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S.
[Briefkopf Wien] Grundlsee
18. 9. 1930.
Lieber Max
Das Haus verödet allmählich. Anna ist heute mit Dorothy zwischen Sulden und Trafoi,1 Ernstl geht in die Schule,2 Jofi3 ist vom Tierarzt nach Kagran4 abgeholt worden, sie war leidend und machte uns Sorge. Schwester Adolfine5 erholt sich bei uns von den Erlebnissen der letzten Woche. Die Natur hat die 95 Jahre der Mutter nicht als Milderungsgrund gelten lassen; die Schmerzen von der Gangrän des Beines machten das Morph[ium] der letzten Tage unentbehrlich.
In rascher Folge habe ich nun der Mitwelt drei Anlässe gegeben, mich mit Zuschriften zu überschütten, alle redlich ausgenützt. Der erste und dritte sind Ihnen aus eigener Beteiligung bekannt, der mittlere stammte aus den Zeitungsnachrichten über meine Krankheit, in denen ich eine Reaktion auf den Goethepreis erkenne. Ich habe bei dieser Gelegenheit mit Beruhigung erfahren, wieviel sichere Kuren des Karzinoms es doch gibt. Nach dem Tod der Mutter haben die entlegensten Leute von sich hören lassen. Es scheint, daß die Menschen doch noch lieber kondolieren als gratulieren.
Mirras letzte Gardenien sind erst heute von meinem Tisch geschwunden.
Wenn es nicht kälter und trüber wird, möchten wir hier bis zum Ende des Monats aushalten.
Herzlich Ihr
Freud
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S.
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