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    [Briefkopf Wien] So. 6. Nov.1 1922a

    Lieber Max

    Schön zu wissen, daß Sie jetzt mit Mirra die wohlverdiente Ruhe in der zauberischen Stadt genießen, die auch mir einmal soviel bedeutet hat, mit der ich heute leider zerfallen bin. Mit Begeisterung lasse ich mich auch von Ihnen nach Sizilien versetzen. Es ist allerdings lang her, daß ich dort war (1912?),2 und vieles mag sich geändert haben. Auch kenne ich das östliche Stück, Messina bis Syrakus, nicht, die Cholera in unserem Rücken hatte uns damals vertrieben.

    Ich würde jedenfalls Palermo zum Hauptquartier nehmen, von wo aus sich auch manche andere Expeditionen als Ausflüge von 1-3 Tagen machen lassen. Palermo ist unvergleichlich schön. Wir haben damals gut im H[otel] de France, Piazza Marina gewohnt, aber eine Villa Igieab außerhalb der Stadt ist schöner gelegen und galt als weit vornehmer. Alles in und um Palermo ist sehenswert, ich kenne den Ort allerdings nicht im Winter. Als zweiten Aufenthalt würde ich Syrakus wählen, wo man in Eindrücken und Erinnerungen schwelgen, sogar Papyrus pflücken kann. Wenn man aber zurückkommt, ohne Selinunt und Girgenti, die beiden Tempelstätten, besucht zu haben, darf man sich bemitleiden lassen. Hier ist soviel Griechenland wie in Athen. – Etwas hemmt mich im Weiterschreiben, und ich glaube, es ist ganz gemeiner Neid.

    Ihre Fragen beantworte ich gerne, doch gehe ich nicht auf alles ein, was hier vorgeht, um Ihren Frieden nicht zu stören.3 Die Rundbriefe dringen doch auch zu Ihnen.

    Der Kongreß hat mir vor allem die besten Erwartungen für das Aufblühen von Berlin zurückgelassen. Das Kongreßbild finde ich recht schlecht, nur Ferenczi und Sie sind erträglich geraten. Das Gefühl, der Schuldige durch ‚Jenseits des Lustprinzips‘ zu sein, hat mich während mancher Vorträge arg verfolgt.

    Mein Befinden hat sich seit der Erschütterung im Sommer sehr gefestigt, ich arbeite wie sonst neun Stunden, sehne mich aber doch, eine loszuwerden, was bis jetzt nicht gelungen ist. Wenn der erste abgeht, wird er nicht ersetzt. Frau L[owtzky] wird sich also gedulden müssen. Im Haus alles wohl und rüstig, in der Familie viel Schwierigkeiten und ungelöste Probleme. Heinerle ist reizend, hat im ersten Monat zwei Kilo zugenommen und beide Pflegeeltern intensiv verliebt in sich gemacht. Ich sehe ihn leider nur ein- bis zweimal in der Woche.

    Was Sie über die Stellung der Analyse in Paris schreiben, ist sicherlich richtig, auch Ihr Urteil über die Sokol[nicka]. Vielleicht ändert es sich langsam, wenn Payot4 weitere Bücher herausbringt. Delgado ist noch nicht in Wien,5 auch sonst eher eine verkehr- und ereignisarme Zeit.

    Mit herzlichen Grüßen an Sie beide und schönsten Wünschen für Ihren ferneren Aufenthalt

    Ihr Freud

     

    a Erstmals Briefumschlag mit gedruckter Absenderangabe: Prof. Dr. Freud, Wien IX., Berggasse 19. Benutzt bis Februar 1937.

    b Korrigiert für: H. des Palmes.