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310 Zur Selbstmord-Diskussion
erbittlichkeit des Lebens für sich in Anspruch nehmen, darf nicht
mehr sein wollen als ein Lebensspiel.Schlußwort
Meine Herren, ich habe den Eindruck, daß wir trotz all des
wertvollen Materials, das hier vorgebracht wurde, zu einer Ent-
scheidung über das uns interessierende Problem nicht gelangt sind.
Wir wollten vor allem wissen, wie es möglich wird, den so außer-
ordentlich starken Lebenstrieb zu überwinden, ob dies nur mit
Hilfe der enttäuschten Libido gelingen kann, oder ob es einen
Verzicht des Ichs auf seine Behauptung aus eigenen Ichmotiven
gibt. Die Beantwortung dieser psychologischen Frage konnte uns
vielleicht darum nicht gelingen, weil wir keinen guten Zugang
zu ihr haben. Ich meine, man kann hier nur von dem klinisch
bekannten Zustand der Melancholie und von deren Vergleich mit
dem Affekt der Trauer ausgehen. Nun sind uns aber die Affekt-
vorgänge bei der Melancholie, die Schicksale der Libido in diesem
Zustande, völlig unbekannt, und auch der Daueraffekt des Trauerns
ist psychoanalytisch noch nicht verständlich gemacht worden. Ver-
zögern wir also unser .Urteil, bis die Erfahrung diese Aufgabe
gelöst hat.EINLEITUNG
zu ZUR PSYCHOANALYSE DER KRIEGSNEUROSEN.
Diskussion auf dem V. Internationalen Psyhoanalytischen Kongreß
in Budapest, 28. und 20. September 1918. Beiträge von Freud,
Ferenczi, Abraham, Simmel, Jones. Internationaler Psydioanaly-
tischer Verlag, Wien.
(1918)
Das Büchlein über die Kriegsneurosen, mit dem der Verlag die
„Internationale Psychoanalytische Bibliothek" eröffnet, behandeltein Thema, welches bis vor kurzem den Vorzug der höchsten
Aktualität. genof. Als dasselbe auf dem V. PsychoanalytischenS.
Einleitungen 311
Kongreß zu Budapest (September 1918) zur Diskussion gestellt
wurde, fanden sich offizielle Vertreter von den leitenden Stellen
der Mittelmächte ein, um von den Vorträgen und Verhandlungen
Kenntnis zu nehmen, und das hoffnungsvolle Ergebnis dieses ersten
Zusammentreffens war die Zusage, psychoanalytische Stationen zu
errichten, in denen analytisch geschulte Arzte Mittel und Muße
finden sollten, um die Natur dieser rätselvollen Erkrankungen und
ihre therapeutische Beeinflussung durch Psychoanalyse zu studieren.
Ehe noch diese Vorsätze ausgeführt werden konnten, kam das
Kriegsende; die staatlichen Organisationen brachen zusammen, das
Interesse für die Kriegsneurosen räumte anderen Sorgen den Platz;
bezeichnenderweise verschwanden aber auch mit dem Aufhören
der Bedingungen des Krieges die meisten der durch den Krieg
hervorgerufenen neurotischen Erkrankungen. Die Gelegenheit zu
einer gründlichen Erforschung dieser Affektionen war nun leider
versäumt. Man muß hinzufügen: sie wird hoffentlich nicht so bald
wiederkommen.Diese nun abgeschlossene Episode ist aber fiir die Verbreitung
der Psychoanalyse nicht bedeutungslos gewesen. Während der
Beschäftigung mit den Kriegsneurosen, die ihnen durch die Anfor-
derungen des Heeresdienstes auferlegt wurde, sind auch solche
Arzte psychoanalytischen Lehren näher gekommen, die sich bisher
von ihnen ferngehalten hatten. Aus dem Referat von Ferenczi
kann der Leser entnehmen, unter welchen Zógerungen und Ver-
hillungen sich diese Annäherung vollzogen hat. Einige der
Momente, welche die Psychoanalyse bei den Neurosen der Friedens-
zeit långst erkannt und beschrieben hatte, die psychogene Herkunft
der Symptome, die Bedeutung der unbewuften Trieb-
regungen, die Rolle des primåren Krankheitsgewinnes bei der
Erledigung seelischer Konflikte („Flucht in die Krankheit“), wurden
so auch bei den Kriegsneurosen festgestellt und fast allgemein
angenommen, Die Arbeiten von E. Simmel zeigten auch, welcher
Erfolg zu erzielen ist, wenn man die Kriegsneurotiker mit Hilfe
der kathartischen Technik behandelt, die bekanntlich die Vorstufe
der psychoanalytischen Technik gewesen ist.Der so begonnenen Annäherung an die Psychoanalyse braucht
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man aber den Wert einer Versöhnung oder Abgleichung des
Gegensatzes zu ihr nicht zuzugestehen. Wenn jemand, der bisher
von einer Summe miteinander zusammenhängender Behauptungen
nichts gehalten hat, plötzlich in die Lage kommt, sich von der
Richtigkeit eines Anteiles dieses Ganzen zu überzeugen, so sollte
man meinen, er würde jetzt überhaupt in seiner Ablehnung
schwankend werden und eine gewisse respektvolle Erwartung zu-
lassen, daß auch der andere Teil, über den er noch keine eigene
Erfahrung und demnach kein eigenes Urteil besitzt, sich als rich-
tig heravsstellen kønne.Dieser andere, vom Studium der Kriegsneurosen nicht beriihrte
Anteil der psychoanalytischen Lehre geht dahin, daß es sexuelle
Triebkráfte sind, welche sich in der Symptombildung zum Aus-
druck bringen, und daß die Neurose aus dem Konflikt zwischen
dem Ich und den von ihm verstoBenen Sexualtrieben hervorgeht.
„Sexualität“ ist dabei in dem erweiterten, in der Psychoanalyse
gebråuchlichen Sinne zu verstehen, und nicht mit dem engeren
Begriff der ,,Genitalität“ zu verwechseln. Es ist nun ganz richtig,
wie es E. Jones in seinem Beitrag darlegt, daß dieser Teil der
Theorie an den Kriegsneurosen bisher nicht erwiesen ist. Die
Arbeiten, die das erweisen könnten, sind noch nicht angestellt
worden. Vielleicht sind die Kriegsneurosen ein fiir diesen Nachweis
überhaupt ungeeignetes Material. Aber die Gegner der Psycho-
analyse, bei denen sich die Abneigung gegen die Sexualität stärker
gezeigt hat als die Logik, haben sich zu verkünden geeilt, daß
die Untersuchung der Kriegsneurosen dieses Stiick der psycho-
analytischen Theorie endgiltig widerlegt habe. Sie haben sich
dabei einer kleinen Vertauschung schuldig gemacht. Wenn die
— noch sehr wenig eingehende — Untersuchung der Kriegs-
neurosen nicht erkennen läßt, daß die Sexualtheorie der
Neurosen richtig ist, so ist das etwas ganz anderes, als wenn
sie erkennen ließe, daß diese Theorie nicht richtig ist.Bei unparteiischer Einstellung und ‚einigem guten Willen fiele
es nicht schwer, den Weg zu finden, der zur weiteren Klärungführt.
Die Kriegsneurosen sind, soweit sie sich durch besondere Eigen-S.
Einleitungen 313
heiten von den banalen Neurosen der Friedenszeit unterscheiden,
aufzufassen als traumatische Neurosen, die durch einen Ichkonflikt
ermöglicht oder begünstigt worden sind. Gute Hinweise auf diesen
Ichkonflikt bringt der Beitrag von Abraham; auch die eng-
lischen und amerikanischen Autoren, die Jones zitiert, haben
ihn erkannt. Er spielt sich zwischen dem alten friedlichen und
dem neuen kriegerischen Ich des Soldaten ab, und wird akut,
sobald dem Friedens-Ich vor Augen gerückt wird, wie sehr es
Gefahr läuft, durch die Wagnisse seines neugebildeten parasitischen
Doppelgångers ums Leben gebracht zu werden. Man kann ebenso-
wohl sagen, das alte Ich schiitze sich durch die Flucht in die
traumatische Neurose gegen die Lebensgefahr, wie es erwehre sich
des neuen Ichs, das es als bedrohlich fiir sein Leben erkennt.
Das Volksheer wire also die Bedingung, der Nährboden der
Kriegsneurosen; bei Berufssoldaten, in einer Sóldnerschar, wire
-ihnen die Möglichkeit des Auftretens entzogen.Das andere an den Kriegsneurosen ist die traumatische Neurose,
die bekanntlich auch im Frieden nach Schreck und schweren
Unfällen vorkommt, ohne jede Beziehung zu einem Konflikt
im Ich.Die Lehre von der sexuellen Atiologie der Neurosen, oder wie
wir lieber sagen: die Libidotheorie der Neurosen ist urspriinglich
nur für die Ubertragungsneurosen des friedlichen Lebens auf-
gestellt worden und bei ihnen durch Anwendung der analytischen
Technik leicht zu erweisen. Aber ihre Anwendung auf jene anderen
Affektionen, die wir später als die Gruppe der narzifitischen Neu-
rosen zusammengefaßt haben, stößt bereits auf Schwierigkeiten.
Eine gewöhnliche Dementia praecox, eine Paranoia, eine Melan-
cholie sind zum Erweis der Libidotheorie und zur Einführung in
ihr Verstindnis im Grunde recht ungeeignetes Material, weshalb
auch die Psychiater, welche die Ubertragungsneurosen vernach-
låssigen, sich mit ihr nicht befreunden können. Als die in dieser
Hinsicht refraktärste galt immer die traumatische Neurose (der
Friedenszeit), so daß das Auftauchen der Kriegsneurosen kein
neues Moment in die vorliegende Situation eintragen konnte.Erst durch die Aufstellung und Handhabung des Begriffs einer
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„narzißtischen Libido“, d. h. eines Mafles von sexueller Energie,
welches am Ich selbst hängt und sich an diesem ersáttigt, wie
sonst nur am Objekt, ist es gelungen, die Libidotheorie auch auf
die narzifitischen Neurosen auszudehnen, und diese durchaus
legitime Fortentwicklung des Begriffes der Sexualität verspricht
für diese schweren Neurosen und für die Psychosen all das zu
leisten, was man von einer sich empirisch vorwirtstastenden
Theorie erwarten kann. Auch die traumatische Neurose (des
Friedens) wird sich in diesen Zusammenhang einfügen, wenn erst
die Untersuchungen über die unzweifelhaft bestehenden Bezie-
hungen zwischen Schreck, Angst und narzißtischer Libido zu einem
Ergebnis gelangt sind.Wenn die traumatischen und die Kriegsneurosen überlaut vom
Einfluß der Lebensgefahr reden und gar nicht oder nicht deutlich
genug von dem der „Liebesversagung“, so entfällt dafür bei den
gewöhnlichen Übertragungsneurosen der Friedenszeit jeder átio-
logische Anspruch des ersteren, dort so mächtig auftretenden
Moments, Meint man doch sogar, daß diese letzteren Leiden durch
Verwöhnung, Wohlleben und Untätigkeit nur gefördert werden,
was wiederum einen interessanten Gegensatz zu den Lebensbedin-
gungen ergibt, unter denen die Kriegsneurosen ausbrechen. Nach
dem Vorbild ihrer Gegner hätten die Psychoanalytiker, die ihre
Patienten an der „Liebesversagung“, an den unbefriedigenden
Ansprüchen der Libido erkrankt” finden, behaupten müssen, daß
es keine Gefahrneurose geben könne, oder daß die nach Schreck
auftretenden Affektionen keine Neurosen sind. Dies ist ihnen
natürlich niemals cingefallen. Vielmehr sehen sie eine bequeme
Möglichkeit, die beiden scheinbar auseinanderstrebenden Tatsachen
in einer Auffassung zu vereinigen, In den traumatischen und
Kriegsneurosen wehrt sich das Ich des Menschen gegen eine Ge-
fahr, die ihm von außen droht, oder die ihm durch eine Ich-
gestaltung selbst verkörpert wird; bei den friedlichen Uber-
tragungsneurosen wertet das Ich seine Libido selbst als den Feind,
dessen Ansprüche ihm bedrohlich scheinen. Beide Male Furcht
des Ichs vor seiner Schädigung: hier durch die Libido, dort durch
die äußeren Gewalten. Ja man könnte sagen, bei den KriegsneurosenS.
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sei das Gefürchtete, zum Unterschied von der reinen trauma-
tischen Neurose und in Annäherung an die Übertragungsneurosen,
doch ein innerer Feind. Die theoretischen Schwierigkeiten, die
einer solchen einigenden. Auffassung im Wege stehen, scheinen nicht
unüberwindlich; man kann doch die Verdrängung, die jeder
Neurose zugrunde liegt, mit Fug und Recht als Reaktion auf ein
Trauma, als elementare traumatische Neurose bezeichnen.GELEITWORT
zu DIE PSYCHOANALYTISCHE METHODE, eine erfahrungs-
wissenschafilidi-systematische Darstellung von Dr. OSKAR PFISTER,
Pfarrer in Zürich, Julius Klinkhardt Verlag, Leipzig.(1913)
Die Psychoanalyse ist auf medizinischem Boden entstanden als
ein Heilverfahren zur Behandlung gewisser nerv⑧ser Erkrankungen,
die man „funktionelle“ geheifen hat, und in denen man mit
stetig wachsender Sicherheit Erfolge von Stórungen des Affekt-
lebens erkannte. Sie erreicht ihre Absicht, die Aufterungen solcher
Stórungen, die Symptome, aufzuheben, indem sie voraussetzt, die-
selben seien nicht die einzig möglichen und endgültigen Ausgänge
gewisser psychischer Prozesse, darum die Entwicklungsgeschichte
dieser Symptome in der Erinnerung aufdeckt, die ihnen zugrunde
liegenden. Prozesse auffrischt und sie nun unter ärztlicher Leitung
einem günstigeren Ausgang zuführt. Die Psychoanalyse hat sich
dieselben therapeutischen Ziele gesetzt wie die hypnotische Behand-
lung, die sich, von Liébault und Bernheim eingeführt,
nach langen und schweren Kimpfen einen Platz in der nerven-
ärztlichen Technik erworben hatte. Aber sie geht weit tiefer auf
die Struktur des seelischen Mechanismus ein und sucht dauernde
Beeinflussungen und haltbare Veränderungen ihrer Objekte zu
erreichen.Die hypnotische Suggestionsbehandlung hat seinerzeit sehr bald
das ärztliche Anwendungsgebiet überschritten und sich in den
Dienst der Erziehung jugendlicher Personen gestellt. Wenn wir
den Berichten Glauben schenken dürfen, hat sie sich als wirksames
freud-1931-neurosenlehre
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