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S.
[Briefkopf Wien] 17. XII. 1927a1
Lieber Max
Sehr erfreut, daß die Insel alle Ihre Erwartungen befriedigt und daß Mirra sich dort rasch erholt. Wir haben heute eine wahre Bärenkälte, Schnee und schneidenden Wind.
Zwei Motive, Ihnen zu schreiben, abgesehen von der allgemeinen freudigen Bereitwilligkeit. Erstens die Nachricht, daß die dritte $ 1000-Rate von Sweetser bei mir eingelaufen ist, so daß ich mit S. 7032 für den Verlag zu Ihrer Verfügung bin.
Zweitens die Bitte, sich an den Hergang Ihres ersten Gesprächs mit [U.] zu erinnern, aus dem sich eine möglicherweise tadellose Bestätigung der Telepathie ergeben könnte. Er erzählt, daß ihm beim Anblick meiner Photographie der bekannte Marsch aus ‚Figaro‘2 durch den Kopf gegangen sei, der ihm nichts besonderes bedeutet, wohl aber mein Lieblingsstück ist. Wie soll man das erklären? Er legt sich bei aller Zugänglichkeit doch eine Reserve von mystischen Kostbarkeiten an; durch das Zugeständnis der Telepathie, das mir ja nicht schwer wird, könnte ich ihn nötigen, auch diesen Schatz auf den analytischen Markt zu werfen. Nun was will ich von Ihnen? [U.] erzählt, daß er Ihnen von dem melodischen Einfall Mitteilung gemacht, und ich weiß, daß Sie die Gewohnheit haben, Melodien zu summen, wahrscheinlich also auch zu assoziieren. Worauf es für den Beweis ankommt, will ich Ihnen nicht andeuten, um Sie nicht zu beeinflussen. Ich bitte Sie nur um die Fixierung aller Details, die Sie von jener Unterredung bewahrt haben. Wahrscheinlich wird sich auchb diesmal etwas finden, was den Beweis zerstört.
Der Kerl ist übrigens wirklich ein großartiger Mensch. Er hat unlängst in geradezu genialer Weise seine Überwindung der Kastrationsangst demonstriert, dabei die Theorie des Fetisch bestätigt, er arbeitet bereits eifrig in seinem Geschäft, wenn auch noch nicht produktiv, ist gegenwärtig auf eine Woche Urlaub in Berlin. Unsere Spekulationen müssen doch durchschnittlich wahr sein, sie bestätigen sich schön. –
Meine alte Mutter3 hat uns in dieser Woche durch wiederholte Schwächezustände in Atem gehalten. Heute geht es ihr gut; sie ließ mir sagen, sie meinte schon, es sei aus, aber sie wollte mir doch den Samstag abend nicht verderben. Sie ist überklar und spricht mehr als sonst von vergangenen Zeiten.
Ich hätte durch einige Wochen an die notwendigen Grenzen der Existenz (Friedrich II.: Rackers, wollt Ihr ewig leben?)4 vergessen können, in den letzten Tagen wurde ich durch allerlei Erfahrungen an dies unvermeidliche Thema gemahnt. Auch Minna braucht ihres Herzens wegen wieder eine strenge Therapie, will aber nicht ins Sanatorium.
Prinzeß Marie ist heute abgereist nach vortrefflichen Leistungen und Aufklärungen.
Schönste Weihnachten für Sie beide! Wie schade, daß der Südtraum so bald nachher zu Ende sein wird.
Herzlich Ihr
Freud
a Der zugehörige Briefumschlag adressiert nach Ajaccio; Nachsendeadresse: Hotel Regina, Cannes.
b MS: aus.
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S.
Berggasse 19
Wien 1090
Österreich
Hotel Regina
Cannes 06400
Frankreich
C23F5