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EINE KINDHEITSERINNERUNG
AUS »DICHTUNG UND WAHRHEIT«Zuerst erschienen in „Imago“, Bd. V (1917),
4 dann in der Vierten Folge der „Sammlung kleiner
Schriften zur Neurosenlehre“.„Wenn man sich erinnern will, was uns in der frühesten
Zeit der Kindheit begegnet ist, so kommt man oft in den Fall,
dasjenige, was wir von anderen gehårt, mit dem zu verwechseln,
was wir wirklich aus eigener anschauender Erfahrung besitzen.“
Diese Bemerkung macht Goethe auf einem der ersten Blätter
der Lebensbeschreibung, die er im Alter von sechzig Jahren auf-
zuzeichnen begann. Vor ihr stehen nur einige Mitteilungen über
seine „am 28, August 1749, mittags mit dem Glockenschlag
zwölf“ erfolgte Geburt. Die Konstellation der Gestirne war ihm
günstig und mag wohl Ursache seiner Erhaltung gewesen sein,
denn er kam „für tot“ auf die Welt, und nur durch vielfache
Bemühungen brachte man es dahin, daß er das Licht erblickte.
Nach dieser Bemerkung folgt eine kurze Schilderung des Hauses
und der Räumlichkeit, in welcher sich die Kinder — er und
seine jüngere Schwester — am liebsten aufhielten. Dann aber
erzählt Goethe eigentlich nur eine einzige Begebenheit, die man
in die „früheste Zeit der Kindheit“ (in die Jahre bis vier?) ver-
setzen kann, und an welche er eine eigene Erinnerung bewahrt
zu haben scheint.S.
88 Sigm. Freud
Der Bericht hieriiber lautet: ,und mich gewannen drei gegen-
über wohnende Brüder von Ochsenstein, hinterlassene Söhne des
verstorbenen SchultheiBen, gar lieb, und beschäftigten und neckten
sich mit mir auf mancherlei Weise.“„Die Meinigen erzählten gern allerlei Eulenspiegeleien, zu denen
mich jene sonst ernsten und einsamen Männer angereizt. Ich
führe nur einen von diesen Streichen an. Es war eben Topfmarkt
gewesen und man hatte nicht allein die Kiiche fiir die nåchste
Zeit mit solchen Waren versorgt, sondern auch uns Kindern der-
gleichen Geschirr im kleinen zu spielender Beschiftigung einge-
kauft. An einem schönen Nachmittag, da alles ruhig im Hause
war, trieb ich im Geråms (der erwähnten gegen die Straße ge-
richteten Ortlichkeit) mit meinen Schüsseln und Túpfen mein
Wesen und da weiter nichts dabei herauskommen wollte, warf
ich ein Geschirr auf die StraBe und freute mich, daB es so lustig
zerbrach. Die von Ochsenstein, welche sahen, wie ich mich daran
ergótzte, daß ich so gar fröhlich in die Händchen patschte, riefen:
Noch mehr! Ich siumte nicht, sogleich einen Topf und auf immer
fortwåhrendes Rufen: Noch mehr! nach und nach sämtliche Schüssel-
chen, Tiegelchen, Kånnchen gegen das Pflaster zu schleudern.
Meine Nachbarn fuhren fort, ihren Beifall zu bezeigen und ich
war hóchlich froh, ihnen Vergnügen zu machen. Mein Vorrat
aber war aufgezehrt, und sie riefen immer: Noch mehr! Ich eilte
daher stracks in die Kiiche und holte die irdenen Teller, welche
nun freilich im Zerbrechen ein noch lustigeres Schauspiel gaben;
und so lief ich hin und wieder, brachte einen Teller nach dem
anderen, wie ich sie auf dem Topfbrett der Reihe nach erreichen
konnte, und weil sich jene gar nicht zufrieden gaben, so stürzte
ich alles, was ich von Geschirr erschleppen konnte, in gleiches Ver-
derben. Nur spåter erschien jemand zu hindern und zu wehren. Das
Ungliick war geschehen, und man hatte fiir so viel zerbrochene
Tópferware wenigstens eine lustige Geschichte, an der sich be-
sonders die schalkischen Urheber bis an ihr Lebensende ergötzten.“S.
Eine Kindheitserinnerung aus „Dichtung und Wahrheit" 89
Dies konnte man in voranalytischen Zeiten ohne AnlaB zum
Verweilen und ohne AnstoB lesen; aber spiter wurde das analy-
tische Gewissen rege. Man hatte sich ja über Erinnerungen aus der
frühesten Kindheit bestimmte Meinungen und Erwartungen gebildet,
für die man gerne allgemeine Gültigkeit in Anspruch nahm. Es
sollte nicht gleichgültig oder bedeutungslos sein, welche Einzelheit
des Kindheitslebens sich dem allgemeinen Vergessen der Kindheit
entzogen hatte. Vielmehr durfte man vermuten, daD dies im Ge-
dåchinis Erhaltene auch das Bedeutsamste des ganzen Lebens-
abschnittes sei, und zwar entweder so, daB es solche Wichtigkeit
schon zu seiner Zeit besessen oder anders, daf) es sie durch den
Einfluß späterer Erlebnisse nachträglich erworben habe.Allerdings war die hohe Wertigkeit solcher Kindheitserinne-
rungen nur in seltenen Füllen offensichtlich. Meist erschienen sie
gleichgültig, ja nichtig, und es blieb zunächst unverstanden, daß
es gerade ihnen gelungen war, der Amnesie zu trotzen; auch
wußte derjenige, der sie als sein eigenes Erinnerungsgut seit
langen Jahren bewahrt hatte, sie so wenig zu würdigen wie der
Fremde, dem er sie erzühlte. Um sie in ihrer Bedeutsamkeit zu
erkennen, bedurfte es einer gewissen Deutungsarbeit, die entweder
nachwies, wie ihr Inhalt durch einen anderen zu ersetzen sei,
oder ihre Beziehung zu anderen, unverkennbar wichtigen Erleb-
nissen aufzeigte, für welche sie als sogenannte Deckerinnerungen
eingetreten waren.In jeder psychoanalytischen Bearbeitung einer Lebensgeschichte
gelingt es, die Bedeutung der frühesten Kindheitserinnerungen in
solcher Weise aufzuklären. Ja, es ergibt sich in der Regel, daß
gerade diejenige Erinnerung, die. der Analysierte voranstellt, die
er zuerst erzühlt, mit der er seine Lebensbeichte einleitet, sich
als die wichtigste erweist, als diejenige, welche die Schlüssel zu
den Geheimfåchern seines Seelenlebens in sich birgt. Aber im
Falle jener kleinen Kinderbegebenheit, die in „Dichtung und
Wahrheit" erzühlt wird, kommt unseren Erwartungen zu wenigS.
90 Sigm. Freud
entgegen. Die Mittel und Wege, die bei unseren Patienten zur
Deutung führen, sind uns hier natürlich unzugånglich; der Vorfall
an sich scheint einer aufspiirbaren Beziehung zu wichtigen Lebens-
eindrücken späterer Zeit nicht fähig zu sein. Ein Schabernack
zum Schaden der häuslichen Wirtschaft, unter fremdem Einfluß
veriibt, ist sicherlich keine passende Vignette får all das, was
Goethe aus seinem reichen Leben mitzuteilen hat. Der Eindruck
der vollen Harmlosigkeit und Beziehungslosigkeit will sich får
diese Kindererinnerung behaupten, und wir mögen die Mahnung
mitnehmen, die Anforderungen der Psychoanalyse nicht zu über-
spannen oder am ungeeigneten Orte vorzubringen.So hatte ich denn das kleine Problem längst aus meinen Ge-
danken fallen lassen, als mir der Zufall einen Patienten zufiihrte,
bei dem sich eine åhnliche Kindheitserinnerung in durchsichti-
gerem Zusammenhange ergab. Es war ein siebenundzwanzigjåhriger,
hochgebildeter und begabter Mann, dessen Gegenwart durch einen
Konflikt mit seiner Mutter ausgefüllt war, der sich so ziemlich
auf alle Interessen des Lebens erstreckte, unter dessen Wirkung
die Entwicklung seiner Liebesfáhigkeit und seiner selbständigen
Lebensführung schwer gelitten hatte. Dieser Konflikt ging weit
in die Kindheit zuriick; man kann wohl sagen, bis in sein viertes
Lebensjahr. Vorher war er ein sehr schwåchliches, immer krån-
kelndes Kind gewesen, und doch hatten seine Erinnerungen diese
üble Zeit zum Paradies verklårt, denn damals besaß er die un-
eingeschrånkte, mit niemandem geteilte Zårtlichkeit der Mutter.
Als er noch nicht vier Jahre war, wurde ein — heute noch
lebender — Bruder geboren, und in der Reaktion auf diese Stó-
rung wandelte er sich zu einem eigensinnigen, unbotmäBigen
Jungen, der unausgesetzt die Strenge der Mutter herausforderte.
Er kam auch nie mehr in das richtige Geleise.Als er in meine Behandlung trat — micht zum mindesten
darum, weil die bigotte Mutter die Psychoanalyse verabscheute —
war die Eifersucht auf den nachgeborenen Bruder, die sich seiner-S.
Eine Kindheitserinnerung aus „Dichtung und Wahrheit“ 91
zeit selbst in einem Attentat auf den Såugling in der Wiege
geäußert hatte, längst vergessen. Er behandelte jetzt seinen jün-
geren Bruder sehr rücksichtsvoll, aber sonderbare Zufallshandlungen,
durch die er sonst geliebte Tiere wie seinen Jagdhund oder sorgsam
von ihm gepflegte Vögel plötzlich zu schwerem Schaden brachte,
waren wohl als Nachklänge jener feindseligen Impulse gegen den
kleinen Bruder zu verstehen.Dieser Patient berichtete nun, daß er um die Zeit des Attentats
gegen das ihm verhaßte Kind einmal alles ihm erreichbare Ge-
schirr aus dem Fenster des Landhauses auf die Straße geworfen.
Also dasselbe, was Goethe in Dichtung und Wahrheit aus seiner
Kindheit erzählt! Ich bemerke, daß mein Patient von fremder
Nationalität und nicht in deutscher Bildung erzogen war; er hatte
Goethes Lebensbeschreibung niemals gelesen,Diese Mitteilung mußte mir den Versuch nahe legen, die
Kindheitserinnerung Goethes in dem Sinne zu deuten, der durch
die Geschichte meines Patienten unabweisbar geworden war. Aber
waren in der Kindheit des Dichters die für solche Auffassung
erforderlichen Bedingungen nachzuweisen? Goethe selbst macht
zwar die Aneiferung der Herren von Ochsenstein für seinen
Kinderstreich verantwortlich. Aber seine Erzählung selbst läBt
erkennen, daß die erwachsenen Nachbarn ihn nur zur Fortsetzung
seines Treibens aufgemuntert hatten. Den Anfang dazu hatte er
spontan gemacht, und die Motivierung, die er für dies Beginnen
gibt: „Da weiter nichts dabei (beim Spiele) herauskommen wollte“,
1801 sich wohl ohne Zwang als Geständnis deuten, daß ihm ein
wirksames Motiv seines Handelns zur Zeit der Niederschrift und
‚wahrscheinlich auch lange Jahre vorher nicht bekannt war.Es ist bekannt, daß Joh. Wolfgang und seine Schwester Cor-
nelia die ältesten Überlebenden einer größeren, recht hinfälligen
Kinderreihe waren. Dr. Hanns Sachs war so freundlich, mir die
Daten zu verschaffen, die sich auf diese früh verstorbenenen
Geschwister Goethes beziehen.S.
92 Sigm. Freud
Geschwister Goethes:
a) Hermann Jakob, getauft Montag, den 27. November 1752,
erreichte ein Alter von sechs Jahren und sechs Wochen, be-
erdigt 15. Jänner 1750.b) Katharina Elisabetha, getauft Montag, den g. September 1 7 54,
beerdigt Donnerstag, den 22. Dezember 1755 (ein Jahr, vier
Monate alt).c) Johanna Maria, getauft Dienstag, den 29. Mårz 1757 und
beerdigt Samstag, den 11. August 1759 (zwei Jahre, vier
Monate alt). (Dies war jedenfalls das von ihrem Bruder ge-
rühmte sehr schöne und angenehme Mädchen).d) Georg Adolph, getauft Sonntag, den 15. Juni 1760; be-
erdigt, acht Monate alt, Mittwoch, den 18. Februar 1761.Goethes nåchste Schwester, Cornelia Friederica Christiana,
war am 7. Dezember 1750 geboren, als er fiinfviertel Jahre alt
war. Durch diese geringe Altersdifferenz ist sie als Objekt derEifersucht so gut wie ausgeschlossen. Man weiB, daB Kinder,
wenn ihre Leidenschaften erwachen, niemals so heftige Reaktionen
gegen die Geschwister entwickeln, welche sie vorfinden, sondern
ihre Abneigung gegen die neu Ankommenden richten. Auch ist dieSzene, um deren Deutung wir uns bemühen, mit dem zarten Alter
Goethes bei oder bald nach der Geburt Cornelias unvereinbar.
Bei der Geburt des ersten Briiderchens Hermann Jakob warJoh. Wolfgang dreieinviertel Jahre alt. Ungefähr zwei Jahre später,
als er etwa fünf Jahre alt war, wurde die zweite Schwester ge-
boren. Beide Altersstufen kommen får die Datierung des Geschirr-
hinauswerfens in Betracht; die erstere verdient vielleicht den Vor-
zug, sie würde auch die bessere Übereinstimmung mit dem Falle
meines Patienten ergeben, der bei der Geburt seines Bruders
etwa dreidreiviertel Jahre zåhlte.Der Bruder Hermann Jakob, auf den unser Deutungsversuch
in solcher Art hingelenkt wird, war übrigens kein so fliichtigerGast in der Goetheschen Kinderstube wie die spåteren Geschwister.
S.
Eine Kindheitserinnerung aus „Dichtung und Wahrheit“ 93
Man könnte sich verwundern, daß die Lebensgeschichte seines
großen Bruders nicht ein Wórtchen des Gedenkens an ihn bringt.
Er wurde iiber sechs Jahre alt und Joh. Wolfgang war nahe an
zehn Jahre, als er starb. Dr. Ed. Hitschmann, der so freundlich
war, mir seine Notizen über diesen Stoff zur Verfügung zu stellen,
meint:„Auch der kleine Goethe hat ein Briiderchen nicht un-
gern sterben gesehen. Wenigstens berichtete seine Mutter nach
Bettina Brentanos Wiedererzihlung folgendes: ,Sonderbar fiel
es der Mutter auf, daß er bei dem Tode seines jüngeren Bruders
Jakob, der sein Spielkamerad war, keine Trine vergoB, er schien
vielmehr eine Art Ärger über die Klagen der Eltern und Ge-
schwister zu haben; da die Mutter nun spiter den Trotzigen
fragte, ob er den Bruder nicht lieb gehabt habe, lief er in seine
Kammer, brachte unter dem Bett hervor eine Menge Papiere,
die mit Lektionen und Geschichtchen beschrieben waren, er sagte
ihr, daß er dies alles gemacht habe, um es dem Bruder zu lehren.‘
Der ältere Bruder hätte also immerhin gern Vater mit dem
Jüngeren gespielt und ihm seine Überlegenheit gezeigt.“Wir könnten uns also die Meinung bilden, das Geschirrhinaus-
werfen sei eine symbolische, oder sagen wir es richtiger: eine
magische Handlung, durch welche das Kind (Goethe sowie
mein Patient) seinen Wunsch nach Beseitigung des störenden Ein-
dringlings zu kräftigem Ausdruck bringt. Wir brauchen das Ver-
gnügen des Kindes beim Zerschellen der Gegenstände nicht zu
bestreiten; wenn eine Handlung bereits an sich lustbringend ist,
so ist dies keine Abhaltung, sondern eher eine Verlockung, sie
auch im Dienste anderer Absichten zu wiederholen. Aber wir1) [Zusatz 1924:] Ich bediene mich dieser Gelegenheit, um eine unrichtige Be-
hauptung, die nicht hätte vorfallen sollen, zurückzunehmen. An einer späteren Stelle
dieses ersten Buches wird der jüngere Bruder doch erwähnt und geschildert. Es
geschieht bei der Erinnerung an die lästigen Kinderkrankheiten, unter denen auch
dieser Bruder „nicht wenig litt“. „Er war von zarter Natur, still und eigensinnig
und wir hatten niemals ein eigentliches Verhältnis zusammen. Auch überlebte er
kaum die Kinderjahre.“S.
94 Sigm. Freud
glauben nicht, daB es die Lust am Klirren und Brechen war,
welche solchen Kinderstreichen einen dauernden Platz in der Er-
innerung des Erwachsenen sichern konnte. Wir stråuben uns auch
nicht, die Motivierung der Handlung um einen weiteren Beitrag
zu komplizieren. Das Kind, welches das Geschirr zerschlågt, weil
wohl, daß es etwas Schlechtes tut, worüber die Erwachsenen
schelten werden, und wenn es sich durch dieses Wissen nicht
zurückhalten läßt, so hat es wahrscheinlich einen Groll gegen die
Eltern zu befriedigen; es will sich schlimm zeigen.Der Lust am Zerbrechen und am Zerbrochenen wåre auch
Geniige getan, wenn das Kind die gebrechlichen Gegenstände
einfach auf den Boden würfe. Die Hinausbefórderung durch das
Fenster auf die Straße bliebe dabei ohne Erklärung. Dies „Hinaus“
scheint aber ein wesentliches Stück der magischen Handlung‘ zu
sein und dem verborgenen Sinn derselben zu entstammen. Das
neue Kind soll fortgeschafft werden, durchs Fenster môglicher-
weise darum, weil es durchs Fenster gekommen ist. Die ganze
Handlung wåre dann gleichwertig jener uns bekannt gewordenen
wortlichen Reaktion eines Kindes, als man ihm mitteilte, daB der
Storch ein Geschwisterchen gebracht. „Er soll es wieder mit-
nehmen“, lautete sein Bescheid.Indes, wir verhehlen uns nicht, wie mißlich es — vón allen
inneren Unsicherheiten abgesehen — bleibt, die Deutung einer
Kinderhandlung auf eine einzige Analogie zu begründen. Ich hatte
darum auch meine Auffassung der kleinen Szene aus „Dichtung
und Wahrheit“ durch Jahre zurückgehalten. Da bekam ich eines
Tages einen Patienten, der seine Analyse mit folgenden, wort-
getreu fixierten Sätzen einleitete:„Ich bin das älteste von acht oder neun Geschwistern. Eine
meiner ersten Erinnerungen ist, daß der Vater, in Nachtkleidungı) Ein flüchtiger Irrtum auffälliger Natur. Es ist nicht abzuweisen, daß er bereits
durch die Beseitigungstendenz gegen den Bruder induziert ist. (Vgl. Ferenczi: Über
passagere Symptombildungen während der Analyse. Zentralbl. f. Psychoanalyse II, 1912.)S.
Eine Kindheitserinnerung aus „Dichtung und Wahrheit“ 95
auf seinem Bette sitzend, mir lachend erzählt, daß ich einen
Bruder bekommen habe. Ich war damals dreidreiviertel Jahre alt;
so groß ist der Altersunterschied zwischen mir und meinem
nächsten Bruder. Dann weiß ich, daß ich kurze Zeit nachher
(oder war es ein Jahr vorher?)* einmal verschiedene Gegenstände,
Bürsten — oder war es nur eine Bürste? — Schuhe und anderes
aus dem Fenster auf die Straße geworfen habe. Ich habe auch
noch eine frühere Erinnerung. Als ich zwei Jahre alt war, über-
nachtete ich mit den Eltern in einem Hotelzimmer in Linz auf
der Reise ins Salzkammergut. Ich war damals so unruhig in der
Nacht und machte ein solches Geschrei, daß mich der Vater
schlagen mußte.“Vor dieser Aussage ließ ich jeden Zweifel fallen. Wenn bei
analytischer Einstellung zwei Dinge unmittelbar nacheinander, wie
in einem Atem vorgebracht werden, so sollen wir diese Annähe-
rung auf Zusammenhang umdeuten. Es war also so, als ob der
Patient gesagt hätte: Weil ich erfahren, daß ich einen Bruder
bekommen habe, habe ich einige Zeit nachher jene Gegenstände
auf die Straße geworfen. Das Hinauswerfen der Bürsten, Schuhe usw.
gibt sich als Reaktion auf die Geburt des Bruders zu erkennen.
Es ist auch nicht unerwünscht, daß die fortgeschafften Gegen-
stände in diesem Falle nicht Geschirr, sondern andere Dinge
waren, wahrscheinlich solche, wie sie das Kind eben erreichen
konnte ... Das Hinausbefördern (durchs Fenster auf die Straße)
erweist sich so als das Wesentliche der Handlung, die Lust am
Zerbrechen, am Klirren und die Art der Dinge, an denen „die
Exekution vollzogen wird“, als inkonstant und unwesentlich.Natürlich gilt die Forderung des Zusammenhanges auch für
die dritte Kindheitserinnerung des Patienten, die, obwohl die
früheste, an das Ende der kleinen Reihe gerückt ist. Es ist leicht,
sie zu erfüllen. Wir verstehen, daß das zweijährige Kind darum1) Dieser den wesentlichen Punkt der Mitteilung als Widerstand annagende
Zweifel wurde vom Patienten bald nachher selbständig zurückgezogen.S.
96 Sigm. Freud
so unruhig war, weil es das Beisammensein von Vater und Mutter
im Bette nicht leiden wollte. Auf der Reise war es wohl nicht
anders möglich, als das Kind zum Zeugen dieser Gemeinschaft
werden zu lassen. Von den Gefühlen, die sich damals in dem
kleinen Eifersichtiben regten, ist ihm die Erbitterung gegen
das Weib verblieben, und diese hat eine dauernde Störung seiner
。 Liebesentwicklung zur Folge gehabt.Als ich nach diesen beiden Erfahrungen im Kreise der psycho-
analytischen Gesellschaft die Erwartung äußerte, Vorkommnisse
solcher Art dürften bei kleinen Kindern nicht zu den Seltenheiten
gehören, stellte mir Frau Dr. v. Hug-Hellmuth zwei weitere
Beobachtungen zur Verfügung, die ich hier folgen lasse:I
Mit zirka dreieinhalb Jahren hatte der kleine Erich ,urplôtzlich“ die
Gewohnheit angenommen, alles, was ihm nicht paßte, zum Fenster hinaus-
zuwerfen. Aber er tat es auch mit Gegenständen, die ihm nicht im Wege
waren und ihn nichts angingen. Gerade am Geburtstag des Vaters — da
zählte er drei Jahre viereinhalb Monate — warf er eine schwere Teigwalze,
die er flugs aus der Kiiche ins Zimmer geschleppt hatte, aus einem Fenster
der im dritten Stockwerk gelegenen Wohnung auf die Straße. Einige Tage
später ließ er den MorserstoBel, dann ein Paar schwerer Bergschuhe des
Vaters, die er erst aus dem Kasten nehmen mußte, folgen.!Damals machte die Mutter im siebenten oder achten Monate ihrer Schwanger-
schaft eine fausse couche, nach der das Kind „wie ausgewechselt brav und zärtlich
still“ war. Im fünften oder sechsten Monate sagte er wiederholt zur Mutter:
„Mutti, ich spring’ dir auf den Bauch“ oder „Mutti, ich drück’ dir den
Bauch ein“. Und kurz vor der fausse couche, im Oktober: „Wenn ich schon
einen Bruder bekommen soll, so wenigstens erst nach dem Christkindl.“II
Eine junge Dame von neunzehn Jahren gibt spontan als früheste Kind-
heitserinnerung folgende:„Ich sehe mich furchtbar ungezogen, zum Hervorkriechen bereit, unter
dem Tische im Speisezimmer sitzen. Auf dem Tische steht meine Kaffee-
schale — ich sehe noch jetzt deutlich das Muster des Porzellans vor mir, —1) Immer wählte er schwere Gegenstände.
S.
Eine Kindheitserinnerung aus „Dichtung und Wahrheit“ 97
die ich in dem Augenblick, als Großmama ins Zimmer trat, zum Fenster
hinauswerfen wollte.
Es hatte sich nämlich niemand um mich gekümmert, und indessen hattesich auf dem Kaffee eine „Haut“ gebildet, was mir immer fürchterlich war
und heute noch ist.An diesem Tage wurde mein um zweieinhalb Jahre jüngerer Bruder ge-
boren, deshalb hatte niemand Zeit für mich.Man erzählt mir noch immer, daß ich an diesem Tage unausstehlich war;
zu Mittag hatte ich das Lieblingsglas des Papas vom Tische geworfen, tags-
über mehrmals mein Kleidchen beschmutzt und war von früh bis abends
übelster Laune. Auch ein Badepüppchen hatte ich in meinem Zorne zer-
triimmert. *Diese beiden Falle bediirfen kaum eines Kommentars. Sie be-
ståtigen ohne weitere analytische Bemiihung, daß die Erbitterung
des Kindes iiber das erwartete oder erfolgte Auftreten eines Kon-
kurrenten sich in dem Hinausbefórdern von Gegenständen durch
das Fenster wie auch durch andere Akte von Schlimmheit und
Zerstórungssucht zum Ausdruck bringt. In der ersten Beobachtung
symbolisieren wohl die „schweren Gegenstände“ die Mutter selbst,
gegen welche sich der Zorn des Kindes richtet, solange das neue
Kind noch nicht da ist. Der dreieinhalbjährige Knabe weiß um
die Schwangerschaft der Mutter und ist nicht im Zweifel dariiber,
daß sie das Kind in ihrem Leibe beherbergt. Man muß sich
hiebei an den „kleinen Hans“! erinnern und an seine besondere
Angst vor schwer beladenen Wagen.“ An der zweiten Beobach-
tung ist das frühe Alter des Kindes, zweieinhalb Jahre, bemer-
kenswert.1j Analyse der Phobie eines fiinfjihrigen Knaben [Ges. Schriften, Bd. VIII].
2) Für diese Symbolik der Schwangerschaft hat mir vor einiger Zeit eine mehr
als fünfzigjáhrige Dame eine weitere Bestätigung erbracht. Es war ihr wiederholt
erzählt worden, daß sie als kleines Kind, das kaum sprechen konnte, den Vater auf-
geregt zum Fenster zu ziehen pflegte, wenn ein schwerer Móbelwagen auf der Straße
vorbeifuhr. Mit Rücksicht auf ihre Wohnungserinnerungen läßt sich feststellen, daß
sie damals jünger war als zweidreiviertel Jahre. Um diese Zeit wurde ihr nächster
Bruder geboren und infolge dieses Zuwachses die Wohnung gewechselt. Ungefähr
gleichzeitig hatte sie oft vor dem Einschlafen die ångstliche Empfindung von etwas
unheimlich Grofem, das auf sie zukam, und dabei „wurden ihr die Hinde so
dick“,Freud, Dichtung und Kunst 7
S.
98 Sigm. Freud
Wenn wir nun zur Kindheitserinnerung Goethes zuriickkehren
und an ihrer Stelle in ,Dichtung und Wahrheit“ einsetzen, was
wir aus der Beobachtung anderer Kinder erraten zu haben glauben,
so stellt sich ein tadelloser Zusammenhang her, den wir sonst
nicht entdeckt hätten. Es heißt dann: Ich bin ein Glückskind
gewesen; das Schicksal hat mich am Leben erhalten, obwohl ich
får tot zur Welt gekommen bin. Meinen Bruder aber hat es be-
seitigt, so daß ich die Liebe der Mutter nicht mit ihm zu teilen
brauchte. Und dann geht der Gedankenweg weiter, zu einer
anderen in jener Friihzeit Verstorbenen, der GroBmutter, die wie
ein freundlicher, stiller Geist in einem anderen Wohnraum hauste.Ich habe es aber schon an anderer Stelle ausgesprochen: Wenn
man der unbestrittene Liebling der Mutter gewesen ist, so behålt
man fürs Leben jenes Eroberergefiihl, jene Zuversicht des Erfolges,
welche nicht selten wirklich den Erfolg nach sich zieht. Und
eine Bemerkung solcher Art wie: Meine Stärke wurzelt in meinem
Verhältnis zur Mutter, hätte Goethe seiner Lebensgeschichte mit
Recht voranstellen dürfen.
freud-1924-kunst
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