Die Handhabung der Traumdeutung in der Psychoanalyse 1911-004/1931
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    ZUR TECHNIK DER
    PSYCHOANALYSE

    DIE HANDHABUNG
    DER TRAUMDEUTUNG IN DER
    PSYCHOANALYSE

    (1912)

    Das „Zentralblatt für Psychoanalyse“ hat sich nicht nur
    die eine Aufgabe gesetzt, über die Fortschritte der Psycho-
    analyse zu orientieren und selbst kleinere Beiträge zur Ver-
    öffentlichung zu bringen, sondern möchte auch den anderen
    Aufgaben genügen, das bereits Erkannte in klarer Fassung
    dem Lernenden vorzulegen und dem Anfänger in der analy-
    tischen Behandlung durch geeignete Anweisungen Aufwand
    an Zeit und Mühe zu ersparen. Es werden darum in dieser
    Zeitschrift von nun an auch Aufsätze didaktischer Natur
    und technischen Inhaltes erscheinen, an denen es nicht
    wesentlich ist, ob sie auch etwas Neues mitteilen.

    Die Frage, die ich heute zu behandeln gedenke, ist nicht
    die nach der Technik der Traumdeutung. Es soll nicht er-
    örtert werden, wie man Träume zu deuten und deren Deutung
    zu verwerten habe, sondern nur, welchen Gebrauch man bei
    der psychoanalytischen Behandlung von Kranken von der
    Kunst der Traumdeutung machen solle. Man kann dabei
    gewiß in verschiedener Weise vorgehen, aber die Antwort
    auf technische Fragen ist in der Psychoanalyse niemals selbstverständlich. 

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    Wenn es vielleicht mehr als nur einen guten
    Weg gibt, so gibt es doch sehr viele schlechte, und eine Ver-
    gleichung verschiedener Techniken kann nur aufklärend
    wirken, auch wenn sie nicht zur Entscheidung für eine be-
    stimmte Methode führen sollte.

    Wer von der Traumdeutung her zur analytischen Be-
    handlung kommt, der wird sein Interesse für den Inhalt der
    Träume festhalten und darum jeden Traum, den ihm der
    Kranke erzählt, zur möglichst vollständigen Deutung bringen
    wollen. Er wird aber bald merken können, daß er sich nun
    unter ganz andersartigen Verhältnissen befindet, und daß er
    mit den nächsten Aufgaben der Therapie in Kollision gerät,
    wenn er seinen Vorsatz durchführen will. Erwies sich etwa
    der erste Traum des Patienten als vortrefflich brauchbar für
    die Anknüpfung der ersten an den Kranken zu richtenden
    Aufklärungen, so stellen sich alsbald Träume ein, die so
    lang und so dunkel sind, daß ihre Deutung in der begrenzten
    Arbeitsstunde eines Tages nicht zu Ende gebracht werden
    kann. Setzt der Arzt diese Deutungsarbeit durch die nächsten
    Tage fort, so wird ihm unterdes von neuen Träumen be-
    richtet, die zurückgestellt werden müssen, bis er den ersten
    Traum für erledigt halten kann. Gelegentlich ist die Traum-
    produktion so reichlich und der Fortschritt des Kranken im
    Verständnis der Träume dabei so zögernd, daß der Analytiker
    sich der Idee nicht erwehren kann, diese Art der Darreichung
    des Materials sei nur eine Äußerung des Widerstandes,
    welcher sich der Erfahrung bedient, daß die Kur den ihr so
    gebotenen Stoff nicht bewältigen kann. Unterdes ist die Kur
    aber ein ganzes Stück hinter der Gegenwart zurückgeblieben
    und hat den Kontakt mit der Aktualität eingebüßt. Einer
    solchen Technik muß man die Regel entgegenhalten, daß es
    für die Behandlung von größter Bedeutung ist, die jeweilige
    psychische Oberfläche des Kranken zu kennen, darüber 

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    orientiert zu sein, welche Komplexe und welche Widerstände
    derzeit bei ihm rege gemacht sind, und welche bewußte
    Reaktion dagegen sein Benehmen leiten wird. Dieses thera-
    peutische Ziel darf kaum jemals zu Gunsten des Interesses an
    der Traumdeutung hintangesetzt werden.

    Wie soll man es also mit der Traumdeutung in der Analyse
    halten, wenn man jener Regel eingedenk bleiben will? Etwa
    so: Man begnüge sich jedesmal mit dem Ergebnis an Deutung,
    welches in einer Stunde zu gewinnen ist, und halte es nicht
    für einen Verlust, daß man den Inhalt des Traumes nicht
    vollständig erkannt hat. Am nächsten Tage setze man die
    Deutungsarbeit nicht wie selbstverständlich fort, sondern erst
    dann, wenn man merkt, daß inzwischen nichts anderes sich
    beim Kranken in den Vordergrund gedrängt hat. Man mache
    also von der Regel, immer das zu nehmen, was dem Kranken
    zunächst in den Sinn kommt, zu Gunsten einer unter-
    brochenen Traumdeutung keine Ausnahme. Haben sich neue
    Träume eingestellt, ehe man die früheren zu Ende gebracht,
    so wende man sich diesen rezenteren Produktionen zu und
    mache sich aus der Vernachlässigung der älteren keinen
    Vorwurf. Sind die Träume gar zu umfänglich und weit-
    schweifig geworden, so verzichte man bei sich von vornherein
    auf eine vollständige Lösung. Man hüte sich im allgemeinen
    davor, ein ganz besonderes Interesse für die Deutung der
    Träume an den Tag zu legen oder im Kranken die Meinung
    zu erwecken, daß die Arbeit stille stehen müsse, wenn er
    keine Träume bringe. Man läuft sonst Gefahr, den Wider-
    stand auf die Traumproduktion zu lenken und ein Versiegen
    der Träume hervorzurufen. Der Analysierte muß vielmehr
    zur Überzeugung erzogen werden, daß die Analyse in jedem
    Falle Material zu ihrer Fortsetzung findet, gleichgültig ob
    er Träume beibringt oder nicht, und in welchem Ausmaße
    man sich mit ihnen beschäftigt.

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    Man wird nun fragen: Verzichtet man nicht auf zuviel
    wertvolles Material zur Aufdeckung des Unbewußten, wenn
    man die Traumdeutung nur unter solchen methodischen Ein-
    schränkungen ausübt? Darauf ist folgendes zu erwidern: Der
    Verlust ist keineswegs so groß, wie es bei geringer Vertiefung
    in den Sachverhalt erscheinen wird. Man mache sich einer-
    seits klar, daß irgend ausführliche Traumproduktionen bei
    schweren Fällen von Neurosen nach allen Voraussetzungen
    als prinzipiell nicht vollständig lösbar beurteilt werden
    müssen. Ein solcher Traum baut sich oft über dem gesamten
    pathogenen Material des Falles auf, welches Arzt und Patient
    noch nicht kennen (sogenannte Programmträume, biographi-
    sche Träume); er ist gelegentlich einer Übersetzung des ganzen
    Inhalts der Neurose in die Traumsprache gleichzustellen.
    Beim Versuch einen solchen Traum zu deuten, werden alle
    noch unangetastet vorhandenen Widerstände zur Wirkung
    kommen und der Einsicht bald eine Grenze setzen. Die voll-
    ständige Deutung eines solchen Traumes fällt eben zusammen
    mit der Ausführung der ganzen Analyse. Hat man ihn zu
    Beginn der Analyse notiert, so kann man ihn etwa am Ende
    derselben, nach vielen Monaten, verstehen. Es ist derselbe
    Fall wie beim Verständnis eines einzelnen Symptoms (des
    Hauptsymptoms etwa). Die ganze Analyse dient der Auf-
    klärung desselben; während der Behandlung muß man der
    Reihe nach bald dies bald jenes Stück der Symptom-
    bedeutung zu erfassen suchen, bis man all diese Stücke
    zusammensetzen kann. Mehr darf man also auch von einem
    zu Anfang der Analyse vorfallenden Traume nicht ver-
    langen; man muß sich zufrieden geben, wenn man aus dem
    Deutungsversuch zunächst eine einzelne pathogene Wunsch-
    regung errät.

    Man verzichtet also auf nichts Erreichbares, wenn man die
    Absicht einer vollständigen Traumdeutung aufgibt. Man verliert 

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    aber auch in der Regel nichts, wenn man die Deutung
    eines älteren Traumes abbricht, um sich einem rezenteren zu-
    zuwenden. Wir haben aus schönen Beispielen voll gedeuteter
    Träume erfahren, daß mehrere aufeinanderfolgende Szenen
    desselben Traumes den nämlichen Inhalt haben können, der
    sich in ihnen etwa mit steigender Deutlichkeit durchsetzt. Wir
    haben ebenso gelernt, daß mehrere in derselben Nacht vor-
    fallende Träume nichts anderes zu sein brauchen als Ver-
    suche, denselben Inhalt in verschiedener Ausdrucksweise dar-
    zustellen. Wir können ganz allgemein versichert sein, daß
    jede Wunschregung, die sich heute einen Traum schafft, in
    einem anderen Traume wiederkehren wird, solange sie nicht
    verstanden und der Herrschaft des Unbewußten entzogen
    ist. So wird auch oft der beste Weg, um die Deutung eines
    Traumes zu vervollständigen, darin bestehen, daß man ihn
    verläßt, um sich dem neuen Traume zu widmen, der das
    nämliche Material in vielleicht zugänglicherer Form wieder
    aufnimmt. Ich weiß, daß es nicht nur für den Analysierten,
    sondern auch für den Arzt eine starke Zumutung ist, die
    bewußten Zielvorstellungen bei der Behandlung aufzugeben
    und sich ganz einer Leitung zu überlassen, die uns doch
    immer wieder als „zufällig“ erscheint. Aber ich kann ver-
    sichern, es lohnt sich jedesmal, wenn man sich entschließt,
    seinen eigenen theoretischen Behauptungen Glauben zu
    schenken, und sich dazu überwindet, die Herstellung des
    Zusammenhanges der Führung des Unbewußten nicht streitig
    zu machen.

    Ich plädiere also dafür, daß die Traumdeutung in der
    analytischen Behandlung nicht als Kunst um ihrer selbst
    willen betrieben werden soll, sondern daß ihre Handhabung
    jenen technischen Regeln unterworfen werde, welche die
    Ausführung der Kur überhaupt beherrschen. Natürlich kann
    man es gelegentlich auch anders machen und seinem theoretischen 

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    Interesse ein Stück weit nachgehen. Man muß dabei
    aber immer wissen, was man tut. Ein anderer Fall ist noch
    in Betracht zu ziehen, der sich ergeben hat, seitdem wir zu
    unserem Verständnis der Traumsymbolik größeres Zutrauen
    haben und uns von den Einfällen der Patienten unabhängiger
    wissen. Ein besonders geschickter Traumdeuter kann sich
    etwa in der Lage befinden, daß er jeden Traum des Patienten
    durchschaut, ohne diesen zur mühsamen und zeitraubenden
    Bearbeitung des Traumes anhalten zu müssen. Für einen
    solchen Analytiker entfallen also alle Konflikte zwischen
    den Anforderungen der Traumdeutung und jenen der
    Therapie. Er wird sich auch versucht fühlen, die Traum-
    deutung jedesmal voll auszunützen und dem Patienten alles
    mitzuteilen, was er aus seinen Träumen erraten hat. Dabei
    hat er aber eine Methodik der Behandlung eingeschlagen, die
    von der regulären nicht unerheblich abweicht, wie ich in
    anderem Zusammenhange dartun werde. Dem Anfänger in
    der psychoanalytischen Behandlung ist jedenfalls zu wider-
    raten, daß er sich diesen außergewöhnlichen Fall zum Vor-
    bild nehme.

    Gegen die allerersten Träume, die ein Patient in der ana-
    lytischen Behandlung mitteilt, so lange er selbst noch nichts
    von der Technik der Traumübersetzung gelernt hat, verhält
    sich jeder Analytiker wie jener von uns angenommene über-
    legene Traumdeuter. Diese initialen Träume sind sozusagen
    naiv, sie verraten dem Zuhörer sehr viel, ähnlich wie die
    Träume sogenannt gesunder Menschen. Es entsteht nun die
    Frage, soll der Arzt auch sofort dem Kranken alles über-
    setzen, was er selbst aus dem Traume herausgelesen hat.
    Diese Frage soll aber hier nicht beantwortet werden, denn
    sie ist offenbar der umfassenderen Frage untergeordnet, in
    welchen Phasen der Behandlung und in welchem Tempo der
    Kranke in die Kenntnis des ihm seelisch Verhüllten vom 

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    Arzte eingeführt werden soll. Je mehr dann der Patient von
    der Übung der Traumdeutung erlernt hat, desto dunkler
    werden in der Regel seine späteren Träume. Alles erworbene
    Wissen um den Traum dient auch der Traumbildung als
    Warnung.

    In den „wissenschaftlichen“ Arbeiten über den Traum, die
    trotz der Ablehnung der Traumdeutung einen neuen Impuls
    durch die Psychoanalyse empfangen haben, findet man
    immer wieder eine recht überflüssige Sorgfalt auf die getreue
    Erhaltung des Traumtextes verlegt, der angeblich vor den
    Entstellungen und Usuren der nächsten Tagesstunden be-
    wahrt werden muß. Auch manche Psychoanalytiker scheinen
    sich ihrer Einsicht in die Bedingungen der Traumbildung
    nicht konsequent genug zu bedienen, wenn sie dem Behandel-
    ten den Auftrag geben, jeden Traum unmittelbar nach dem
    Erwachen schriftlich zu fixieren. Diese Maßregel ist in der
    Therapie überflüssig; auch bedienen sich die Kranken der
    Vorschrift gern, um sich im Schlafe zu stören und einen
    großen Eifer dort anzubringen, wo er nicht von Nutzen sein
    kann. Hat man nämlich auf solche Weise mühselig einen
    Traumtext gerettet, der sonst vom Vergessen verzehrt wor-
    den wäre, so kann man sich doch leicht überzeugen, daß für
    den Kranken damit nichts erreicht ist. Zu dem Text stellen
    sich die Einfälle nicht ein, und der Effekt ist der nämliche,
    als ob der Traum nicht erhalten geblieben wäre. Der Arzt
    hat allerdings in dem einen Falle etwas erfahren, was ihm
    im anderen entgangen wäre. Aber es ist nicht dasselbe, ob
    der Arzt oder ob der Patient etwas weiß; die Bedeutung
    dieses Unterschiedes für die Technik der Psychoanalyse soll
    ein anderes Mal von uns gewürdigt werden.

    Ich will endlich noch einen besonderen Typus von
    Träumen erwähnen, die ihren Bedingungen nach nur in einer
    psychoanalytischen Kur vorkommen können, und die den 

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    Anfänger befremden oder irreführen mögen. Es sind dies die
    sogenannten nachhinkenden oder bestätigenden Träume, die
    der Deutung leicht zugänglich sind und als Übersetzung
    nichts anderes ergeben, als was die Kur in den letzten Tagen
    aus dem Material der Tageseinfälle erschlossen hatte. Es
    sieht dann so aus, als hätte der Patient die Liebenswürdig-
    keit gehabt, gerade das in Traumform zu bringen, was man
    ihm unmittelbar vorher „suggeriert“ hat. Der geübtere
    Analytiker hat allerdings Schwierigkeiten, seinem Patienten
    solche Liebenswürdigkeiten zuzumuten; er greift solche
    Träume als erwünschte Bestätigungen auf und konstatiert,
    daß sie nur unter bestimmten Bedingungen der Beeinflussung
    durch die Kur beobachtet werden. Die weitaus zahlreichsten
    Träume eilen ja der Kur voran, so daß sich aus ihnen nach
    Abzug von allem bereits Bekannten und Verständlichen ein
    mehr oder minder deutlicher Hinweis auf etwas, was bisher
    verborgen war, ergibt.