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MYTHOLOGISCHE PARALLELE ZU EINER
PLASTISCHEN ZVVANGSVORSTELLUNGZuerst erschienen in der „Inrernatinmden Zeit-
schrift für ärztliche Psychoanalyse“, IV (1916),
dann in der Vierter; Folge der „Sammlung kleiner
Schriften zur .Nmroscnlehre“.Bei einem etwa 91jährigen Kranken werden die Produkte der
unbewußten Geistesarbeit nicht nur als Zwangsgedanken, sondern
auch als Zwangsbilder bewußt. Die beiden können einander
begleiten oder unabhängig voneinander auftreten. Zu einer ‚ge—
wissen Zeit treten bei ihm innig verknüpft ein Zwangswort
und ein Zwangsbild auf, wenn er seinen Vater ins Zimmer
kommen sah. Das W'ort lautete: „Vaterarsch“, das begleitende
Bild stellte den Vater als einen nackten, mit Armen und Beinen
versehenen Unterkörper der, dem Kopf und Oberkörper fehlten.
Die Genitalien waren nicht angezeigt, die Gesichtszüge auf dem
Bauch aufgemalt.Zur Erläuterung dieser mehr als gewöhnlich tollen Symptom-
bildung ist zu bemerken, daß der intellektuell vollentwickelte
und ethisch hochstrebende Mann bis über sein zehntes Jahr eine
sehr lebhafte Analerotik in den verschiedensten Formen betätigt
hatte. Nachdem sie überwunden war, wurde sein Sexualleben durch
den späteren Kampf gegen die Genitalerotik auf die anale Vor—
stufe zurückgedrängt. Seinen Vater liebte und respektierte er sehr,
fürchtete ihn auch nicht wenig; vom Standpunkte seiner hohenS.
M'ytfzologische Parallele zu einer plastischen Zwangsvorstellung 24.1
Ansprüche an Triebunterdrückung und Askese erschien ihm der
Vater aber als der Vertreter der „Völlerei“, der aufs Materielle
gerichteten Genußsucht.„Vaterarsch“ erklärte sich bald als mutwillige Verdeutschung
des Ehrentitels „Patriarch“. Das Zwangsbild ist eine offenkundige
Karikatur. Es erinnert an andere Darstellungen, die in herab-
setzender Absicht die ganze Person durch ein einziges Organ,
z. B. ihr Genitale ersetzen, an unbewußte Phantasien, welche zur
Identifizierung des Genitales mit dem ganzen Menschen führen,
und an scherzhafte Redensarten wie: „Ich bin ganz Ohr.“Die Anbringung der Gesichtszüge auf dem Bauche der Spottfigur
erschien mir zunächst sehr sonderhar. Ich erinnerte mich aber bald,
ähnliches an französischen Karikaturen gesehen zu haben.1 Der Zufall
hat mich dann rnit einer antiken Darstellung bekannt gemacht, die
volle Übereinstimmung mit dem Zwangsbild meines Patienten zeigt.Nach der griechischen Sage war Demeter auf der Suche nach
ihrer geraubten Tochter nach Eleusis gekommen, fand Aufnahme
bei Dysaules und. seiner Frau Baubo, verweigerte aber in ihrer
tiefen Trauer, Speise und Trank zu berühren. Da brachte sie die
Wirtin Baubo zum Lachen, indem sie plötzlich ihr Kleid aufhob
und ihren Leib enthüllte. Die Diskussion dieser Anekdote, die
wahrscheinlich ein nicht mehr verstandenes magisches Zeremoniell
erklären soll, findet sich im vierten Bande des Werkes „Cultes,
Mythes et Religions“, 1919, von Salomon Reinach. Ebendortwird auch erwähnt, daß sich bei den Ausgrabungen des klein—
asiatischen Priene Terrakotten gefunden haben, welche diese1) Vgl.: Das unanständige Albion, Karikatur von Jean Veher aus dem Jahre 1901
auf England in Eduard Fuchs: Das erotische Element in der Karikatur, 1904.Freud, X. 16
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