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S.
[Briefkopf Wien] 11. XI. 21.
Lieber Max
Endlich eine bessere Nachricht von Ihnen! Ich stehe offenbar unter dem Eindruck, daß ich Ihre Fürsorge für mich und die Meinigen nicht besser vergelten kann, als indem ich Ihre Sorgen zu den meinigen mache, und da habe ich reichlich Anlaß dazu bekommen. Das Mißvergnügen darüber wurde durch die Empfindung verstärkt, daß ich in die Versuchung gerate, mich in intime Verhältnisse einzumengen, an denen teilzunehmen ich nicht aufgefordert worden bin. Wie immer, ich freue mich, daß Sie einige Wochen schlafen und arbeiten können, was gewiß beides eine Erholung für Sie bedeutet. Ich verstehe, daß Sie Mirra und ihre Familie in Augsburg oder Dresden1 gelassen haben und jetzt in Berlin allein sind.
Die Geldanweisungen sind nach Ranks Aussage in Ordnung. Leider hat der Verlag noch immer kein Lokal und befindet sich daher in einer kritischen Lage. Die englische Abteilung werde ich bald in unserem bisherigen Salon unterbringen, den zu räumen ich meine brave Hausfrau mit Rücksicht auf die Gefahren der Wohnungsanforderung bewogen habe. Seit zwei Tagen ist dieser Raum als Gastzimmer für Frau Lou Andreas2 in Verwendung. Sie ist leider in schlechtem Zustand, alt und dünn geworden, hat ihre Haare verloren und ist, glaube ich, durch die Lage ihrer Familie in Rußland und ihre eigene in Göttingen sehr bedrückt. Meine Frau und Schwägerin sind sehr zärtlich mit ihr, und es ist immerhin genug von ihr vorhanden, um Anna zu beschäftigen, für die ich sie ja hauptsächlich eingeladen habe. Anna hat einen begreiflichen Durst nach Frauenfreundschaft, nachdem ihr die englische Loe,3 die ungarische Kata4 und – Ihre Mirra durch die verschiedensten Einflüsse entrückt worden sind. Sie ist übrigens zu meiner Freude blühend und heiter; nur wünschte ich, daß sie bald Grund fände, das Attachement an den alten Vater gegen ein dauerhafteres einzutauschen.
Pankejeff war heute bei mir. Ich habe ihm 50.000 K ausgefolgt, von denen ich ja 30.000 noch an Sie zurückzustellen hatte. Er macht in aller Bescheidenheit geltend, daß Sie geschrieben haben, er solle denselben Betrag wie im Sommer bekommen, was mit 50.000 K nur dem Namen nach erfüllt wäre. Denn im Mai waren 50.000 K = £ 20, in welcher Form er den Betrag auch erhalten hat, während sie heute etwas über £ 2 sind. (2500 gegen 23.800!) Ich habe ihm also zugesagt, über den Sinn Ihres Auftrags nochmals bei Ihnen anzufragen, und bitte um Ihren Bescheid.
Ich arbeite stetig, komme sonst zu nichts und kann an den im ganzen minderwertigen Amerikaner[n]5 Fragen der Technik studieren.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr Freud
P. S. Die französische Übersetzung der ‚Vorlesungen‘ soll bei Payot bereits erschienen sein.6 Wir haben sie noch nicht.
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S.
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