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[Briefkopf Wien] 12. X. 19.
Lieber Herr Doktor
Der letzte Eindruck, den Sie von mir hatten, war wohl, daß es dem Schicksal gefallen hat, mich für weitere Arbeit und Fährlichkeiten aufzusparen. Das Letzte, was ich von Ihnen sah, war[en] Ihre Frau und Ihr Elternpaar, die uns mitten in der Nacht auf dem Bahnhof1 auflauern, um uns einen Korb voll Liebesgaben mitzugeben. Seitdem ich zurück bin, hat mich der Wirbel gepackt, und es ist nüchterne Wahrheit, daß ich an diesem Sonntag nachmittag zuerst in der Lage bin, etwas zu tun, wozu ich nicht von anderen gedrängt werde. Jones war hier, Ferenczi und Freund sind es noch, letzterer leider ein langsam sterbender Mann in voller Klarheit und Selbstbeherrschung. Die Orientierung nach Westen ist vollzogen,2 Ferenczi hat die Präsidentschaft an Jones abgegeben,3 letzterer hat unser Fondsgeld in die Schweiz und nach England mitgenommen;4 es ist beschlossen worden, eine englische Zeitschrift für Psychoanalyse und eine Monograph Series erscheinen zu lassen, die in Wien gedruckt und in England-Amerika verkauft werden.5 Im hiesigen englischen Bureau des so erweiterten Verlags wird Anna eine Tätigkeit finden, wenn, wie leicht möglich, ihre Schule versagt.6 Jones heiratet nur unterdes in Zürich eine junge Wienerin, Frl. Kitty Jokl, Schwester von Sachs’ Freundin.7 Er will am 29. Okt. in London eintreffen.
Die Verlobung meines Sohnes Martin8 findet unter den gegenwärtigen Umständen kaum das Interesse, das sie verdient. Sie scheint für ihn sehr vorteilhaft zu sein, der Schwiegervater, ein einflußreicher Advokat, hat ihm bereits eine aussichtsreiche Stellung verschafft, auch Wohnung soll er bald bekommen, so daß er noch vor Jahresende aus dem Vaterhaus ausscheiden kann. Das Mädchen hat ihn sehr gerne, und er hat sich gewiß auch nicht durch andere Rücksichten bewegen lassen. Oli hat noch nichts und wartet auf Antworten. Ich bin voll besetzt, noch nicht sehr interessiert daran, werde wohl nicht so bald zu einer wissenschaftlichen Arbeit kommen. Heute habe ich eine Lehrerin engagiert, um mein Englisch herausputzen zu lassen.9 Die Verhältnisse sind hier trostlos, bleiben es wohl, und ich glaube, daß England gerade dann die Einreise von ehemaligena Feinden gestatten wird, wenn ich hier mein Letztes aufgezehrt habe, etwa in 1½ Jahren. Meine zwei Brüder10 liegen bereits in englischem Boden, vielleicht finde ich dort auch noch Platz.
Ich grüße Sie herzlich, Sie und Ihre liebe Frau sind daran gewöhnt, sich mit wort- und symptomlosem Dank zu begnügen.
Ihr Freud
a Gestrichen: Freund.
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S.
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