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    [Briefkopf Wien] 24. 1. 1922

    Lieber Max

    Abraham ist heute abends bei Rank,1 so will ich Ihre freundliche Erwähnung des 15jährigen Jubiläums unserer Beziehungen nicht ohne rasche Antwort lassen.

    Sie wissen, welche Rolle Sie sich in meiner und der Meinigen Existenz erobert haben. Ich weiß, daß ich mich nicht beeilt habe, sie Ihnen zuzugestehen. Durch viele Jahre merkte ich Ihr Bestreben, mir näher zu kommen, und hielt Sie ferne. Erst als Sie das herzliche Wort gefunden hatten, Sie wollten zu meiner Familie – im engeren Sinn – gehören, überließ ich mich dem leichten Vertrauen früherer Lebensjahre, nahm Sie an und habe mir seither von Ihnen jede Art von Hilfe erweisen lassen, Ihnen jede Art von Leistung auferlegt.

    Ich gestehe heute, daß ich Ihre Opfer anfangs nicht so hoch eingeschätzt habe wie später, nachdem ich erkannt hatte, daß Sie mit einer liebenden und geliebten Frau belastet, die nicht gernea auf etwas von Ihnen verzichtet, und an eine Familie gebunden, die im Grunde wenig Sympathie für Ihre Bestrebungen hat, daß Sie sich mit jenem Angebot eigentlich über Ihre Kraft überbürdet haben. Schließen Sie aus dieser Bemerkung nicht, daß ich bereit bin, Sie freizugeben. Mir sind Ihre Opfer darum nur um so wertvoller geworden, wenn sie Ihnen zu viele geworden sind, müssen Sie es selbst sagen.

    Demnach schlage ich Ihnen vor, unser bisheriges von der Freundschaft zur Sohnschaft gestrecktes Verhältnis noch über jenen Zeitraum, der bis zu meinem Lebensende verlaufen mag, aufrecht zu erhalten. Waren Sie der erste, der zu dem Vereinsamten gekommen ist, so mögen Sie es bis zum letzten bei ihm aushalten. Es wird dann wohl immer so bleiben müssen wie bisher, daß ich etwas brauche und Sie sich mühen, es zu beschaffen. Es ist Ihr selbstgewähltes Schicksal, um das ich Sie auch in Berlin bedauert habe. Aber ich kenne von der ambulanten Analyse her Ihre Liebesbedingungen, von denen Sie frei zu machen nicht gelungen ist.

    Meine Situation hat sich seit 15 Jahren gründlich geändert. Ich sehe mich materieller Sorgen enthoben, von einer Popularität, die mir widerlich ist, umrauscht, in Unternehmungen verwickelt, die mir Zeit und Muße für ruhige wissenschaftliche Arbeit nehmen. Was ich jetzt brauche, ist Unterstützung für die Pflege der psychoanalytischen Bewegung und zunächst für den Verlag. Das nächste, was Sie dafür tun können, ist die Abfassung eines beredten und ausführlichen Jahresberichts der Poliklinik2 – der von Ihnen ins Leben gerufenen Poliklinik [–], damit ich mit diesem Schriftstück anderswo um Unterstützung für das Institut werben und zur Gründung ähnlicher Institute auffordern kann. Die Aussichten hiefür scheinen in Amerika nicht ungünstig zu sein.

    Und nun lassen Sie sich über die Distanz Wien - Passau - Berlin3 herzlich die Hand drücken von Ihrem treuen

    Freud

    P. S. Sagen Sie Mirra nur, wie sehr wir uns alle mit der Nachricht ihrer großen Besserung freuen.

     

    a Wohl korrigiert aus: ungerne.