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S.
[Briefkopf Wien] 4. 2. 21.
Lieber Max
Meran tut Ihnen offenbar gut, Sie werden, was ich Ihnen nie zugetraut hätte, sogar schreibselig. Dies Wohlbefinden danken Sie der Dummheit und Engherzigkeit einiger Beamten, wie zweckmäßig ist doch die Zweiseitigkeit der Dinge!
Auch mir tut die Muße sehr gut; heute ist schon der zweite Nachmittag, an dem ich völlig frei bin. Meine Arbeit hat noch nicht viel davon gehabt, aber vielleicht schon meine Schrift. Ich fühle mich ausgeruhter als sonst nach sechs Wochen Ferien. Indes dürfte es doch nicht immer so bleiben.
Ihre Nachricht, daß der Fond noch in Dollars erliegt, war sehr willkommen; sie steift uns das Rückgrat in den heute beginnenden Verhandlungen mit Kola. Wenn wir wirklich mehrere Millionen zur Verfügung haben (der Dollar steht heute 712), so entfällt ein starkes Motiv, das uns zum Verzicht auf unsere Unabhängigkeit getrieben hätte. Ein anderes wird dadurch abgeschwächt, daß der Verlag wenigstens für Monate eine Unterkunft im Lokal eines mit Rank befreundeten Berliner Verlegers (Herz) gefunden hat.1 Ich hätte darum nichts dagegen, wenn ich noch genauere Auskunft über die Höhe des Fonds bekommen könnte. Eine Bemerkung in Ihrem Brief, daß er sich infolge des Marksturzes (?) vorübergehend erniedrigt hatte, ist mir ohnedies unverständlich geblieben. Ich gehe jetzt darauf aus, Gehalte und Autorenhonorare bis zu einem menschenwürdigen Niveau zu heben, von dem wir noch weit entfernta sind.
Für den ‚Okkultismus‘ schönsten Dank. Mir graut auch vor dem sauern Apfel, aber es wird sich nicht vermeiden lassen, hineinzubeißen. Von der Vorgeschichte des Ödipuskomplexes erwarten Sie sich zuviel, das Neue an der Paranoia ist viel schöner.
Reik hat natürlich auch Analysen; die nicht ärztliche Analyse läßt sich nicht mehr unterdrücken, und ich denke energisch für sie Partei zu nehmen.2 Ranks Entlastung macht Schwierigkeiten; ich weiß nicht, ob es mit Bernfeld möglich sein wird.
Abrahams Buch3 ist eben gekommen. Es hat mir leid getan, daß die Affaire L[iebermann], in die ich keine Einsicht habe, Sie zu entzweien drohte. Bei aller Rücksicht für den Einzelnen sollte doch das Interesse der Vereinigung, das unter L.s Mißwirtschaft gelitten hat, den Vorrang haben.
Auch bei mir reifen zwei Enkelchen.4 Gewiß geht die Welt weiter, aber es braucht viel Mut dazu. Ich hätte jetzt keine Lust zur Wiedergeburt.
Ich wünsche Ihnen und Mirra noch einige wunderschöne Tage in Meran, ehe Sie sich auf die Reise begeben.
Herzlichste Grüße
Ihr Freud
a Gestrichen: ist.
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S.
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Österreich
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