüng-
    lich libidinöse Objektbesetzungen zurückzuführen und 
    entwickelt sich beim kindlichen Individuum als Reak-
    tionsbildung auf feindselige Rivalitätseinstellungen. Er 
    beruht auf einer besonderen Art von Identifizierung 
    mit dem anderen.

    Zielgehemmte Sexualstrebungen. Die 
    sozialen Triebe gehören zu einer Klasse von Trieb-
    regungen, die man noch nicht sublimierte zu nennen 
    braucht, wenngleich sie diesen nahestehen. Sie haben 
    ihre direkt sexuellen Ziele nicht aufgegeben, werden 
    aber von der Erreichung derselben durch innere Wider-
    stände abgehalten, begnügen sich mit gewissen An-
    näherungen an die Befriedigung und stellen gerade 
    darum besonders feste und dauerhafte Bindungen unter 
    den Menschen her. Von dieser Art sind insbesondere 
    die ursprünglich vollsexuellen Zärtlichkeitsbeziehungen 
    zwischen Eltern und Kindern, die Gefühle der Freund-
    schaft und die aus sexueller Zuneigung hervorgegange-
    nen Gefühlsbindungen in der Ehe.

    Anerkennung zweier Triebarten im 
    Seelenleben. Während die psychoanalytische Ar-
    beit sonst bestrebt ist, ihre Lehren möglichst unabhängig 
    von denen anderer Wissenschaften zu entwickeln, sieht 
    sie sich doch genötigt, für die Trieblehre Anlehnung bei 
    der Biologie zu suchen. Auf Grund weitläufiger Er-
    wägungen über die Vorgänge, die das Leben aus-
    machen und die zum Tode führen, wird es wahrschein-
    lich, daß man zwei Triebarten anzuerkennen hat, ent-
    sprechend den entgegengesetzten Prozessen von 
    Aufbau und Abbau im Organismus. Die einen Triebe, 
    die im Grunde geräuschlos arbeiten, verfolgten das Ziel, 
    das lebende Wesen zum Tode zu führen, verdienten 
    darum den Namen der „Todestriebe“ und würden, 
    durch das Zusammenwirken der vielen zelligen Elemen-
    tarorganismen nach außen gewendet, als Destruk-tions‑oder Aggressionstendenzen zum Vor-
    schein kommen. Die anderen wären die uns analytisch 
    besser bekannten libidinösen Sexual‑ oder Lebenstriebe, 
    am besten als Eros zusammengefaßt, deren Absicht 
    es wäre, aus der lebenden Substanz immer größere 
    Einheiten zu gestalten, somit die Fortdauer des Lebens 
    zu erhalten und es zu höheren Entwicklungen zu 
    führen. In den Lebewesen wären die erotischen und 
    die Todestriebe regelmäßige Vermischungen, Legie-
    rungen, eingegangen; es wären aber auch Entmischun-
    gen derselben möglich; das Leben bestünde in den 
    Äußerungen des Konflikts oder der Interferenz beider 
    Triebarten und brächte dem Individuum den Sieg der 
    Destruktionstriebe durch den Tod, aber auch den Sieg 
    des Eros durch die Fortpflanzung.

  • S.

    298

    Die Natur der Triebe. Auf dem Boden dieser 
    Auffassung läßt sich für die Triebe die Charakteristik 
    geben, sie seien der lebenden Substanz innewohnende 
    Tendenzen zur Wiederherstellung eines früheren Zu-
    standes, also historisch bedingt, konservativer Natur, 
    und gleichsam der Ausdruck einer Trägheit oder 
    Elastizität des Organischen. Beide Triebarten‚ der Eros 
    wie der Todestrieb, würden von der ersten Entstehung 
    des Lebens an wirken und gegeneinander arbeiten.

    S. auch die Artikel: „Erotischer Trieb“; „Psycho-
    analyse“.

    Literatur s. ebenfalls dort und bei „Geschlechts-
    trieb“.
    S. Freud.

  • S.

    HANDWÖRTERBUCH DER 
    SEXUALWISSENSCHAFT

    Enzyklopädie der natur‑ und kulturwissens-
    schaftlichen Sexualkunde des Menschen
    herausgegeben von

    MAX MARCUSE

    A. MARCUSE & WEBERS VERLAG
    (Dr. jur. Albert Ahn)
    BONN 1923