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S.
[Briefkopf Wien] 10. 4. 21.
Lieber Max
Schön, daß Sie noch immer schreiben, nachdem die Berliner Tretmühle Sie wieder hat. („Strickt der Strumpf, oder wird er gestrickt?“1)
Ich danke Ihnen sehr für Ihr Telegramm zum kleinen Martinsohn. Am Sonntag und Montag, als er wenige Stunden alt war, habe ich ihn gesehen und recht respektabel gefunden. In der Woche habe ich für ihn keine Zeit gehabt, will ihn heute wieder besuchen. Wahrscheinlich macht er sich noch eine zu schöne Vorstellung von dieser Welt, in seinem sonnigen Zimmer im Rudolfinum,2 blühende Bäume vor den Fenstern. An Nahrung fehlt es ihm auch nicht. Courage scheint er mitgebracht zu haben, sonst hätte er sich nicht in diese Zeit getraut.
Es wird mir sonderbar sein, nicht mehr nach der Güntzelstr. 2 zu schreiben. Ich hoffe, Ernst kann Ihnen wirklich viel bei der Einrichtung leisten. Wenn nur die drei Monate3 sich nicht als zu wenig für die Herstellung seiner Leistungsfähigkeit erweisen!a
Ihren Besuch im Mai nehme ich also jetzt als gesichert an. Wir werden vieles zu besprechen haben. Die Feierlichkeit dabei werden Sie mir zuliebe auf ein Mindestmaß beschränken. Daß Mirra nicht mitkommt, tut uns allen leid, ist uns aber mit Rücksicht auf die Kürze Ihres Aufenthalts recht verständlich.
Vielleicht können wir einen gemeinsamen zweiten Sommeraufenthalt (15. Aug. - 15. Sept.) kombinieren. Ich denke an Brioni.4
Da Sie nun in der Familienfiliale nichts zu tun haben, komme ich mit einem neuen Vorschlag. Seit vielen Monaten ist der junge Russe, Dr. Sergej Pankejeff aus Odessa,5 der Held meiner Wolfsgeschichte im 4. Band der ‚Sammlung‘, in Wien, von Hause abgeschnitten, wahrscheinlich ausgeplündert, hier mittellos, lebt vom Verkauf seiner mitgebrachten Kostbarkeiten. Seit vielen Monaten bemühe ich mich vergebens, ihm eine bescheidene kommerzielle Anstellung zu verschaffen, für die er sich einigermaßen ausgebildet hat. Er ist intelligent und anständig, spricht natürlich deutsch, französisch und russisch. Es gelingt mir nicht, und ich habe die Angst, daß er eines Tages – er ist doch ein Russe, also im Grunde ein Wilder – im Elend anfängt zu trinken oder zu spielen. Da hat mir Anna die Idee eingegeben, mich an Sie zu wenden, ob Sie ihn nicht bei der Leipziger Firma oder sonstwie in Rußland selbst verwenden können, ehe das schöne Resultat viereinhalbjähriger analytischer Bemühung an der Ungunst der Zeiten zugrunde geht. Hiemit frage ich bei Ihnen an.
Mit herzlichsten Grüßen für Sie beide
Ihr Freud
a MS: .!
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S.
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