Zur Dynamik der Übertragung 1912-001/1931
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    328 Zur Dynamik

    finger befremden oder irreführen mögen. Es sind dies die
    sogenannten nachhinkenden oder beståtigenden Träume, die
    der Deutung leicht zugänglich sind und als Übersetzung
    nichts anderes ergeben, als was die Kur in den letzten Tagen
    aus dem Material der Tageseinfille erschlossen hatte. Es
    sieht dann so aus, als hätte der Patient die Liebenswürdig-
    keit gehabt, gerade das in Traumform zu bringen, was man
    ihm unmittelbar vorher „suggeriert“ hat. Der geübtere
    Analytiker hat allerdings Schwierigkeiten, seinem Patienten
    solche Liebenswürdigkeiten zuzumuten; er greift solche
    Träume als erwiinschte Beståtigungen auf und konstatiert,
    daß sie nur unter bestimmten Bedingungen der Beeinflussung
    durch die Kur beobachtet werden. Die weitaus zahlreichsten
    Träume eilen ja der Kur voran, so daß sich aus ihnen nach
    Abzug von allem bereits Bekannten und Verståndlichen ein
    mehr oder minder deutlicher Hinweis auf etwas, was bisher

    verborgen war, ergibt.

    ZUR DYNAMIK DER UBERTRAGUNG
    (1912)

    Das schwer zu erschópfende Thema der „Übertragung“ ist
    kürzlich in diesem Zentralblatt von W. Stekel in deskrip-
    tiver Weise behandelt worden Ich möchte nun hier einige
    Bemerkungen anfiigen, die verstehen lassen sollen, wie die
    Ubertragung wåhrend einer psychoanalytischen Kur notwen-
    dig zustande kommt, und wie sie zu der bekannten Rolle
    wåhrend der Behandlung gelangt.

    Machen wir uns klar, daß jeder Mensch durch das Zusam-
    menwirken von mitgebrachter Anlage und von Einwirkungen
    auf ihn wåhrend seiner Kinderjahre eine bestimmte Eigenart

    1) „Zentralblatt f. Psychoanalyse“, II. Jg., S. 26.

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    der Ubertragung 329

    erworben hat, wie er das Liebesleben ausiibt, also welche
    Liebesbedingungen er stellt, welche Triebe er dabei befriedigt,
    und welche Ziele er sich setzt Das ergibt sozusagen ein
    Klischee (oder auch mehrere), welches im Laufe des Lebens
    regelmäßig wiederholt, neu abgedruckt wird, insoweit die
    äußeren Umstände und die Natur der zugänglichen Liebes-
    objekte es gestatten, welches gewiß auch gegen rezente Ein-
    drücke nicht völlig unveränderlich ist. Unsere Erfahrungen
    haben nun ergeben, daß von diesen das Liebesleben bestim-
    menden Regungen nur ein Anteil die volle psychische Ent-
    wicklung durchgemacht hat; dieser Anteil ist der Realität
    zugewendet, steht der bewußten Persönlichkeit zur Verfügung

    2) Verwahren wir uns an dieser Stelle gegen den mißverständ-
    lichen Vorwurf, als hätten wir die Bedeutung der angeborenen
    (konstitutionellen) Momente geleugnet, weil wir die der infantilen
    Eindrücke hervorgehoben haben. Ein solcher Vorwurf stammt
    aus der Enge des Kausalbedürfnisses der Menschen, welches sich
    im Gegensatz zur gewöhnlichen Gestaltung der Realität mit
    einem einzigen verursachenden Moment zufrieden geben will. Die
    Psychoanalyse hat über die akzidentellen Faktoren der Atiologie
    viel, über die konstitutionellen wenig geäußert, aber nur darum,
    weil sie zu den ersteren etwas Neues beibringen konnte, über die
    letzteren hingegen zunächst nicht mehr wußte, als man sonst
    weiß, Wir lehnen es ab, einen prinzipiellen Gegensatz zwischen
    beiden Reihen von ätiologischen Momenten zu statuieren; wir
    nehmen vielmehr ein regelmäßiges Zusammenwirken beider zur
    Hervorbringung des beobachteten Effekts an. Aotpwy vor Toy
    bestimmen das Schicksal eines Menschen; selten, vielleicht niemals,
    eine dieser Mächte allein. Die Aufteilung der ätiologischen Wirk-
    samkeit zwischen den beiden wird sich nur individuell und im
    einzelnen vollziehen lassen. Die Reihe, in welcher sich wechselnde
    Größen der beiden Faktoren zusammensetzen, wird gewiß auch
    ihre extremen Fälle haben. Je nach dem Stande unserer Erkennt-
    nis werden. wir den Anteil der Konstitution oder des Erlebens im
    Einzelfalle anders einschätzen und das Recht behalten, mit der
    Veränderung unserer Einsichten unser Urteil zu modifizieren.
    Übrigens könnte man es wagen, die Konstitution selbst aufzu-
    fassen als den Niederschlag aus den akzidentellen Einwirkungen
    auf die unendlich große Reihe der Ahnen,

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    330 Zur Dynamik

    und macht ein Stück von ihr aus. Ein anderer Teil dieser
    libidinésen Regungen ist in der Entwicklung aufgehalten
    worden, er ist von der bewußten Persönlichkeit wie von der
    Realität abgehalten, durfte sich entweder nur in der Phantasie
    ausbreiten oder ist gänzlich im Unbewußten verblieben, so
    daß er dem Bewußtsein der Persönlichkeit unbekannt ist.
    Wessen Liebesbedürftigkeit nun von der Realität nicht restlos
    befriedigt wird, der muß sich mit libidinösen Erwartungs-
    vorstellungen jeder neu auftretenden Person zuwenden, und
    es ist durchaus wahrscheinlich, daß beide Portionen seiner
    Libido, die bewußtseinsfähige wie die unbewußte an dieser
    Einstellung Anteil haben.

    Es ist also völlig normal und verständlich, wenn die er-
    wartungsvoll bereitgehaltene Libidobesetzung des teilweise Un-
    befriedigten sich auch der Person des Arztes zuwendet.
    Unserer Voraussetzung gemäß, wird sich diese Besetzung an
    Vorbilder halten, an eines der Klischees anknüpfen, die
    bei der betreffenden Person vorhanden sind oder, wie wir
    auch sagen können, sie wird den Arzt in eine der psychischen
    „Reihen“ einfügen, die der Leidende bisher gebildet hat. Es
    entspricht den realen Beziehungen zum Arzte, wenn für diese
    Einreihung die Vater-Imago (nach Jungs glücklichem Aus-
    druck)® maßgebend wird. Aber die Übertragung ist an dieses
    Vorbild nicht gebunden, sie kann auch nach der Mutter- oder
    Bruder-Imago usw. erfolgen. Die Besonderheiten der Über-
    tragung auf den Arzt, durch welche sie über Maß und Art
    dessen hinausgeht, was sich nüchtern und rationell recht-
    fertigen läßt, werden durch die Erwägung verständlich, daß
    eben nicht nur die bewußten Erwartungsvorstellungen, son-
    dern auch die zurückgehaltenen oder unbewußten diese Über-
    tragung hergestellt haben.

    3) Wandlungen und Symbole der Libido. Jahrbuch für Psycho-
    analyse, III, S. 164.

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    der Übertragung 331

    Uber dieses Verhalten der Übertragung wäre weiter nichts
    zu sagen oder zu griibeln, wenn nicht dabei zwei Punkte
    unerklärt blieben, die fiir den Psychoanalytiker von beson-
    derem Interesse sind. Erstens verstehen wir nicht, daß die
    Ubertragung bei neurotischen Personen in der Analyse soviel
    intensiver ausfällt als bei anderen, nicht analysierten, und
    zweitens bleibt es råtselhaft, weshalb uns bei der Analyse die
    Ubertragung als der stårkste Widerstand gegen die
    Behandlung entgegentritt, während wir sie außerhalb der
    Analyse als Trågerin der Heilwirkung, als Bedingung des
    guten Erfolges anerkennen miissen. Es ist doch eine beliebig
    oft zu beståtigende Erfahrung, daß, wenn die freien Assozia-
    tionen eines Patienten versagen‘, jedesmal die Stockung be-
    seitigt werden kann durch die Versicherung, er stehe jetzt
    unter der Herrschaft eines Einfalles, der sich mit der Person
    des Arztes oder mit etwas zu ihm Gehôrigen beschäftigt.
    Sobald man diese Aufklirung gegeben hat, ist die Stockung
    beseitigt, oder man hat die Situation des Versagens in die des
    Verschweigens der Einfille verwandelt.

    Es scheint auf den ersten Blick ein riesiger methodischer
    Nachteil der Psychoanalyse zu sein, daß sich in ihr die Uber-
    tragung, sonst der michtigste Hebel des Erfolgs, in das
    stärkste Mittel des Widerstandes verwandelt. Bei näherem
    Zusehen wird aber wenigstens das erste der beiden Probleme
    weggeräumt, Es ist nicht richtig, daß die Übertragung wäh-
    rend der Psychoanalyse intensiver und ungezügelter auftritt
    als außerhalb derselben. Man beobachtet in Anstalten, in
    denen Nervöse nicht analytisch behandelt werden, die höch-
    sten Intensitäten und die unwürdigsten Formen einer bis zur
    Hörigkeit gehenden Übertragung, auch die unzweideutigste

    4) Ich meine, wenn sie wirklich ausbleiben, und nicht etwa

    infolge eines banalen Unlustgefühles von ihm verschwiegen
    werden.

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    332 Zur Dynamik

    erotische Färbung derselben. Eine feinsinnige Beobachterin wie
    die Gabriele Reuter hat dies zur Zeit, als es noch kaum
    eine Psychoanalyse gab, in einem merkwürdigen Buche ge-
    schildert, welches überhaupt die besten Einsichten in das
    Wesen und die Entstehung der Neurosen verrät.” Diese Cha-
    raktere der Übertragung sind also nicht auf Rechnung der
    Psychoanalyse zu setzen, sondern der Neurose selbst zuzu-
    schreiben. Das zweite Problem bleibt vorläufig unangetastet.

    Diesem Problem, der Frage, warum die Übertragung uns
    in der Psychoanalyse als Widerstand entgegentritt, müssen
    wir nun näher rücken. Vergegenwärtigen wir uns die psycho-
    logische Situation der Behandlung: Eine regelmäßige und
    unentbehrliche Vorbedingung jeder Erkrankung an einer
    Psychoneurose ist der Vorgang, den Jung treffend als
    Introversion der Libido bezeichnet hat." Das heißt: Der
    Anteil der bewußtseinsfähigen, der Realität zugewendeten
    Libido wird verringert, der Anteil der von der Realität ab-
    gewendeten, unbewußten, welche etwa noch die Phantasien
    der Person speisen darf, aber dem Unbewußten angehört, um
    so viel vermehrt. Die Libido hat sich (ganz oder teilweise)
    in die Regression begeben und die infantilen Imagines wieder-
    belebt.” Dorthin folgt ihr nun die analytische Kur nach,

    5) Aus guter Familie, 1895.

    6) Wenngleich manche Außerungen Jungs den Eindruck
    machen, als sehe er in dieser Introversion etwas für die Dementia
    praecox Charakteristisches, was bei anderen Neurosen nicht
    ebenso in Betracht Кате,

    7) Es wäre bequem zu sagen: Sie hat die infantilen „Komplexe“
    wieder besetzt. Aber das wäre unrichtig; einzig zu rechtfertigen
    wäre die Aussage: Die unbewußten Anteile dieser Komplexe. —
    Die außerordentliche Verschlungenheit des in dieser Arbeit be-
    handelten Themas legt die Versuchung nahe, auf eine Anzahl von
    anstoßenden Problemen einzugehen, deren Klärung eigentlich er-
    forderlich wäre, ehe man von den hier zu beschreibenden psychi-
    schen Vorgängen in unzweideutigen Worten reden könnte. Solche
    Probleme sind: Die Abgrenzung der Introversion und der Re-

  • S.

    der Ubertragung 333

    welche die Libido aufsuchen, wieder dem Bewußtsein zugäng-
    lich und endlich der Realität dienstbar machen will. Wo die
    analytische Forschung auf die in ihre Verstecke zurückge-
    zogene Libido stößt, muß ein Kampf ausbrechen; alle die
    Krifte, welche die Regression der Libido verursacht haben,
    werden sich als „Widerstände“ gegen die Arbeit erheben, um
    diesen neuen Zustand zu konservieren. Wenn nämlich die
    Introversion oder Regression der Libido nicht durch eine be-
    stimmte Relation zur Außenwelt (im allgemeinsten: durch die
    Versagung der Befriedigung) berechtigt und selbst fiir den
    Augenblick zweckmäßig gewesen wäre, hätte sie überhaupt
    nicht zustande kommen können. Die Widerstände dieser Her-
    kunft sind aber nicht die einzigen, nicht einmal die stärksten.
    Die der Persönlichkeit verfügbare Libido hatte immer unter
    der Anziehung der unbewußten Komplexe (richtiger der dem
    Unbewußten angehörenden Anteile dieser Komplexe) gestan-
    den und war in die Regression geraten, weil die Anziehung
    der Realität nachgelassen hatte. Um sie frei zu machen, muß
    nun diese Anziehung des Unbewußten überwunden, also die
    seither in dem Individuum konstituierte Verdrängung der un-
    bewußten Triebe und ihrer Produktionen aufgehoben werden.
    Dies ergibt den bei weitem großartigeren Anteil des Wider-
    standes, der ja so häufig die Krankheit fortbestehen läßt, auch
    wenn die Abwendung von der Realität die zeitweilige Begrün-
    dung wieder verloren hat. Mit den Widerständen aus beiden
    Quellen hat die Analyse zu kämpfen. Der Widerstand be-
    gleitet die Behandlung auf jedem Schritt; jeder einzelne Ein-
    fall, jeder Akt des Behandelten muß dem Widerstande Rech-

    gression gegeneinander, die Einfügung der Komplexlehre in die
    Libidotheorie, die Beziehungen des Phantasierens zum Bewufiten
    und Unbewuften wie zur Realitåt u. a. Es bedarf keiner Entschul-

    digung, wenn ich an dieser Stelle diesen Versuchungen widerstan-
    den habe.

  • S.

    334 Zur Dynamik

    nung tragen, stellt sich als ein Kompromif aus den zur Ge-
    nesung zielenden Kräften und den angeführten, ihr wider-
    strebenden, dar.

    Verfolgt man nun einen pathogenen Komplex von seiner
    (entweder als Symptom auffilligen oder auch ganz unschein-
    baren) Vertretung im Bewuften gegen seine Wurzel im Un-
    bewuften hin, so wird man bald in eine Region kommen, wo
    der Widerstand sich so deutlich geltend macht, daß der
    nächste Einfall ihm Rechnung tragen und als Kompromiß
    zwischen seinen Anforderungen und denen der Forschungs-
    arbeit erscheinen muß. Hier tritt nun nach dem Zeugnisse der
    Erfahrung die Übertragung ein. Wenn irgend etwas aus dem
    Komplexstoff (dem Inhalt des Komplexes) sich dazu eignet,
    auf die Person des Arztes übertragen zu werden, so stellt sich
    diese Übertragung her, ergibt den nächsten Einfall und kündigt
    sich durch die Anzeichen eines Widerstandes, etwa durch eine
    Stockung, an. Wir schließen aus dieser Erfahrung, daß diese
    Übertragungsidee darum vor allen anderen Einfallsmöglich-
    keiten zum Bewußtsein durchgedrungen ist, weil sie auch
    dem Widerstande Genüge tut. Ein solcher Vorgang wiederholt
    sich im Verlaufe einer Analyse ungezählte Male. Immer wie-
    der wird, wenn man sich einem pathogenen Komplexe an-
    nähert, zuerst der zur Übertragung befähigte Anteil des Kom-
    plexes ins Bewußtsein vorgeschoben und mit der größten
    Hartnäckigkeit verteidigt.®

    Nach seiner Überwindung macht die der anderen Komplex-

    8) Woraus man aber nicht allgemein auf eine besondere patho-
    gene Bedeutsamkeit des zum Übertragungswiderstand gewählten
    Elementes schließen darf. Wenn in einer Schlacht um den Besitz
    eines gewissen Kirchleins oder eines einzelnen Gehöfts mit beson-
    derer Erbitterung gestritten wird, braucht man nicht anzunehmen,
    daß die Kirche etwa ein Nationalheiligtum sei, oder daß das Haus
    den Armeeschatz berge. Der Wert der Objekte kann ein bloß tak-
    tischer sein, vielleicht nur in dieser einen Schlacht zur Geltung
    kommen.

  • S.

    der Ubertragung 335

    bestandteile wenig Schwierigkeiten mehr. Je linger eine ana-
    lytische Kur dauert, und je deutlicher der Kranke erkannt
    hat, daß Entstellungen des pathogenen Materials allein keinen
    Schutz gegen die Aufdeckung bieten, desto konsequenter be-
    dient er sich der einen Art von Entstellung, die ihm offenbar
    die größten Vorteile bringt, der Entstellung durch Uber-
    tragung. Diese Verhältnisse nehmen die Richtung nach einer
    Situation, in welcher schließlich alle Konflikte auf dem Ge-
    biete der Ubertragung ausgefochten werden miissen.

    So erscheint uns die Übertragung in der analytischen Kur
    zunåchst immer nur als die stårkste Waffe des Widerstandes,
    und wir dürfen den Schluß ziehen, daß die Intensität und
    Ausdauer der Ubertragung eine Wirkung und ein Ausdruck
    des Widerstandes seien. Der Mechanismus der Ubertragung
    ist zwar durch ihre Zurückführung auf die Bereitschaft der
    Libido erledigt, die im Besitze infantiler Imagines geblieben
    ist; die Aufklårung ihrer Rolle in der Kur gelingt aber nur,
    wenn man auf ihre Beziehungen zum Widerstande eingeht.

    Woher kommt es, daß sich die Übertragung so vorzüglich
    zum Mittel des Widerstandes eignet? Man sollte meinen, diese
    Antwort wäre nicht schwer zu geben. Es ist ja klar, daß das
    Geständnis einer jeden verpönten Wunschregung besonders
    erschwert wird, wenn es vor jener Person abgelegt werden
    soll, der die Regung selbst gilt. Diese Nötigung ergibt Situa-
    tionen, die in der Wirklichkeit als kaum durchführbar er-
    scheinen. Gerade das will nun der Analysierte erzielen, wenn
    er das Objekt seiner Gefühlsregungen mit dem Arzte zusam-
    menfallen läßt. Eine nähere Überlegung zeigt aber, daß dieser
    scheinbare Gewinn nicht die Lösung des Problems ergeben
    kann. Eine Beziehung von zärtlicher, hingebungsvoller An-
    hänglichkeit kann ja anderseits über alle Schwierigkeiten des
    Geständnisses hinweghelfen. Man pflegt ja unter analogen
    realen Verhältnissen zu sagen: Vor dir schäme ich mich nicht,

  • S.

    336 Zur Dynamik

    dir kann ich alles sagen. Die Ubertragung auf den Arzt
    könnte also ebensowohl zur Erleichterung des Geståndnisses
    dienen, und man verstiinde nicht, warum sie eine Erschwerung
    hervorruft.

    Die Antwort auf diese hier wiederholt gestellte Frage wird
    nicht durch weitere Uberlegung gewonnen, sondern durch die
    Erfahrung gegeben, die man bei der Untersuchung der einzel-
    nen Ubertragungswiderstånde in der Kur macht. Man merkt
    endlich, daß man die Verwendung der Übertragung zum
    Widerstande nicht verstehen kann, solange man an ,,Ubertra-
    gung“ schlechtweg denkt. Man muß sich entschließen, eine
    „positive“ Übertragung von einer „negativen“ zu sondern, die
    Übertragung zårtlicher Gefühle von der feindseliger, und
    beide Arten der Ubertragung auf den Arzt gesondert zu be-
    handeln. Die positive Ubertragung zerlegt sich dann noch in
    die solcher freundlicher oder zårtlicher Gefiihle, welche be-
    wuftseinsfåhig sind, und in die ihrer Fortsetzungen ins Un-
    bewufite. Von den letzteren weist die Analyse nach, daß sie
    regelmäßig auf erotische Quellen zurückgehen, so daß wir zur
    Einsicht gelangen müssen, alle unsere im Leben verwertbaren
    Gefühlsbeziehungen von Sympathie, Freundschaft, Zutrauen
    und dergleichen seien genetisch mit der Sexualität verknüpft
    und haben sich durch Abschwächung des Sexualzieles aus rein
    sexuellen Begehrungen entwickelt, so rein und unsinnlich sie
    sich auch unserer bewußten Selbtwahrnehmung darstellen
    mögen. Ursprünglich haben wir nur Sexualobjekte gekannt;
    die Psychoanalyse zeigt uns, daß die bloß geschätzten oder
    verehrten Personen unserer Realität für das Unbewußte in uns
    immer noch Sexualobjekte sein können.

    Die Lösung des Rätsels ist also, daß die Übertragung auf
    den Arzt sich nur insofern zum Widerstande in der Kur
    eignet, als sie negative Übertragung oder positive von ver-
    drängten erotischen Regungen ist. Wenn wir durch Bewußt-

  • S.

    der Ubertragung 337

    machen die Übertragung „aufheben“, so lösen wir nur diese
    beiden Komponenten des Gefiihlsaktes von der Person des
    Arztes ab; die andere bewuftseinsfähige und unanstößige
    Komponente bleibt bestehen und ist in der Psychoanalyse
    genau ebenso die Trägerin des Erfolges wie bei anderen Be-
    handlungsmethoden. Insofern gestehen wir gerne zu, die Re-
    sultate der Psychoanalyse beruhten auf Suggestion; nur muß
    man unter Suggestion das verstehen, was wir mit Ferenczi?
    darin finden: die Beeinflussung eines Menschen vermittels der
    bei ihm möglichen Ubertragungsphånomene. Für die endliche
    Selbständigkeit des Kranken sorgen wir, indem wir die Sug-
    gestion dazu beniitzen, ihn eine psychische Arbeit vollziehen
    zu lassen, die eine dauernde Verbesserung seiner psychischen
    Situation zur notwendigen Folge hat.

    Es kann noch gefragt werden, warum die Widerstands-
    phånomene der Übertragung nur in der Psychoanalyse, nicht
    auch bei indifferenter Behandlung, z. B. in Anstalten zum
    Vorschein kommen. Die Antwort lautet: sie zeigen sich auch
    dort, nur miissen sie als solche gewiirdigt werden. Das Her-
    vorbrechen der negativen Ubertragung ist in Anstalten sogar
    recht häufig. Der Kranke verläßt eben die Anstalt ungeåndert
    oder rückfällig, sobald er unter die Herrschaft der negativen
    Ubertragung geråt. Die erotische Ubertragung wirkt in An-
    stalten nicht so hemmend, da sie dort wie im Leben beschó-
    nigt, anstatt aufgedeckt wird; sie äußert sich aber ganz deut-
    lich als Widerstand gegen die Genesung, zwar nicht, indem
    sie den Kranken aus der Anstalt treibt, — sie hilt ihn im
    Gegenteil in der Anstalt zurück, — wohl aber dadurch, daß
    sie ihn vom Leben ferne hilt. Für die Genesung ist es nämlich
    recht gleichgiiltig, ob der Kranke in der Anstalt diese oder jene

    9) Ferenczi, Intrøjektion und Ubertragung, Jahrbuch fiir
    Psychoanalyse, Bd. I, 1909. (Auch in „Bausteine zur Psycho-
    analyse", Bd.L, S.9 ff.)

    22 Freud, Schriften zur Neurosenlehre

  • S.

    338 Zur Dynamik

    Angst oder Hemmung überwindet; es kommt vielmehr
    darauf an, daß er auch in der Realität seines Lebens davon
    frei wird.

    Die negative Übertragung verdiente eine eingehende
    Würdigung, die ihr im Rahmen dieser Ausführungen nicht
    zuteil werden kann. Bei den heilbaren Formen von Psycho-
    neurosen findet sie sich neben der zärtlichen Übertragung,
    oft gleichzeitig auf die nämliche Person gerichtet, für welchen
    Sachverhalt Bleuler den guten Ausdruck Ambivalenz
    geprägt hat." Eine solche Ambivalenz der Gefühle scheint
    bis zu einem gewissen Maße normal zu sein, aber ein hoher
    Grad von Ambivalenz der Gefühle ist gewiß eine besondere
    Auszeichnung neurotischer Personen. Bei der Zwangsneurose
    scheint eine frühzeitige „Trennung der Gegensatzpaare“ für
    das Triebleben charakteristisch zu sein und eine ihrer kon-
    stitutionellen Bedingungen darzustellen. Die Ambivalenz der
    Gefiihlsrichtungen erklärt uns am besten die Fähigkeit der
    Neurotiker, ihre Ubertragungen in den Dienst des Wider-
    standes zu stellen. Wo die Ubertragungsfåhigkeit im wesent-
    lichen negativ geworden ist, wie bei den Paranoiden, da hört
    die Möglichkeit der Beeinflussung und der Heilung auf.

    Mit allen diesen Erórterungen haben wir aber bisher nur
    eine Seite des Ubertragungsphånomens gewürdigt; es wird
    erfordert, unsere Aufmerksamkeit einem anderen Aspekt der-
    selben Sache zuzuwenden. Wer sich den richtigen Eindruck
    davon geholt hat, wie der Analysierte aus seinen realen Be-
    ziehungen zum Arzte herausgeschleudert wird, sobald er
    unter die Herrschaft eines ausgiebigen Ubertragungswider-

    10) E. Bleuler, Dementia praecox oder Gruppe der Schizo-
    phrenien in Aschaffenburgs Handbuch der Psychiatrie,
    1911. — Vortrag iiber Ambivalenz in Bern 1910, referiert in
    Zentralblatt f. PsA. I, p. 266. — Für die gleichen Phänomene
    hatte №. Stekel vorher die Bezeichnung ,Bipolaritär*
    vorgeschlagen.

  • S.

    der Ubertragung 339

    standes gerät, wie er sich dann die Freiheit herausnimmt, die
    psychoanalytische Grundregel zu vernachlässigen, daß man
    ohne Kritik alles mitteilen solle, was einem in den Sinn
    kommt, wie er die Vorsitze vergißt, mit denen er in die
    Behandlung getreten war, und wie ihm logische Zusammen-
    hinge und Schliisse nun gleichgültig werden, die ihm kurz
    vorher den größten Eindruck gemacht hatten, der wird das
    Bediirfnis haben, sich diesen Eindruck noch aus anderen als
    den bisher angeführten Momenten zu erklären, und solche
    liegen in der Tat nicht ferne; sie ergeben sich wiederum aus
    der psychologischen Situation, in welche die Kur den
    Analysierten versetzt hat.

    In der Aufspürung der dem Bewußten abhanden ge-
    kommenen Libido ist man in den Bereich des Unbewußten
    eingedrungen. Die Reaktionen, die man erzielt, bringen nun
    manches von den Charakteren unbewußter Vorgänge mit
    ans Licht, wie wir sie durch das Studium der Träume kennen
    gelernt haben. Die unbewußten Regungen wollen nicht er-
    innert werden, wie die Kur es wünscht, sondern sie streben
    danach, sich zu reproduzieren, entsprechend der Zeitlosigkeit
    und der Halluzinationsfähigkeit des Unbewußten. Der
    Kranke spricht ähnlich wie im Traume den Ergebnissen der
    Erweckung seiner unbewuften Regungen Gegenwärtigkeit
    und Realität zu; er will seine Leidenschaften agieren, ohne
    auf die reale Situation Rücksicht zu nehmen. Der Arzt will
    ihn dazu nätigen, diese Gefühlsregungen in den Zusammen-
    hang der Behandlung und in den seiner Lebensgeschichte
    einzureihen, sie der denkenden Betrachtung unterzuordnen
    und nach ihrem psychischen Werte zu erkennen. Dieser
    Kampf zwischen Arzt und Patienten, zwischen Intellekt und
    Triebleben, zwischen Erkennen und Agierenwollen spielt sich
    fast ausschlieBlich an den Ubertragungsphånomenen ab. Auf
    diesem Felde muß der Sieg gewonnen werden, dessen Aus-

    22%

  • S.

    340 Ratschläge für den Arzt

    druck die dauernde Genesung von der Neurose ist. Es ist
    unleugbar, daß die Bezwingung der Übertragungsphänomene
    dem Psychoanalytiker die größten Schwierigkeiten bereitet,
    aber man darf nicht vergessen, daß gerade sie uns den un-
    schätzbaren Dienst erweisen, die verborgenen und ver-
    gessenen Liebesregungen der Kranken aktuell und manifest
    zu machen, denn schlieflich kann niemand in absentia oder
    in effigie erschlagen werden.

    RATSCHLAGE FUR DEN ARZT
    BEI DER PSYCHOANALYTISCHEN
    BEHANDLUNG
    (1912)

    Die technischen Regeln, die ich hier in Vorschlag bringe,
    haben sich mir aus der langjåhrigen eigenen Erfahrung er-
    geben, nachdem ich durch eigenen Schaden von der Ver-
    folgung anderer Wege zurückgekommen war. Man wird
    leicht bemerken, daf sie sich, wenigstens viele von ihnen,
    zu einer einzigen Vorschrift zusammensetzen. Ich hoffe, daß
    ihre Berücksichtigung den analytisch tätigen Arzten viel
    unniitzen Aufwand ersparen und sie vor manchem Uber-
    sehen behüten wird; aber ich muß ausdrücklich sagen, diese
    Technik hat sich als die einzig zweckmäfige fiir meine
    Individualitit ergeben; ich wage es nicht in Abrede zu
    stellen, daß eine ganz anders konstituierte ärztliche Persön-
    lichkeit dazu gedringt werden kann, eine andere Einstellung
    gegen den Kranken und gegen die zu lósende Aufgabe zu
    bevorzugen.

    a) Die nächste Aufgabe, vor die sich der Analytiker ge-
    stellt sieht, der mehr als einen Kranken im Tage so behandelt,