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    [Briefkopf Wien] 14. XII. 1928

    Lieber Max

    Es ist wahr, daß ich lange nichts von Ihnen gehört und Ihnen nicht geschrieben habe.a Von meiner Seite erklärt sich diese Pause leicht aus der doch eigentlich müden und verdrossenen Stimmung, in der ich diesen „schäbigen Rest“ des Lebens verbringe, ohne mich viel darüber zu verwundern oder zu kränken, da ich es als normalen Ausdruck abnehmender Körperkraft erkenne. Ich weiß, es entspricht einem inneren Bedürfnis bei Ihnen, solchesb nicht zu glauben, aber – und das ist mein letzter Stolz – ich bin doch illusionsfreier als andere.

    Da Sie die Frage nach der Prothese voranstellen, antworte ich auch zuerst darauf. Sie ist offenbar gut, ich lebe jetzt mit ihr seit sechs Wochen, ohne jemand zu Rate gezogen zu haben, die argen Quälereien haben aufgehört, das Kauen geht besser. Aber anderseits hat meine trübe Ahnung doch recht behalten. Man vergißt ja so leicht, was vorüber ist, und kann nicht vergessen, was noch da ist. Die Katarrhe und Schwellungen machen soviel unangenehme Empfindungen und stören die Sicherheit der Sprache so sehr, daß ich von der ärgerlichen Notwendigkeit, an die Prothese zu denken, nicht freikomme. Es ist dasselbe psychologische Elend, recht verdünnt zwar und weit erträglicher. Wahrscheinlich könnte keine Prothese Besseres leisten. Man soll eben sein Organ nicht überleben.

    16/XII Das Buch von Alexander-Staub habe ich jetzt auch gelesen. Der lange geplante Einbruch der Analyse in die Kriminalistik scheint hiemit gelungen. Die psychologischen Ausführungen und Formulierungen sind fast ohne Ausnahme zutreffend. Das Werk verdiente es, eine große Aufmerksamkeit zu erwecken. Ich habe den Autoren einige Bedenken mitgeteilt. Der geringschätzig triumphierende Ton gegen die Rechtspflege scheint mir taktisch unzweckmäßig und überdies unberechtigt. Die Analyse, die nicht alles erklären kann, nicht alles beeinflussen kann, was sie erklärt, und von der kein direkter Weg zu praktischen Maßnahmen führt, hat Grund, bescheidener aufzutreten. –c

    Wir wissen noch nicht, wo wir den Sommer zubringen werden. Nicht mehr auf dem Semmering. Wo immer es sein wird, ich meine, ich werde gern 1-2 Arbeitsstunden annehmen, da ich sonst nichts mit meiner Muße anzufangen weiß.

    Gegen den jungen Schalit habe ich nichts, aber unter das Honorar von $ 25 = M 100 will ich nicht heruntergehen.

    Ruth hat mir die Kopie eines Briefes von Jones1 mitgeteilt, der ihn wieder von seiner üblen Seite zeigt, als Nörgler und Intrigantend, als ob die erweichende Wirkung des Unglücks2 bereits überwunden wäre. Ferenczi ist längst zurück, nicht recht gesund, wie er schreibt und wie auch Robert, mein Schwiegersohn, bei einem kurzen Besuch in Budapest bemerkt hat.3 Der gute Ophuijsen soll eine ganz hoffnungslose Aktion in Stockholm beabsichtigen oder schon begonnen haben.4

    Ich freue mich zu hören, daß Sie von Ihrer neuen Wohnung Vergnügen haben, und grüße Sie beide herzlich

    Ihr Freud

     

    a MS: Komma statt Punkt.

    b Gestrichen: z.

    c MS: Zeile endet am Seitenrand; Gedankenstrich vor der nächsten Zeile.

    d Korrigiert aus: Intriguanten.