• S.

    [Briefkopf Wien] 12. Juni 22

    Lieber Max

    Sie werden gleichzeitig oder sehr bald einen Brief von meinem Wolfsmann Pankejeff bekommen, in dem er Sie bittet, sich einer ihm gehörigen Standuhr in Berlin anzunehmen, die in guten Zeiten 1000 Mk gekostet hatte. Ob Sie ihm nicht den Verkauf derselben vermitteln und ihm dafür das Geld schicken können. Seine Frau ist jetzt infolge chronischer schlechter Ernährung lungenverdächtig, er möchte sie zur Erholung aufs Land schicken und verdient natürlich als Versicherungsagent sehr wenig. Die Aussichten, nach Odessa zurückzukommen, sind sehr schlecht, gegenwärtig zittert eben die letzte Chance, von einem Bekannten, der nach Odessa gefahren ist, etwas vom etwaigen Besitz mitgebracht zu bekommen.

    Der Junge hält sich in diesen schweren Zeiten brav, wie die Frau, die sonst sehr kritisch ist, bestätigt. Man sollte etwas für die Frau tun. Ich habe ihr heute 50.000 K gegeben, was mir bei der gegenwärtigen Entwertung der K[rone] leicht ist, werde es auch dabei nicht bewenden lassen. Da ich jetzt überhaupt Relativitätsmillionär geworden bin, habe ich den Ertrag der Sprechstunde für Unterstützungen bestimmt, bisher für Annas Schützlinge1.

    Wollen Sie nicht meinem Ernst, der in diesen Dingen so praktisch ist, den Auftrag geben, sich die Uhr, über deren whereabouts P[ankejeff]s Brief an Sie Auskunft gibt, anzusehen und ihren Verkauf möglichst gut zu besorgen? Natürlich gehen die Preise bei uns jetzt rapid in die Höhe. Der scheinbare Reichtum wird wenig nützen. Man erwartet sich hier arge Dinge, das Pfunda hat 90.000, der Dollara 20.000 erreicht. Ihre 5000 $-Stiftung wäre heute glatt 100 Millionen wert.

    Sonst will ich Ihnen nur mitteilen, daß der Juni langsamer vergeht als frühere Monate. Am 30. abends hoffe ich abzureisen. Anna scheint sich vom heurigen Heuschnupfen zu erholen. Hinter der Korrespondenz der Rundbriefe verlaufen unangenehme Auseinandersetzungen mit Jones über die Leitung des ‚Journals‘ und die Organisation meiner Übersetzungen. Er hat in Wahrheit gar keine Gabe zu organisieren und entfremdet sich alle Hilfskräfte durch kleine Nörgeleien, Ungerechtigkeiten und Launen. Mrs. Riviere,2 die Übersetzerin der ‚Vorlesungen‘, ist jetzt in Sekundäranalyse bei mir, ein sehr gescheites, überscharfes Frauenzimmer, und ich muß ihr mit Bedauern in den meisten Details recht geben.

    Ich hoffe, die Aufhellung, die in Ihr neues Haus eingezogen ist, wird nicht mehr daraus weichen, und grüße Sie und Mirra herzlich

    Ihr Freud

     

    a MS: Pfund- und Dollarzeichen.