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S.
[Briefkopf Wien] 1. 4. 20.a
Lieber Herr Doktor
Keiner von uns mag etwas von einem Monat erwarten, der mit Ihrer Absage beginnt.1 Schade, jeder von uns hatte eine persönliche Abrechnung mit Ihnen und seinen besonderen Wunschzettel für Sie, Ihr Ring hatte auf Sie gewartet, meine Frau wollte in Ihrer Gesellschaft nach Berlin reisen, es wäre die schönste Gelegenheit gewesen, in intime Fühlung mit allen Mitgliedern des Komitees zu kommen. Jones und Sachs sind schon hier, Ferenczi wird morgen abends erwartet, Ihr Telegramm läßt uns noch die Hoffnung, daß Abraham kommen wird. Nochmals[:] Schade, wir wissen, daß es nicht Ihre Schuld ist. Wichtige Angelegenheiten und nicht erfreuliche Aussichten beschäftigen uns intensiv.
Ihre Andeutung über Ernsts glückliche Wahl verstehen wir nicht, wir sind ganz und gar unvorbereitet und getrauen uns nicht, ans Nächstliegende zu denken. Annerl sagt, es muß sich auf eine Heirat mit Frl. L. B. beziehen.2 Wir sind des Glücks recht entwöhnt.
Natürlich hatte ich auch die Beantwortung Ihres letzten Briefes auf Ihre persönliche Anwesenheit verschoben. Sie lautet also, daß ich gegenwärtig voll besetzt bin, d. h. eher zu viel Arbeit habe. Im Laufe der nächsten Monate könnte ich freie Stunden bekommen, deren Ausfüllung mir auch keine Sorge bereiten würde. Frau Dr. Nacht würde ich dann sehr ungern nehmen. Sie soll in Berlin und bei Ihnen bleiben.
Die Grippe habe ich nicht gehabt, aber eine hartnäckige Naseneiterung, seit der ich jetzt an Kopfzuständen leide, die man kongestiv3 benennt. Die Arbeitsfähigkeit nimmt dabei nicht zu. Ich bin wahrscheinlich innerlich recht gealtert, wozu ich auch kalendarisch das Recht habe. So gegen Lebensende suchen mich Ehrungen auf, die mich kalt lassen und mir Zeit zu rauben drohen. Das Vertrauen der Ärzteschaft in Amerika hat mich in das Fünferkomitee zur Leitung eines Kindergenesungsheims berufen, welches mit einem Anfangsbeitrag von 3 Mill[ionen] Kronen hier gegründet werden soll.4 Morgenb gehe ich zur ersten Sitzung mit dem Bürgermeister, dem medizinischen Dekan, dem Unterstaatssekretär des Gesundheitsamts (Tandler)5c und dem Pädiater Pirquet6. Ich werde mich rechtzeitig herausziehen, konnte auf die Kabelforderung nicht gut ablehnen.
Mit herzlichsten Grüßen und ebensolchem Bedauern Ihr
Freud
a Eilbrief.
b Gestrichen: f [oder: h].
c Nachträglich vor die Zeile gesetzt.
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S.
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