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[Briefkopf Wien] 26. 6. 19
Lieber Herr Doktor
Wie schwer es doch sein muß, sich aus der Ferne in fremde Verhältnisse einzuleben! Sie fragen, ob wir genügende Nachrichten von Budapest haben.1 Wir sind seit etwa sechs Wochen von unseren Freunden dort abgeschnitten, bekamen gelegentlich Briefe durch einen Kurier, konnten das Notdürftigste auf demselben Wege antworten, und außerdem sprach Rank allabendlich mit der Zeitung, deren Vertreter er ist,2 und konnte mit der entsprechenden Vorsicht etwas erfahren oder vermitteln. Seit zehn Tagen aber ist auch dieser dünne Faden abgerissen, so daß wir allen Befürchtungen ausgesetzt und auf Hoffnungen angewiesen sind. Ebenso hängen wir mit dem größeren Anteil unseres Fonds in der Luft und wissen nicht, ob wir ihn verloren oder die dort ihn gerettet haben.3 Was die Zeitungen heute berichten, haben Sie gelesen, und was sich weiterhin ereignen wird, werden wira auch erfahren.
Ihre traurige Familiennachricht hat meine lebhafte Teilnahme hervorgerufen, obwohl ich Ihren Bruder nicht gekannt. Eltern sind sehr vulnerabel, auf die eine oder andere Art weiß das Schicksal sie zu treffen. Ich hoffe, Sie gönnen sich auch eine Abwesenheit vonb Berlin. In der Tatra werden wir uns allerdings nicht wiedersehen können.
Am 15. Juli beabsichtige ich in Bad Gastein einzutreffen, nachdem ich meine jetzt ziemlich erholte Frau in Salzburg für das Sanatorium Parsch ausgeschifft. Meine Schwägerin soll gleichfalls die Gasteiner Kur nehmen. Von Mitte August bis Mitte September hat Ernst für uns am Badersee bei Garmisch4 Zimmer gemietet. Ob wir diese Absichten auch durchführen können, hängt natürlich von allerlei unserem Einfluß entzogenen Umständen ab.
Ich grüße Sie und Ihre liebe Frau herzlich. Halten wir den Kontakt im Sommer aufrecht, vielleicht führt uns ein Weg zusammen, zur großen Befriedigung Ihres
Freud
a Nachträglich eingefügt.
b Verbessert aus: in.
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