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S.
[Briefkopf Wien] 6. 4. 22
Lieber Max
Wenn ich nicht schon Ihren vorigen Brief mit jenem Enthusiasmus aufgenommen habe, der sich dem letzten nicht mehr versagen kann, so sehen Sie, bitte, den Grund dafür in einer Tatsache, gegen die Sie sich sonst hartnäckig zu verschließen pflegen, in der unzweifelhaften Verdüsterung des Alters, das nicht mehr recht zu genießen weiß und sich von den Bedenken und Gefahren einer realen Situation unwiderstehlich angezogen findet. Doch wird mir wieder leicht, wenn ich solche Worte wie die Ihrigen lese, und ich danke Ihnena herzlich für die Erfrischung.
Daß auch Mirra nach Wien kommen will, ist eine freudige Überraschung. Schon das Versprechen ist wertvoll, ich spreche sie ausdrücklich von der Verpflichtung es einzuhalten frei, wenn das Wetter oder ihr Befinden eine Schwierigkeit macht. Sie soll vor allem wohl sein.
In dem Punkte, an dem Ihre Kritik unserer analytischen Arbeit ansetzt, bin ich ausnahmsweise befriedigter als Sie. Ich wüßte nicht über das Ausbleiben des Erfolgs zu klagen, wahrscheinlich, weil ich nur lange und konsequent fortgesetzte Behandlungen in Betracht ziehe. Vielleicht trägt man auch Mißerfolge leicht, wenn man gute Einsicht in die Bedingungen hat, deren notwendige Erfolge sie sind. Im ganzen ist natürlich keine Therapie sehr erfreulich, auch unsere nicht. In jeder Therapie steckt doch etwas, was sich dem Determinismus widersetzen will.
Ich soll Sie also in vier Wochen wiedersehen. Lassen Sie uns rechtzeitig für geeignete Unterkunft sorgen. Bis dahin ist vielleicht auch Anna zurück,1 die mir sehr abgeht. Heute ist Ernst 30 Jahre alt.
Mit herzlichstem Gruß
Ihr Freud
a Nachträglich eingefügt.
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S.
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