Über Psychotherapie 1905-001/1905.2
  • S.

    ÜBER

    PSYCHOTHERAPIE.

    VORTRAG

    GEHALTEN IN DER

    WISSENSCHAFTLICHEN VERSAMMLUNG DES WIENER

    MEDIZINISCHEN DOKTORENKOLLEGIUMS AM 12. DEZEMBER 1904

    VON

    PROF. SIGM. FREUD

    IN WIEN.

     

    URBAN & SCHWARZENBERG

    BERLIN                                                         WIEN

    N.  FRIEDRICHSTRASSE 105b       I. MAXIMILIANSTRASSE 4

    1905

  • S.

    Wiener 

    Medizinische Presse.

    Organ für praktische Ärzte.

    Redigiert von

    Doz. Dr. Anton Bum

    Separat-Abrduck aus Nr. 1, 1905

    ÜBER

    PSYCHOTHERAPIE.

    VORTRAG

    GEHALTEN IN DER

    WISSENSCHAFTLICHEN VERSAMMLUNG DES WIENER

    MEDIZINISCHEN DOKTORENKOLLEGIUMS AM 12. DEZEMBER 1904

    VON

    PROF. SIGM. FREUD

    IN WIEN.

     

    URBAN & SCHWARZENBERG

    BERLIN                                                         WIEN

    N.  FRIEDRICHSTRASSE 105b       I. MAXIMILIANSTRASSE 4

    1905

  • S.

    [3]

    M. H.! Es sind ungefähr 8 Jahre her, seitdem ich über
    Aufforderung Ihres betrauerten Vorsitzenden Prof. v. REDER
    in Ihrem Kreise über das Thema der Hysterie sprechen durfte.
    Ich hatte kurz zuvor (1895) in Gemeinschaft mit Dr. JOSEF
    BREUER die „Studien über Hysterie“ veröffentlicht und den
    Versuch unternommen, auf Grund der neuen Erkenntnis,
    welche wir diesem Forscher verdanken, eine neuartige Be-
    handlungsweise der Neurose einzuführen. Erfreulicherweise,
    darf ich sagen, haben die Bemühungen unserer „Studien“
    Erfolg gehabt; die in ihnen vertretenen Ideen von der Wir-
    kungsweise psychischer Traumen durch Zurückhaltung von
    Affekt und die Auffassung der hysterischen Symptome als
    Erfolge einer aus dem Seelischen ins Körperliche versetzten
    Erregung, Ideen, für welche wir die Termini „Abreagieren“ 
    und „Konversion“ geschaffen hatten, sind heute allgemein
    bekannt und verstanden. Es gibt — wenigstens in deutschen
    Landen — keine Darstellung der Hysterie, die ihnen nicht
    bis zu einem gewissen Grade Rechnung tragen würde, und
    keinen Fachgenossen, der nicht zum mindesten ein Stück weit
    mit dieser Lehre ginge. Und doch mögen diese Sätze und
    diese Termini, solange sie noch frisch waren, befremdend
    genug geklungen haben!

    Ich kann nicht dasselbe von dem therapeutischen Ver-
    fahren sagen, das gleichzeitig mit unserer Lehre den Fach-
    genossen vorgeschlagen wurde. Dasselbe kämpft noch heute um
    seine Anerkennung. Man mag spezielle Gründe dafür anrufen.
    Die Technik des Verfahrens war damals noch unausgebildet;
    ich vermochte es nicht, dem ärztlichen Leser des Buches jene
    Anweisungen zu geben, welche ihn befähigt hätten, eine
    derartige Behandlung vollständig durchzuführen. Aber gewiß
    wirken auch Gründe allgemeiner Natur mit. Vielen Ärzten
    erscheint noch heute die Psychotherapie als ein Produkt des
    modernen Mystizismus und im Vergleiche mit unseren physi-
    kalisch-chemischen Heilmitteln, deren Anwendung auf physio-
    logische Einsichten gegründet ist, als geradezu unwissen-

  • S.

    4

    schaftlich, des Interesses eines Naturforschers unwürdig. Ge-
    statten Sie mir nun, vor Ihnen die Sache der Psychotherapie
    zu führen und hervorzuheben, was an dieser Verurteilung
    als Unrecht oder Irrtum bezeichnet werden kann

    Lassen Sie sich also fürs Erste daran mahnen, daß die
    Psychotherapie kein modernes Heilverfahren ist. Im Gegen-
    teile, sie ist die älteste Therapie, deren sich die Medizin
    bedient hat. In dem lehrreichen Werke von LÖWENFELD
    (Lehrbuch der gesamten Psychotherapie) können Sie nach-
    lesen, welches die Methoden der primitiven und der antiken
    Medizin waren. Sie werden dieselben zum größten Teile der
    Psychotherapie zuordnen müssen; man versetzte die Kranken
    zum Zwecke der Heilung in den Zustand der „gläubigen Er-
    wartung“, der uns heute noch das nämliche leistet. Auch
    nachdem die Ärzte andere Heilmittel aufgefunden haben,
    sind psychotherapeutische Bestrebungen der einen oder der
    anderen Art in der Medizin niemals untergegangen.

    Fürs Zweite mache ich Sie darauf aufmerksam, daß wir
    Ärzte auf die Psychotherapie schon darum nicht verzichten
    können, weil eine andere beim Heilungsvorgang sehr in Be-
    tracht kommende Partei — nämlich die Kranken — nicht die
    Absicht hat, auf sie zu verzichten. Sie wissen, welche Auf-
    klärungen wir hierüber der Schule von Nancy (LIEBAULT,
    BERNHEIM) verdanken. Ein von der psychischen Disposition
    der Kranken abhängiger Faktor tritt, ohne daß wir es beab-
    sichtigen, zur Wirkung eines jeden vom Arzte eingeleiteten
    Heilverfahrens hinzu, meist im begünstigenden, oft auch im
    hemmenden Sinne. Wir haben für diese Tatsache das Wort
    „Suggestion“ anzuwenden gelernt, und MOEBIUS hat uns be-
    lehrt, daß die Unverläßlichkeit, die wir an so manchen unserer
    Heilmethoden beklagen, gerade auf die störende Einwirkung
    dieses übermächtigen Momentes zurückzuführen ist. Wir Ärzte,
    Sie alle, treiben also beständig Psychotherapie, auch wo Sie
    es nicht wissen und nicht beabsichtigen; nur hat es einen
    Nachteil, daß Sie den psychischen Faktor in Ihrer Einwirkung
    auf den Kranken so ganz dem Kranken überlassen. Er wird
    auf diese Weise unkontrollierbar, undosierbar, der Steigerung
    unfähig. Ist es dann nicht ein berechtigtes Streben des Arztes,
    sich dieses Faktors zu bemächtigen, sich seiner mit Absicht
    zu bedienen, ihn zu lenken und zu verstärken? Nichts anderes
    als dies ist es, was die wissenschaftliche Psychotherapie Ihnen
    zumutet.

    Zu dritt, meine Herren Kollegen, will ich Sie auf die
    altbekannte Erfahrung verweisen, daß gewisse Leiden und
    ganz besonders die Psychoneurosen, seelischen Einflüssen weit
    zugänglicher sind als jeder anderen Medikation. Es ist keine
    moderne Rede, sondern ein Ausspruch alter Ärzte, daß diese
    Krankheiten nicht das Medikament heilt, sondern der Arzt,

  • S.

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    d. h. wohl die Persönlichkeit des Arztes, insofern er psychi-
    schen Einfluß durch sie ausübt. Ich weiß wohl, meine Herren
    Kollegen, daß bei Ihnen jene Anschauung sehr beliebt ist,
    welcher der Ästhetiker VISCHER in seiner Faustparodie (Faust,
    der Tragödie III. Teil) klassischen Ausdruck geliehen hat:

    „Ich weiß, das Physikalische
    Wirkt öfters aufs Moralische.“

    Aber sollte es nicht adäquater sein und häufiger zu-
    treffen, daß man aufs Moralische eines Menschen mit morali-
    schen, d. h. psychischen Mitteln einwirken kann ?

    Es gibt viele Arten und Wege der Psychotherapie.
    Alle sind gut, die zum Ziele der Heilung führen. Unsere
    gewöhnliche Tröstung: Es wird schon wieder gut werden,
    mit der wir den Kranken gegenüber so freigebig sind, ent-
    spricht einer der psychotherapeutischen Methoden; nur sind
    wir bei tieferer Einsicht in das Wesen der Neurosen nicht
    genötigt gewesen, uns auf die Tröstung einzuschränken. Wir
    haben die Technik der hypnotischen Suggestion, der Psycho-
    therapie durch Ablenkung, durch Übung, durch Hervorrufung
    zweckdienlicher Affekte entwickelt. Ich verachte keine der-
    selben und würde sie alle unter geeigneten Bedingungen
    ausüben. Wenn ich in Wirklichkeit mich auf ein einziges
    Heilverfahren beschränkt habe, auf die von BREUER  „kathar-
    tisch
    “ genannte Methode, die ich lieber die „analytische
    heiße, so sind bloß subjektive Motive für mich maßgebend
    gewesen. Infolge meines Anteils an der Aufstellung dieser
    Therapie fühle ich die persönliche Verpflichtung, mich ihrer
    Erforschung und dem Ausbau ihrer Technik zu widmen. Ich
    darf behaupten, die analytische Methode der Psychotherapie
    ist diejenige, welche am eindringlichsten wirkt, am weitesten
    trägt, durch welche man die ausgiebigste Veränderung des
    Kranken erzielt. Wenn ich für einen Moment den thera-
    peutischen Standpunkt verlasse, kann ich für sie geltend
    machen, daß sie die interessanteste ist, uns allein etwas über
    die Entstehung und den Zusammenhang der Krankheits-
    erscheinungen lehrt. Infolge der Einsichten in den Mecha-
    nismus des seelischen Krankseins, die sie uns eröffnet, könnte
    sie allein imstande sein, über sich selbst hinaus zu führen
    und uns den Weg zu noch anderen Arten therapeutischer
    Beeinflussung zu weisen.

    In bezug auf diese kathartische oder analytische Me-
    thode der Psychotherapie gestatten Sie mir nun, einige
    Irrtümer zu verbessern und einige Aufklärungen zu geben.

    a) Ich merke, daß diese Methode sehr häufig mit der
    hypnotischen Suggestivbehandlung verwechselt wird, merke
    es daran, daß verhältnismäßig häufig auch Kollegen, deren
    Vertrauensmann ich sonst nicht bin, Kranke zu mir schicken,
    refraktäre Kranke natürlich, mit dem Auftrage, ich solle sie

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    hypnotisieren. Nun habe ich seit etwa 8 Jahre keine Hypnose
    mehr zu Zwecken der Therapie ausgeübt (vereinzelte Versuche
    ausgenommen) und pflege solche Sendungen mit dem Rate,
    wer auf die Hypnose baut, möge sie selbst machen, zu retour-
    nieren. In Wahrheit besteht zwischen der suggestiven Technik
    und der analytischen der größtmögliche Gegensatz, jener
    Gegensatz, den der große LEONARDO DA VINCI für die Künste
    in die Formeln per via di porre und per via di levare
    gefaßt hat. Die Malerei, sagt LEONARDO, arbeitet per via di
    porre; sie setzt nämlich Farbenhäufchen hin, wo sie früher
    nicht waren, auf die nicht farbige Leinwand; die Skulptur
    dagegen geht per via di levare vor, sie nimmt nämlich vom
    Stein soviel weg, als die Oberfläche der in ihm enthaltenen
    Statue noch bedeckt. Ganz ähnlich, meine Herren, sucht die
    Suggestivtechnik per via di porre zu wirken, sie kümmert
    sich nicht um Herkunft, Kraft und Bedeutung der Krank-
    heitssymptome, sondern legt etwas auf, die Suggestion nämlich,
    wovon sie erwartet, daß es stark genug sein wird, die
    pathogene Idee an der Äußerung zu hindern. Die analytische
    Therapie dagegen will nicht auflegen, nichts Neues einführen,
    sondern wegnehmen, herausschaffen, und zu diesem Zwecke
    bekümmert sie sich um die Genese der krankhaften Symptome
    und den psychischen Zusammenhang der pathogenen Idee,
    deren Wegschaffung ihr Ziel ist. Auf diesem Wege der
    Forschung hat sie unserem Verständnis so bedeutende Förde-
    rung gebracht. Ich habe die Suggestionstechnik und mit ihr
    die Hypnose so frühzeitig aufgegeben, weil ich daran ver-
    zweifelte, die Suggestion so stark und so haltbar zu machen,
    wie es für die dauernde Heilung notwendig wäre. In allen
    schweren Fällen sah ich die darauf gelegte Suggestion wieder 
    abbröckeln, und dann war das Kranksein oder ein dasselbe
    Ersetzendes wieder da. Außerdem mache ich dieser Technik
    den Vorwurf, daß sie uns die Einsicht in das psychische
    Kräftespiel verhüllt, z. B. uns den Widerstand nicht er-
    kennen läßt, mit dem die Kranken an ihrer Krankheit fest-
    halten, mit dem sie sich also auch gegen die Genesung
    sträuben, und der doch allein das Verständnis ihres Be-
    nehmens im Leben ermöglicht.

    b) Es scheint mir der Irrtum unter den Kollegen weit
    verbreitet zu sein, daß die Technik der Forschung nach den
    Krankheitsanlässen und die Beseitigung der Erscheinungen
    durch diese Erforschung leicht und selbstverständlich sei.
    Ich schließe dies daraus, daß noch keiner von den vielen,
    die sich für meine Therapie interessieren und sichere Urteile
    über dieselbe von sich geben, mich noch je gefragt hat, wie 
    ich es eigentlich mache. Das kann doch nur den einzigen
    Grund haben, daß sie meinen, es sei nichts zu fragen, es
    verstünde sich ganz von selbst. Auch höre ich mitunter mit

  • S.

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    Erstaunen, daß auf dieser oder jener Abteilung eines Spitals
    ein junger Arzt von seinem Chef den Auftrag erhalten hat,
    bei einer Hysterischen eine „Psychoanalyse“ zu unternehmen.
    Ich bin überzeugt, man würde ihm nicht einen exstirpierten
    Tumor zur Untersuchung überlassen, ohne sich vorher ver-
    sichert zu haben, daß er mit der histologischen Technik
    vertraut ist. Ebenso erreicht mich die Nachricht, dieser oder
    jener Kollege richte sich Sprechstunden mit einem Patienten
    ein, um eine psychische Kur mit ihm zu machen, während
    ich sicher bin, daß er die Technik einer solchen Kur nicht
    kennt. Er muß also erwarten, daß ihm der Kranke seine
    Geheimnisse entgegenbringen wird, oder sucht das Heil in
    irgend einer Art von Beichte oder Anvertrauen. Es würde
    mich nicht wundern, wenn der so behandelte Kranke dabei
    eher zu Schaden als zum Vorteil käme. Das seelische Instru-
    ment ist nämlich nicht gar leicht zu spielen. Ich muß bei
    solchen Anlässen an die Rede eines weltberühmten Neurotikers
    denken, der freilich nie in der Behandlung eines Arztes ge-
    standen, der nur in der Phantasie eines Dichters gelebt hat.
    Ich meine den Prinzen Hamlet von Dänemark. Der König
    hat die beiden Höflinge Rosenkranz und Güldenstern
    über ihn geschickt, um ihn auszuforschen, ihm das Geheimnis
    seiner Verstimmung zu entreißen. Er wehrt sie ab; da werden
    Flöten auf die Bühne gebracht. Hamlet nimmt eine Flöte
    und bittet den einen seiner Quäler, auf ihr zu spielen, es
    sei so leicht wie lügen. Der Höfling weigert sich, denn er
    kennt keinen Griff, und da er zu dem Versuch des Flöten-
    spiels nicht zu bewegen ist, bricht Hamlet endlich los: „Nun
    seht ihr, welch ein nichtswürdiges Ding ihr aus mir macht?
    Ihr wollt auf mir spielen; ihr wollt in das Herz meines
    Geheimnisses dringen; ihr wollt mich von meiner tiefsten
    Note bis zum Gipfel meiner Stimme hinauf prüfen, und in
    diesem kleinen Instrument hier ist viel Musik, eine vortreff-
    liche Stimme, dennoch könnt ihr es nicht zum Sprechen
    bringen. Wetter, denkt ihr, daß ich leichter zu spielen
    bin als eine Flöte? Nennt mich was für ein Instru-
    ment ihr wollt, ihr könnt mich zwar verstimmen,

    aber nicht auf mir spielen“ (III. Akt, 2.).

    c) Sie werden aus gewissen meiner Bemerkungen er-
    raten haben, daß der analytischen Kur manche Eigen-
    schaften anhaften, die sie von dem Ideal einer Therapie
    ferne halten. Tuto, cito, iucunde; das Forschen und Suchen
    deutet nicht eben auf Raschheit des Erfolges, und die Er-
    wähnung des Widerstandes bereitet Sie auf die Erwartung
    von Unannehmlichkeiten vor. Gewiß, die psychoanalytische
    Behandlung stellt an den Kranken wie an den Arzt hohe
    Ansprüche; von ersterem verlangt sie das Opfer voller
    Aufrichtigkeit, gestaltet sich für ihn zeitraubend und daher

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    auch kostspielig; für den Arzt ist sie gleichfalls zeitraubend
    und wegen der Technik, die er zu erlernen und auszuüben
    hat, ziemlich mühselig. Ich finde es auch selbst ganz be-
    rechtigt, daß man bequemere Heilmethoden in Anwendung
    bringt, solange man eben die Aussicht hat, mit diesen letz-
    teren etwas zu erreichen. Auf diesen Punkt kommt es allein
    an; erzielt man mit dem mühevolleren und langwierigeren
    Verfahren erheblich mehr als mit dem kurzen und leichten,
    so ist das erstere trotz alledem gerechtfertigt. Denken Sie,
    meine Herren, um wieviel die Finsentherapie des Lupus
    unbequemer und kostspieliger ist als das früher gebräuchliche
    Ätzen und Schaben, und doch bedeutet es einen großen Fort-
    schritt, bloß weil es mehr leistet; es heilt nämlich den Lupus
    radikal. Nun will ich den Vergleich nicht gerade durchsetzen;
    aber ein ähnliches Vorrecht darf doch die psychoanalytische
    Methode für sich in Anspruch nehmen. In Wirklichkeit habe
    ich meine therapeutische Methode nur an schweren und
    schwersten Fällen ausarbeiten und versuchen können; mein
    Material waren zuerst nur Kranke, die alles erfolglos ver-
    sucht und durch Jahre in Anstalten geweilt hatten. Ich habe
    kaum Erfahrung genug gesammelt, um Ihnen sagen zu können,
    wie sich meine Therapie bei jenen leichteren, episodisch auf-
    tretenden Erkrankungen verhält, die wir unter den verschie-
    denartigsten Einflüssen und auch spontan abheilen sehen. Die
    psychoanalytische Therapie ist an dauernd existenzunfähigen
    Kranken und für solche geschaffen worden, und ihr Triumph
    ist es, daß sie eine befriedigende Anzahl von solchen dauernd
    existenzfähig macht. Gegen diesen Erfolg erscheint dann
    aller Aufwand geringfügig. Wir können uns nicht verhehlen,
    was wir vor den Kranken zu verleugnen pflegen, daß eine
    schwere Neurose in ihrer Bedeutung für das ihr unterworfene
    Individuum hinter keiner Kachexie, keinem der gefürchteten
    Allgemeinleiden, zurücksteht.

    d) Die Indikationen und Gegenanzeigen dieser Behand-
    lung sind infolge der vielen praktischen Beschränkungen, die
    meine Tätigkeit betroffen haben, kaum endgültig anzugeben.
    Indes will ich versuchen, einige Punkte mit Ihnen zu erörtern:

    1. Man übersehe nicht über die Krankheit den sonstigen
    Wert einer Person und weise Kranke zurück, welche nicht
    einen gewissen Bildungsgrad und einen einigermaßen verläß-
    lichen Charakter besitzen. Man darf nicht vergessen, daß es
    auch Gesunde gibt, die nichts taugen, und daß man nur allzu
    leicht geneigt ist, bei solchen minderwertigen Personen alles,
    was sie existenzunfähig macht, auf die Krankheit zu schieben,
    wenn sie irgend einen Anflug von Neurose zeigen. Ich stehe
    auf dem Standunkt, daß die Neurose ihren Träger keines-
    wegs zum Dégéneré stempelt, daß sie sich aber häufig genug
    mit den Erscheinungen der Degeneration vergesellschaftet an

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    demselben Individuum findet. Die analytische Psychotherapie
    ist nun kein Verfahren zur Behandlung der neuropathischen
    Degeneration, sie findet im Gegenteile an derselben ihre
    Schranke. Sie ist auch bei Personen nicht anwendbar, die
    sich nicht selbst durch ihre Leiden zur Therapie gedrängt
    fühlen, sondern sich einer solchen nur infolge des Machtge-
    botes ihrer Angehörigen unterziehen. Die Eigenschaft, auf
    die es für die Brauchbarkeit zur psychoanalytischen Behand-
    lung ankommt, die Erziehbarkeit, werden wir noch von einem
    anderen Gesichtspunkte würdigen müssen.

    2. Wenn man sicher gehen will, beschränke man seine
    Auswahl auf Personen, die einen Normalzustand haben, da
    man sich im psychoanalytischen Verfahren von diesem aus
    des Krankhaften bemächtigt. Psychosen, Zustände von Ver-
    worrenheit und tiefgreifender (ich möchte sagen: toxischer)
    Verstimmung sind also für die Psychoanalyse, wenigstens wie
    sie bis jetzt ausgeübt wird, ungeeignet. Ich halte es für
    durchaus nicht ausgeschlossen, daß man bei geeigneter Ab-
    änderung des Verfahrens sich über diese Gegenindikation
    hinaussetzen und so eine Psychotherapie der Psychosen
    in Angriff nehmen könne.

    3. Das Alter der Kranken spielt bei der Auswahl zur
    psychoanalytischen Behandlung insofern eine Rolle, als bei
    Personen nahe an oder über 50 Jahre einerseits die Plastizi-
    tät der seelischen Vorgänge zu fehlen pflegt, auf welche die
    Therapie rechnet — alte Leute sind nicht mehr erziehbar —
    und als andrerseits das Material, welches durchzuarbeiten ist,
    die Behandlungsdauer ins Unabsehbare verlängert. Die Alters-
    grenze nach unten ist nur individuell zu bestimmen; jugend-
    liche Personen noch vor der Pubertät sind oft ausgezeichnet
    zu beeinflussen.

    4. Man wird nicht zur Psychoanalyse greifen, wenn es
    sich um die rasche Beseitigung drohender Erscheinungen
    handelt, also z. B. bei einer hysterischen Anorexie.

    Sie werden nun den Eindruck gewonnen haben, daß das
    Anwendungsgebiet der analytischen Psychotherapie ein sehr
    beschränktes ist, da Sie eigentlich nichts anderes als Gegen-
    anzeigen von mir gehört haben. Nichsdestoweniger bleiben
    Fälle und Krankheitsformen genug übrig, an denen diese
    Therapie sich erproben kann, alle chronischen Formen von
    Hysterie mit Resterscheinungen, das große Gebiet der Zwangs-
    zustände und Abulien u. dgl.

    Erfreulich ist es, daß man gerade den wertvollsten und
    sonst höchst entwickelten Personen auf solche Weise am
    ehesten Hilfe bringen kann. Wo aber mit der analytischen
    Psychotherapie wenig auszurichten war, da darf man ge-
    trost behaupten, hätte irgend welche andere Behandlung sicher-
    lich gar nichts zustande gebracht.

  • S.

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    e) Sie werden mich gewiß fragen wollen, wie es bei
    Anwendung der Psychoanalyse mit der Möglichkeit, Schaden
    zu stiften, bestellt ist. Ich kann Ihnen darauf erwidern, wenn
    Sie nur billig urteilen wollen, diesem Verfahren dasselbe
    kritische Wohlwollen entgegenbringen, das Sie für unsere
    anderen therapeutischen Methoden bereit haben, so werden
    Sie meiner Meinung zustimmen müssen, daß bei einer mit
    Verständnis geleiteten analytischen Kur ein Schaden für den
    Kranken nicht zu befürchten ist. Anders wird vielleicht ur-
    teilen, wer als Laie gewohnt ist, alles, was sich in einem
    Krankheitsfalle begibt, der Behandlung zur Last zu legen.
    Es ist ja nicht lange her, daß unseren Wasserheilanstalten
    ein ähnliches Vorurteil entgegenstand. So mancher, dem man
    riet, eine solche Anstalt aufzusuchen, wurde bedenklich, weil
    er einen Bekannten gehabt hatte, der als Nervöser in die
    Anstalt kam und dort verrückt wurde. Es handelte sich, wie
    Sie erraten, um Fälle von beginnender allgemeiner Paralyse,
    die man im Anfangsstadium noch in einer Wasserheilanstalt
    unterbringen konnte und die dort ihren unaufhaltsamen Ver-
    lauf bis zur manifesten Geistesstörung genommen hatten; für
    die Laien war das Wasser Schuld und Urheber dieser trau-
    rigen Veränderung. Wo es sich um neuartige Beeinflussungen
    handelt, halten sich auch Ärzte nicht immer von solchen Ur-
    teilsfehlern frei. Ich erinnere mich, einmal bei einer Frau
    den Versuch mit Psychotherapie gemacht zu haben, bei der
    ein gutes Stück ihrer Existenz in der Abwechslung von Manie
    und Melancholie verflossen war. Ich übernahm sie zu Ende
    einer Melancholie; es schien zwei Wochen lang gut zu gehen;
    in der dritten standen wir bereits zu Beginn der neuen Manie.
    Es war dies sicherlich eine spontane Veränderung des Krank-
    heitsbildes, denn zwei Wochen sind keine Zeit, in welcher
    die analytische Psychotherapie irgend etwas zu leisten unter-
    nehmen kann, aber der hervorragende — jetzt schon ver-
    storbene — Arzt, der mit mir die Kranke zu sehen bekam,
    konnte sich doch nicht der Bemerkung enthalten, daß an
    dieser „Verschlechterung“ die Psychotherapie Schuld sein
    dürfte. Ich bin ganz überzeugt, daß er sich unter anderen
    Bedingungen kritischer erwiesen hätte. 

    f) Zum Schlusse, meine Herren Kollegen, muß ich mir
    sagen, es geht doch nicht an, Ihre Aufmerksamkeit so lange
    zugunsten der analytischen Psychotherapie in Anspruch zu
    nehmen, ohne Ihnen zu sagen, worin diese Behandlung be-
    steht und worauf sie sich gründet. Ich kann es zwar, da ich
    kurz sein muß, nur mit einer Andeutung tun. Diese Thera-
    pie ist also auf die Einsicht gegründet, daß unbewußte Vor- 
    stellungen — besser: die Unbewußtheit gewisser seelischer
    Vorgänge — die nächste Ursache der krankhaften Symptome
    ist. Eine solche Überzeugung vertreten wir gemeinsam mit

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    der französischen Schule (JANET), die übrigens in arger Sche-
    matisierung das hysterische Symptom auf die unbewußte idée
    fixe zurückführt. Fürchten Sie nun nicht, daß wir dabei zu
    tief in die dunkelste Philosophie hineingeraten werden. Unser
    Unbewußtes ist nicht ganz dasselbe wie das der Philosophen,
    und überdies wollen die meisten Philosophen vom „unbewußten
    Psychischen“ nichts wissen. Stellen Sie sich aber auf unseren
    Standpunkt, so werden Sie einsehen, daß die Übersetzung
    dieses Unbewußten im Seelenleben der Kranken in ein Be-
    wußtes, den Erfolg haben muß, deren Abweichung vom Nor- 
    malen zu korrigieren und den Zwang aufzuheben, unter dem
    ihr Seelenleben steht. Denn der bewußte Wille reicht soweit
    als die bewußten psychischen Vorgänge, und jeder psychische
    Zwang ist durch das Unbewußte begründet. Sie brauchen
    auch niemals zu fürchten, daß der Kranke unter der Erschütte- 
    rung Schaden nehme, welche der Eintritt des Unbewußten
    in sein Bewußtsein mit sich bringt, denn Sie können es sich
    theoretisch zurecht legen, daß die somatische und affektive
    Wirkung der bewußt gewordenen Regung niemals so groß
    werden kann wie die der unbewußten. Wir beherrschen alle
    unsere Regungen doch nur dadurch, daß wir unsere höchsten,
    mit Bewußtsein verbundenen Seelenleistungen auf sie wenden.

    Sie können aber auch einen anderen Gesichtspunkt für
    das Verständnis der psychoanalytischen Behandlung wählen.
    Die Aufdeckung und Übersetzung des Unbewußten geht unter
    beständigem Widerstand von seiten der Kranken vor sich.
    Das Auftauchen dieses Unbewußten ist mit Unlust verbunden,
    und wegen dieser Unlust wird es von ihm immer wieder zu-
    rückgewiesen. ln diesen Konflikt im Seelenleben des Kranken
    greifen Sie nun ein; gelingt es Ihnen, den Kranken dazu zu
    bringen, daß er aus Motiven besserer Einsicht etwas akzep- 
    tiert, was er zufolge der automatischen Unlustregulierung
    bisher zurückgewiesen (verdrängt) hat, so haben Sie ein
    Stück Erziehungsarbeit an ihm geleistet. Es ist ja schon Er- 
    ziehung, wenn Sie einen Menschen, der nicht gern früh
    morgens das Bett verläßt, dazu bewegen, es doch zu tun. Als
    eine solche Nacherziehung zur Überwindung innerer
    Widerstände
    können Sie nun die psychoanalytische Behand- 
    lung ganz allgemein auffassen. In keinem Punkte aber ist solche
    Nacherziehung bei den Nervösen mehr vonnöten als betreffs
    des seelischen Elementes in ihrem Sexualleben. Nirgends
    haben ja Kultur und Erziehung so großen Schaden gestiftet
    wie gerade hier, und hier sind auch, wie Ihnen die Erfah- 
    rung zeigen wird, die beherrschbaren Ätiologien der Neurosen
    zu finden; das andere ätiologische Element, der konstitutionelle
    Beitrag, ist uns ja als etwas Unabänderliches gegeben. Hier-
    aus erwächst aber eine wichtige an den Arzt zu stellende
    Anforderung. Er muß nicht nur selbst ein integrer Charakter

  • S.

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    sein — „das Moralische versteht sich ja von selbst“, wie die
    Hauptperson in TH. VISCHERs „Auch Einer“ zu sagen pflegt —;
    er muß auch für seine eigene Person die Mischung von Lüstern-
    heit und Prüderie überwunden haben, mit welcher leider so
    viele Andere den sexuellen Problemen entgegenzutreten ge- 
    wohnt sind.

    Hier ist vielleicht der Platz für eine weitere Bemer- 
    kung. Ich weiß, daß meine Betonung der Rolle des Sexuellen
    für die Entstehung der Psychoneurosen in weiteren Kreisen
    bekannt geworden ist. Ich weiß aber auch, daß Einschrän- 
    kungen und nähere Bestimmungen beim großen Publikum
    wenig nützen; die Menge hat für Wenig Raum in ihrem Ge- 
    dächtnis und behält von einer Behauptung doch nur den rohen
    Kern, schafft sich ein leicht zu merkendes Extrem Es mag
    auch manchen Ärzten so ergangen sein, daß ihnen als Inhalt
    meiner Lehre vorschwebt, ich führe die Neurosen in letzter
    Linie auf sexuelle Entbehrung zurück. An dieser fehlt es
    nicht unter den Lebensbedingungen unserer Gesellschaft. Wie
    nahe mag es nun bei solcher Voraussetzung liegen, den müh- 
    seligen Umweg über die psychische Kur zu vermeiden und
    direkt die Heilung anzustreben, indem man die sexuelle Be-
    tätigung als Heilmittel empfiehlt? Ich weiß nun nicht, was
    mich bewegen könnte, diese Folgerung zu unterdrücken, wenn
    sie berechtigt wäre. Die Sache liegt aber anders. Die sexuelle
    Bedürftigkeit und Entbehrung, das ist bloß der eine Faktor,
    der beim Mechanismus der Neurose ins Spiel tritt; bestünde
    er allein, so würde nicht Krankheit, sondern Ausschweifung
    die Folge sein. Der andere ebenso unerläßliche Faktor, an
    den man allzu bereitwillig vergißt, ist die Sexualabneigung
    der Neurotiker, ihre Unfähigkeit zum Lieben, jener psychische
    Zug, den ich „Verdrängung“ genannt habe. Erst aus dem
    Konflikt zwischen beiden Strebungen geht die neurotische
    Erkrankung hervor, und darum kann der Rat der sexuellen
    Betätigung bei den Psychoneurosen eigentlich nur selten als
    guter Rat bezeichnet werden.

    Lassen Sie mich mit dieser abwehrenden Bemerkung
    schließen. Wir wollen hoffen, daß Ihr von jedem feindseligen
    Vorurteil gereinigtes Interesse für die Psychotherapie uns
    darin unterstützen wird, auch in der Behandlung der schweren
    Fälle von Psychoneurosen Erfreuliches zu leisten.