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[Briefkopf Wien] 2. Dez. 19a
Lieber Herr Doktor
Mit Ihrer Güte und Zärtlichkeit haben Sie mir heute einen stürmischen Tag bereitet. Ich erhielt vormittags Ihren Brief, der ein Depot vonb 3000 schwedischen Kronen zu meiner Verfügung ankündigt, von dem die Hälfte, in österreichische Kronen verwandelt, durch den Bankverein überwiesen werden soll, hatte, mit vier Analysen beschäftigt, keine Muße, darüber nachzudenken, und las den Brief am Mittagstisch vor, an dem außer meiner Frau drei Söhne und die Ihnen bekannte kleine Tochter teilnahmen. Der Effekt war merkwürdig: die drei Jungen schienen befriedigt, die beiden Frauen aber gerieten in hellen Aufruhr, und die Kleine erklärte – offenbar vertrug sie die Zerstörung ihres Vaterkomplexes nicht –, zur Strafe (!) werde sie Weihnachten nicht nach Berlin reisen.1
Tatsächlich werde ich Sie morgen früh telegraphisch bitten, die Überweisung nach Wien wo möglich rückgängig zu machen. Denn wozu soll sie dienen? An den wertlosen Kronennoten fehlt es uns ja nicht. Ich besitze über 100.000 davon und erwerbe täglich so 900-1000 neue. Wenn ich aber fremde Valuten brauchte, die hier so schwer zu haben sind, würde ich mich ohnedies an Sie gewendet haben, wie es schon mit den Mark geschehen ist. Es ist mir gewiß ein Stück Sicherheit zu wissen, daß Sie ein Depot in schwedischen Kronen haben, das dazu bestimmt ist, mir auszuhelfen, wenn ich mit einem solchen Bedürfnis zu Ihnen komme. Aber wenn es erst in österreichische Kronen umgesetzt ist, weiß ich nichts damit anzufangen, und die Rückverwandlung dürfte uns nicht leicht gelingen. Von diesem Standpunkt aus ist mein Telegramm abgefaßt worden.
Sie sind wirklich das leichtsinnigste meiner Familienmitglieder. 2000 Mk haben Sie mir bereits geborgt, 1000 meiner Schwägerin, die ihre Schulden auch nur in Kronen bezahlen kann, die Finanzierung von Ernst haben Sie übernommen, bis er seinen Gehalt in englischen Pfund beziehen kann,c2 Sie schicken Lebens- und Arbeitsmittel (Zigarren) in Quantitäten, die wir nicht gerne umrechnen wollen, und sind noch immer damit nicht zufrieden! Ihr letztes kostbares Geschenk ist übrigens verunglückt, Mathilde wollte gar nicht, daß ich Ihnen davon schreibe. Ihr Koffer ist einen Tag nach ihr angekommen und war dann von allem Eßbaren und Rauchbaren entleert, alles andere intakt geblieben, eine Auswahl, die auf eine wohlbeherrschte Eisenbahnerbande schließen läßt. Zwei schöne Würste, für die ich Liebermann und Horney3 verbunden bleibe, befanden sich im Handgepäck.
Unsere Hochzeit beschäftigt uns jetzt lebhaft, die Ihrige Sie wohl nicht minder, obwohl sie ferner liegt. Ernst packt seine Bücher, um sich endgiltig vom Haus loszureißen, das er bei jeder Anwesenheit so sehr belebt. Oli ist deprimiert, weil eine Reise nach Graz zum Vertrauensmann der holländischen Regierung ihn belehrt hat, daß die Entscheidung über seine Bewerbung nicht vor zwei Monaten zu erwarten ist und daß seine Chancen nicht deutlich erkennbar sind.4 Er wird wahrscheinlich unterdes nach Berlin und Hamburg gehen.
Bei Freund steht es schlecht, er fiebert, wird unter Morphin gehalten, hat sich selbst den 12. Dez. als Termin gesetzt. Der Zustand ist nicht klar, wahrscheinlich breiten sich die Sarkommetastasen aus.
Ich studiere sehr langsam Trieb- und Massenpsychologie.5 Rank fehlt mir sehr. Die psychoanalytische Gesellschaft hat Dr. Schilder,6 Assistenten der psych[iatrischen] Klinik, aufgenommen, Hattingberg7 und Schmideberg sind zur Aufnahme gemeldet.
Das Inslebentreten Ihrer Poliklinik wird Berlin wieder zum Zentrum machen. Abraham kämpft für die Abhaltung des nächsten Kongresses bei Ihnen.8
Ich grüße Sie und Ihre liebe Frau in alter Herzlichkeit bei neuen Motiven
Ihr Freud
a Eingeschriebener Eilbrief.
b MS: vom.
c Gestrichen: und d.
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