• S.

    [Briefkopf Wien] 10. VI. 1926.a

    Lieber Max!

    Ich werde Ihrer Empörung über Ranks neues Buch frischen Nährstoff zuführen. Der Wolfsmann, den ich zur Auskunft aufgefordert, hat mir folgendes geantwortet:1

    „Ad Punkt 1 und 2: Ich glaube ganz sicher zu sein, daß ich den Wolfstraum genau so träumte, wie ich Ihnen dies seinerzeit erzählt habe. Es besteht für mich kein Anlaß, die Richtigkeit dieser Erinnerung zu bezweifeln. Im Gegenteil, die Kürze und Klarheit dieses Traumes schienen mir stets das Charakteristische an ihm zu sein. Auch hat meines Wissens die Erinnerung an diesen Kindertraum niemals eine Veränderung erfahren. Ich hatte nach demselben Angst vor ähnlichen Träumen und pflegte als Gegenmaßnahme vor dem Einschlafen diejenigen Dinge, die ich fürchtete, somit auch diesen Traum mir vor Augen zu halten. Der Wolfstraum schien mir immer im Mittelpunkt meiner Kinderträume zu stehen. Schon deshalb, weil der Wolf meine Kinderphantasie beherrschte. Allerdings, als ich dann später einen wirklichen Wolf in der Menagerie sah, war ich sehr enttäuscht und erkannte in ihm den Wolf meiner Kindheit nicht. Die auf dem Baum sitzenden Wölfe waren auch eigentlich keine Wölfe, sondern weiße Spitzhunde mit spitzen Ohren und buschigen Schwänzen.

    Zu Punkt 3: Den Wolftraum habe ich Ihnen im Anfang der Kur, und zwar soviel ich mich erinnere, nach ein oder zwei Monaten nach Antritt derselben erzählt. Die Lösung kam dann, wie Sie ganz richtig schreiben, erst am Ende der Kur.“

    Ferenczi hat die Absicht, die Kritik des Rankschen Buches zu übernehmen. Ich werde ihm das Material zur Beurteilung der Stelle über den Wolfstraum zur Verfügung stellen.2 Er soll nur öffentlich dartun, daß Rank in seinem Leichtsinn und hemmungslosen Scharfsinn wirklich einen Traum vom vierten Geburtstag eines Patienten aus der analytischen Situation 20 Jahre später gedeutet hat. Das wird eine wohlverdiente Lektion bedeuten. Von der anderen Seite füge ich hinzu, daß nach der Angabe des Russen – wie nach eigener Erinnerung – der Traum im ersten Jahre der Kur, also 1911, erzählt wurde. Um diese Zeit trug die Bilderwand mit den Photographien des Komitees, das damals noch nicht existierte, anstatt fünf, sechs und sieben höchstens zwei bis drei Photographien.3 Ich glaube, ich brauche Ihnen über diesen Punkt nichts mehr zu sagen.

    Ihr Besuch Ende Juni wird uns natürlich ebenso angenehm sein wie zu jeder anderen Zeit. Ich werde bei Storfer anfragen lassen, ob er zu dem Termin bereit ist, und auch für die Vollmacht sorgen.4

    Mit herzlichem Gruß

    Ihr Freud

     

    a Masch.