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    [Briefkopf Wien] 29. 8. 1932

    Lieber Max

    Dank für Ihre besseren Nachrichten vom Hause! Brill und Radó waren gestern bei mir, zurück von Budapest. Sie berichteten übereinstimmend traurige Dinge. Ferenczi soll elend aussehen, kreidebleich, tief deprimiert sein. Radó, dessen Verstand scharf ist wie ein Rasiermesser, meint, er befinde sich in vorgeschrittener sklerotischer Degeneration. Ich möchte viel von dem Eindruck auf den Konflikt schieben, der ihn erschüttert, die Loslösung fällt ihm offenbar sehr schwer. Er war nicht überströmend mitteilsam, aber einiges hat er den beiden doch verraten. Es gibt keine Sexualkonstitution, speziell keine sadistisch-anale Phase, auch keinen Ödipuskomplex, der Knabe will den Vater nicht umbringen. All das und gewiß noch manches andere haben wir den Patienten vorgeredet, sie reden es nach und spielen uns eine Komödie vor. (Natürlich habe zuerst ich es „uns“ vorgeredet.) Brill sagte, er behandelte [ihn] wie einen Kranken, und das sollten wir alle tun, ihn zunächst gegen sich selbst schützen. Er sagt immer dazwischen, die Wahrheit kann man nicht verbergen, sie muß heraus. Sie haben bei ihm erreicht, daß er mich auf dem Weg zum Kongreß, am 2. Sept. nachmittags (Freitag) besucht. Er erwartet sich nichts davon, ich auch nicht.

    Sein Vortrag soll bereits einiges von diesen Neuigkeiten enthalten. Wir haben uns geeinigt, daß ich bei ihm durchsetze, sich noch etwa ein Jahr lang zurückzuhaltena, diese Zeit der Überprüfung zu widmen,1 ehe er den Schritt in die Öffentlichkeit macht, der für unsere Sache verhängnisvoll werden kann. Ob ich’s bei ihm erreiche? Den Vortrag darf er nicht halten, entweder einen anderen oder keinen.2 Seiner Wahl scheint er nicht mehr abgeneigt zu sein. Ob er für Sie alle nach diesen Aufklärungen wählbar bleibt, ist eine andere Frage. Unser Benehmen wird in erster Linie davon abhängen, ob er den Aufschub zugesteht, sodann von dem Eindruck, den er Ihnen allen in Wiesbaden macht. Jones ist auch kein ungetrübtes Vergnügen für die Zukunft.

    Wir waren alle wie auf den Kopf geschlagen. Gestern war ich auch beinahe bereit, an nichts mehr zu glauben. Heute bin ich sehr ruhig, ich meine, ich verstehe, wie er dazu kommt. Er wiederholt mir eine eigene Erfahrung. Seine Quelle ist, was ihm die Patienten sagen, wenn er sie glücklich in einen, wie er selbst sagt, hypnoseähnlichen Zustand versetzt. Das hält er dann für die Offenbarung, aber was man so erhält, sind die Phantasien der Patienten über ihre Kindheit, nicht die Geschichte. Mein erster großer ätiologischer Irrtum3 ist ja auch so entstanden. Die Patienten suggerieren ihn, das kehrt er dann um. Eine Regression zu seiner früheren Neurose als Folge des Alterns behaupte ich bei ihm seit Jahren. Inwieweit Radó richtig sieht, kann ich ja nicht sagen. Ich schreibe Ihnen wieder am Freitag nach seinem Besuch.

    Herzlich Ihr Freud

     

    a „-zu-“ nachträglich eingefügt.