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S.
[Briefkopf Wien] 17. Dez. 19
Lieber Herr Doktor
Ich kann berechnen, wenn Sie diesen Brief erhalten, haben Sie „die Schwester dem Gatten gefreit“,1 sind nach der überstandenen Festfreude in Ihr Haus zurückgekehrt und warten auf neue Gäste. Einer davon, meine Tochter, wird ausbleiben, nicht aus dem jäh aufwallenden Groll, dessen Motivierung ich Ihnen zuletzt halb scherzend mitgeteilt habe, sondern weil vom 20.-29. Dez. sämtliche Bahnen Deutschösterreichs ihren Personenverkehr einstellen. Ihre Schule endet aber erst am 20., und schon heute war, nach guten Berichten, der Bewerb um einen Platz in einem dieser letzten Züge mit Lebensgefahr verbunden. Das ist wirklich force majeure, gegen die selbst Frau Mir[r]as allmächtiger Wunsch nichts ausrichtet.
Im Ernst gesprochen, es tut mir um diese Verhinderung sehr leid. Ich weiß, daß Anna sich sehr auf diese Reise gefreut hat. Die Schule hatte sie in letzter Zeit zu sehr angestrengt, sie mußte zura Periode auf ärztlichen Rat mehrere Tage ruhig liegen, ihrer Stimmung war eine solche Auffrischung wohl zu gönnen, und der besagte Groll ruhte doch auf zärtlichen Voraussetzungen. Nach dem 30. lohnt die Reise doch nicht mehr. Am 7. Jan. setzt die Arbeit wieder ein.
Heute hat mich der W[iener] Bankverein von der Überweisung der 50.000b K aus Stockholm benachrichtigt. Sie haben sichc also nicht abhalten lassen, in der Tat weiß ich ja, wie zähe Sie in der Ausführung Ihrer Absichten sind. Ich bin Ihnen natürlich gar nicht böse; wenn ich Sie auch gerade darum nicht lieber habe als früher, so hebt doch die Summe als Rückendeckung meine Stimmung und verstärkt die erwünschte Indifferenz gegen die Möglichkeiten der Aktualität. Wenn es Ihnen recht ist, lasse ich den Betrag zunächst ruhig liegen. Hoffentlich erleben wir nicht sein Herabsinken bis zum Wert Nulld und damit die Rechtfertigung meiner Opposition gegen seine Entstehung aus guten schwedischen Kronen.
Rank soll heute London verlassen. Infolge der Zugseinstellung dürfte er vor dem 31. d. M. nicht nach Hause kommen können, was recht unangenehm ist. Freund hat etwas bessere Tage. Wenn man sich nur entschließen könnte, Hoffnung zu fassen.
Ich möchte gerne wieder arbeiten, aber meine Gedanken wollen nicht. Ich mag nichts forcieren. Lassen wir die Mitwelt nachrücken. – Das ‚Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens‘2 macht hier schon berechtigtes Aufsehen. Ich erwarte, daß Sie es mit Genuß lesen werden. Es ist in jedem Wort authentisch.
Nach Ranks Ankunft schreibe ich Ihnen sofort.
Mit herzlichsten Weihnachtswünschen für Sie und Ihre liebe Frau
Ihr Freud
a Korrigiert für: nach der.
b Freud schreibt hier und in einigen analogen Fällen: 50 m[ille].
c Korrigiert aus: [?].
d MS: ø.
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S.
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