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WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE
Rede auf dem V. Psychoanalytischen Kongress in Budapest, Sept. 1918.
Meine Herren Kollegen!
Sie wissen, wir waren nie stolz auf die Vollständigkeit und
Abgeschlossenheit unseres Wissens und Könnens; wir sind, wie
früher so auch jetzt, immer bereit, die Unvollkommenheiten
unserer Erkenntnis zuzugeben, Neues dazuzulernen und an
unserem Vorgehen abzuändern, was sich durch Besseres er-
setzen läßt.Da wir nun nach langen, schwer durchlebten Jahren der
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Trennung wieder einmal zusammengetroffen sind, reizt es
mich, den Stand unserer Therapie zu revidieren, der wir ja
unsere Stellung in der menschlichen Gesellschaft danken, und
Ausschau zu halten, nach welchen neuen Richtungen sie sich
entwickeln könnte.Wir haben als unsere ärztliche Aufgabe formuliert, den
neurotisch Kranken zur Kenntnis der in ihm bestehenden
unbewußten, verdrängten Regungen zu bringen und zu diesem
Zwecke die Widerstände aufzudecken, die sich in ihm gegen
solche Erweiterungen seines Wissens von der eigenen Person
sträuben. Wird mit der Aufdeckung dieser Widerstände auch
deren Überwindung gewährleistet? Gewiß nicht immer, aber
wir hoffen, dieses Ziel zu erreichen, indem wir seine Über-
tragung auf die Person des Arztes ausnützen, um unsere
Überzeugung von der Unzweckmäßigkeit der in der Kindheit
vorgefallenen Verdrängungsvorgänge und von der Undurch-
führbarkeit eines Lebens nach dem Lustprinzip zu der seinigen
werden zu lassen. Die dynamischen Verhältnisse des neuen
Konflikts, durch den wir den Kranken führen, den wir an
die Stelle des früheren Krankheitskonflikts bei ihm gesetzt
haben, sind von mir an anderer Stelle klargelegt worden.
Daran weiß ich derzeit nichts zu ändern.Die Arbeit, durch welche wir dem Kranken das verdrängte
Seelische in ihm zum Bewußtsein bringen, haben wir Psycho-
analyse genannt. Warum „Analyse“, was Zerlegung, Zer-
setzung bedeutet und an eine Analogie mit der Arbeit des
Chemikers an den Stoffen denken läßt, die er in der Natur
vorfindet und in sein Laboratorium bringt? Weil eine solche
Analogie in einem wichtigen Punkte wirklich besteht. Die
Symptome und krankhaften Äußerungen des Patienten sind
wie alle seine seelischen Tätigkeiten hochzusammengesetzter
Natur; die Elemente dieser Zusammensetzung sind im letzten
Grunde Motive, Triebregungen. Aber der Kranke weiß vonS.
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diesen elementaren Motiven nichts oder nur sehr Ungenügen-
des. Wir lehren ihn nun die Zusammensetzung dieser hoch-
komplizierten seelischen Bildungen verstehen, führen die
Symptome auf die sie motivierenden Triebregungen zurück,
weisen diese dem Kranken bisher unbekannten Triebmotive
in den Symptomen nach, wie der Chemiker den Grundstoff,
das chemische Element, aus dem Salz ausscheidet, in dem es
in Verbindung mit anderen Elementen unkenntlich geworden
war. Und ebenso zeigen wir dem Kranken an seinen nicht für
krankhaft gehaltenen seelischen Äußerungen, daß ihm deren
Motivierung nur unvollkommen bewußt war, daß andere
Triebmotive bei ihnen mitgewirkt haben, die ihm unerkannt
geblieben sind.Auch das Sexualstreben der Menschen haben wir erklärt,
indem wir es in seine Komponenten zerlegten, und wenn wir
einen Traum deuten, gehen wir so vor, daß wir den Traum
als Ganzes vernachlässigen und die Assoziation an seine ein-
zelnen Elemente anknüpfen.Aus diesem berechtigten Vergleich der ärztlichen psycho-
analytischen Tätigkeit mit einer chemischen Arbeit könnte
sich nun eine Anregung zu einer neuen Richtung unserer
Therapie ergeben. Wir haben den Kranken analysiert,
das heißt seine Seelentätigkeit in ihre elementaren Bestandteile
zerlegt, diese Triebelemente einzeln und isoliert in ihm auf-
gezeigt; was läge nun näher als zu fordern, daß wir ihm auch
bei einer neuen und besseren Zusammensetzung derselben
behilflich sein müssen? Sie wissen, diese Forderung ist auch
wirklich erhoben worden. Wir haben gehört: Nach der
Analyse des kranken Seelenlebens muß die Synthese desselben
folgen! Und bald hat sich daran auch die Besorgnis geknüpft,
man könnte zu viel Analyse und zu wenig Synthese geben,
und das Bestreben, das Hauptgewicht der psychotherapeuti-
schen Einwirkung auf diese Synthese, eine Art WiederherstellungS.
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des gleichsam durch die Vivisektion Zerstörten, zu
verlegen.Ich kann aber nicht glauben, meine Herren, daß uns in
dieser Psychosynthese eine neue Aufgabe zuwächst. Wollte ich
mir gestatten, aufrichtig und unhöflich zu sein, so würde ich
sagen, es handelt sich da um eine gedankenlose Phrase. Ich
bescheide mich zu bemerken, daß nur eine inhaltsleere Über-
dehnung eines Vergleiches, oder, wenn Sie wollen, eine unbe-
rechtigte Ausbeutung einer Namengebung vorliegt. Aber ein
Name ist nur eine Etikette, zur Unterscheidung von anderem,
ähnlichem, angebracht, kein Programm, keine Inhaltsangabe
oder Definition. Und ein Vergleich braucht das Verglichene
nur an einem Punkte zu tangieren und kann sich in allen
anderen weit von ihm entfernen. Das Psychische ist etwas so
einzig Besonderes, daß kein vereinzelter Vergleich seine Natur
wiedergeben kann. Die psychoanalytische Arbeit bietet
Analogien mit der chemischen Analyse, aber ebensolche mit
dem Eingreifen des Chirurgen oder der Einwirkung des
Orthopäden oder der Beeinflussung des Erziehers. Der Ver-
gleich mit der chemischen Analyse findet seine Begrenzung
darin, daß wir es im Seelenleben mit Strebungen zu tun
haben, die einem Zwang zur Vereinheitlichung und Zu-
sammenfassung unterliegen. Ist es uns gelungen, ein Symptom
zu zersetzen, eine Triebregung aus einem Zusammenhange zu
befreien, so bleibt sie nicht isoliert, sondern tritt sofort in einen neuen ein.23Ja, im Gegenteil! Der neurotisch Kranke bringt uns ein
zerrissenes, durch Widerstände zerklüftetes Seelenleben ent-
gegen, und während wir daran analysieren, die Widerstände23) Ereignet sich doch während der chemischen Analyse etwas
ganz Ähnliches. Gleichzeitig mit den Isolierungen, die der Chemiker
erzwingt, vollziehen sich von ihm ungewollte Synthesen dank der
freigewordenen Affinitäten und der Wahlverwandtschaft der Stoffe.S.
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beseitigen, wächst dieses Seelenleben zusammen, fügt die große
Einheit, die wir sein Ich heißen, sich alle die Triebregungen
ein, die bisher von ihm abgespalten und abseits gebunden
waren. So vollzieht sich bei dem analytisch Behandelten die
Psychosynthese ohne unser Eingreifen, automatisch und un-
ausweichlich. Durch die Zersetzung der Symptome und die
Aufhebung der Widerstände haben wir die Bedingungen für
sie geschaffen. Es ist nicht wahr, daß etwas in dem Kranken
in seine Bestandteile zerlegt ist, was nun ruhig darauf wartet,
bis wir es irgendwie zusammensetzen.Die Entwicklung unserer Therapie wird also wohl andere
Wege einschlagen, vor allem jenen, den kürzlich Ferenczi
in seiner Arbeit über „Technische Schwierigkeiten einer
Hysterieanalyse“ (Internat. Zschr. f. Psychoanalyse V, 1919)
als die „Aktivität“ des Analytikers gekennzeichnet hat.Einigen wir uns rasch, was unter dieser Aktivität zu ver-
stehen ist. Wir umschrieben unsere therapeutische Aufgabe
durch die zwei Inhalte: Bewußtmachen des Verdrängten und
Aufdeckung der Widerstände. Dabei sind wir allerdings aktiv
genug. Aber sollen wir es dem Kranken überlassen, allein mit
den ihm aufgezeigten Widerständen fertig zu werden?
Können wir ihm dabei keine andere Hilfe leisten, als er durch
den Antrieb der Übertragung erfährt? Liegt es nicht vielmehr
sehr nahe, ihm auch dadurch zu helfen, daß wir ihn in jene
psychische Situation versetzen, welche für die erwünschte
Erledigung des Konflikts die günstigste ist? Seine Leistung ist
doch auch abhängig von einer Anzahl von äußerlich kon-
stellierenden Umständen. Sollen wir uns da bedenken, diese
Konstellation durch unser Eingreifen in geeigneter Weise zu
verändern? Ich meine, eine solche Aktivität des analytisch
behandelnden Arztes ist einwandfrei und durchaus gerecht-
fertigt.Sie bemerken, daß sich hier für uns ein neues Gebiet der
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analytischen Technik eröffnet, dessen Bearbeitung eingehende
Bemühung erfordern und ganz bestimmte Vorschriften ergeben
wird. Ich werde heute nicht versuchen, Sie in diese noch in
Entwicklung begriffene Technik einzuführen, sondern mich
damit begnügen, einen Grundsatz hervorzuheben, dem wahr-
scheinlich die Herrschaft auf diesem Gebiete zufallen wird. Er
lautet: Die analytische Kur soll, soweit es
möglich ist, in der Entbehrung – Abstinenz
– durchgeführt werden.Wie weit es möglich ist, dies festzustellen, bleibe einer
detaillierten Diskussion überlassen. Unter Abstinenz ist aber
nicht die Entbehrung einer jeglichen Befriedigung zu ver-
stehen – das wäre natürlich undurchführbar – auch nicht,
was man im populären Sinne darunter versteht, die Ent-
haltung vom sexuellen Verkehr, sondern etwas anderes, was
mit der Dynamik der Erkrankung und der Herstellung weit
mehr zu tun hat.Sie erinnern sich daran, daß es eine Versagung war,
die den Patienten krank gemacht hat, daß seine Symptome
ihm den Dienst von Ersatzbefriedigungen leisten. Sie können
während der Kur beobachten, daß jede Besserung seines
Leidenszustandes das Tempo der Herstellung verzögert und
die Triebkraft verringert, die zur Heilung drängt. Auf diese
Triebkraft können wir aber nicht verzichten; eine Ver-
ringerung derselben ist für unsere Heilungsabsicht gefährlich.
Welche Folgerung drängt sich uns also unabweisbar auf? Wir
müssen, so grausam es klingt, dafür sorgen, daß das Leiden
des Kranken in irgendeinem wirksamen Maße kein vorzeitiges
Ende finde. Wenn es durch die Zersetzung und Entwertung
der Symptome ermäßigt worden ist, müssen wir es irgendwo
anders als eine empfindliche Entbehrung wieder aufrichten,
sonst laufen wir Gefahr, niemals mehr als bescheidene und
nicht haltbare Besserungen zu erreichen.S.
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Die Gefahr droht, soviel ich sehe, besonders von zwei
Seiten. Einerseits ist der Patient, dessen Kranksein durch die
Analyse erschüttert worden ist, aufs emsigste bemüht, sich an
Stelle seiner Symptome neue Ersatzbefriedigungen zu schaffen,
denen nun der Leidenscharakter abgeht. Er bedient sich der
großartigen Verschiebbarkeit der zum Teil freigewordenen
Libido, um die mannigfachsten Tätigkeiten, Vorlieben, Ge-
wohnheiten, auch solche, die bereits früher bestanden haben,
mit Libido zu besetzen und sie zu Ersatzbefriedigungen zu
erheben. Er findet immer wieder neue solche Ablenkungen,
durch welche die zum Betrieb der Kur erforderte Energie ver-
sickert, und weiß sie eine Zeitlang geheim zu halten. Man
hat die Aufgabe, alle diese Abwege aufzuspüren und jedesmal
von ihm den Verzicht zu verlangen, so harmlos die zur Be-
friedigung führende Tätigkeit auch an sich erscheinen mag.
Der Halbgeheilte kann aber auch minder harmlose Wege ein-
schlagen, zum Beispiel indem er, wenn ein Mann, eine vor-
eilige Bindung an ein Weib aufsucht. Nebenbei bemerkt,
unglückliche Ehe und körperliches Siechtum sind die gebräuch-
lichsten Ablösungen der Neurose. Sie befriedigen insbesondere
das Schuldbewußtsein (Strafbedürfnis), welches viele Kranke
so zähe an ihrer Neurose festhalten läßt. Durch eine unge-
schickte Ehewahl bestrafen sie sich selbst; langes organisches
Kranksein nehmen sie als eine Strafe des Schicksals an und
verzichten dann häufig auf eine Fortführung der Neurose.Die Aktivität des Arztes muß sich in all solchen Situationen
als energisches Einschreiten gegen die voreiligen Ersatz-
befriedigungen äußern. Leichter wird ihm aber die Ver-
wahrung gegen die zweite, nicht zu unterschätzende Gefahr,
von der die Triebkraft der Analyse bedroht wird. Der Kranke
sucht vor allem die Ersatzbefriedigung in der Kur selbst im
Übertragungsverhältnis zum Arzt und kann sogar danach
streben, sich auf diesem Wege für allen ihm sonst auferlegtenS.
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Verzicht zu entschädigen. Einiges muß man ihm ja wohl ge-
währen, mehr oder weniger, je nach der Natur des Falles und
der Eigenart des Kranken. Aber es ist nicht gut, wenn es zu
viel wird. Wer als Analytiker etwa aus der Fülle seines hilfs-
bereiten Herzens dem Kranken alles spendet, was ein Mensch
vom anderen erhoffen kann, der begeht denselben ökonomi-
schen Fehler, dessen sich unsere nicht analytischen Nerven-
heilanstalten schuldig machen. Diese streben nichts anderes
an, als es dem Kranken möglichst angenehm zu machen, damit
er sich dort wohlfühle und gerne wieder aus den Schwierig-
keiten des Lebens seine Zuflucht dorthin nehme. Dabei ver-
zichten sie darauf, ihn für das Leben stärker, für seine
eigentlichen Aufgaben leistungsfähiger zu machen. In der
analytischen Kur muß jede solche Verwöhnung vermieden
werden. Der Kranke soll, was sein Verhältnis zum Arzt be-
trifft, unerfüllte Wünsche reichlich übrig behalten. Es ist
zweckmäßig, ihm gerade die Befriedigungen zu versagen, die
er am intensivsten wünscht und am dringendsten äußert.Ich glaube nicht, daß ich den Umfang der erwünschten
Aktivität des Arztes mit dem Satze: In der Kur sei die Ent-
behrung aufrecht zu halten, erschöpft habe. Eine andere
Richtung der analytischen Aktivität ist, wie Sie sich erinnern
werden, bereits einmal ein Streitpunkt zwischen uns und der
Schweizer Schule gewesen. Wir haben es entschieden abge-
lehnt, den Patienten, der sich Hilfe suchend in unsere Hand
begibt, zu unserem Leibgut zu machen, sein Schicksal für ihn
zu formen, ihm unsere Ideale aufzudrängen und ihn im Hoch-
mut des Schöpfers zu unserem Ebenbild, an dem wir Wohl-
gefallen haben sollen, zu gestalten. Ich halte an dieser Ab-
lehnung auch heute noch fest und meine, daß hier die Stelle
für die ärztliche Diskretion ist, über die wir uns in anderen
Beziehungen hinwegsetzen müssen, habe auch erfahren, daß
eine so weit gehende Aktivität gegen den Patienten für dieS.
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therapeutische Absicht gar nicht erforderlich ist. Denn ich
habe Leuten helfen können, mit denen mich keinerlei Gemein-
samkeit der Rasse, Erziehung, sozialen Stellung und Welt-
anschauung verband, ohne sie in ihrer Eigenart zu stören. Ich
habe damals, zur Zeit jener Streitigkeiten, allerdings den
Eindruck empfangen, daß der Einspruch unserer Vertreter
– ich glaube, es war in erster Linie E. Jones – allzu
schroff und unbedingt ausgefallen ist. Wir können es nicht
vermeiden, auch Patienten anzunehmen, die so haltlos und
existenzunfähig sind, daß man bei ihnen die analytische Beein-
flussung mit der erzieherischen vereinigen muß, und auch bei
den meisten anderen wird sich hie und da eine Gelegenheit
ergeben, wo der Arzt als Erzieher und Ratgeber aufzutreten
genötigt ist. Aber dies soll jedesmal mit großer Schonung ge-
schehen, und der Kranke soll nicht zur Ähnlichkeit mit uns,
sondern zur Befreiung und Vollendung seines eigenen Wesens
erzogen werden.Unser verehrter Freund J. Putnam in dem uns jetzt
so feindlichen Amerika muß es uns verzeihen, wenn wir
auch seine Forderung nicht annehmen können, die Psycho-
analyse möge sich in den Dienst einer bestimmten philosophi-
schen Weltanschauung stellen und diese dem Patienten zum
Zwecke seiner Veredlung aufdrängen. Ich möchte sagen, dies
ist doch nur Gewaltsamkeit, wenn auch durch die edelsten
Absichten gedeckt.Eine letzte, ganz anders geartete Aktivität wird uns durch
die allmählich wachsende Einsicht aufgenötigt, daß die ver-
schiedenen Krankheitsformen, die wir behandeln, nicht durch
die nämliche Technik erledigt werden können. Es wäre vor-
eilig, hierüber ausführlich zu handeln, aber an zwei Beispielen
kann ich erläutern, inwiefern dabei eine neue Aktivität in
Betracht kommt. Unsere Technik ist an der Behandlung der
Hysterie erwachsen und noch immer auf diese AffektionS.
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eingerichtet. Aber schon die Phobien nötigen uns, über unser
bisheriges Verhalten hinauszugehen. Man wird kaum einer
Phobie Herr, wenn man abwartet, bis sich der Kranke durch
die Analyse bewegen läßt, sie aufzugeben. Er bringt dann
niemals jenes Material in die Analyse, das zur überzeugenden
Lösung der Phobie unentbehrlich ist. Man muß anders vor-
gehen. Nehmen Sie das Beispiel eines Agoraphoben; es gibt
zwei Klassen von solchen, eine leichtere und eine schwerere.
Die ersteren haben zwar jedesmal unter der Angst zu leiden,
wenn sie allein auf die Straße gehen, aber sie haben darum
das Alleingehen noch nicht aufgegeben; die anderen schützen
sich vor der Angst, indem sie auf das Alleingehen verzichten.
Bei diesen letzteren hat man nur dann Erfolg, wenn man sie
durch den Einfluß der Analyse bewegen kann, sich wieder
wie Phobiker des ersten Grades zu benehmen, also auf die
Straße zu gehen und während dieses Versuches mit der Angst
zu kämpfen. Man bringt es also zunächst dahin, die Phobie
so weit zu ermäßigen, und erst wenn dies durch die Forderung
des Arztes erreicht ist, wird der Kranke jener Einfälle und
Erinnerungen habhaft, welche die Lösung der Phobie er-
möglichen.Noch weniger angezeigt scheint ein passives Zuwarten bei
den schweren Fällen von Zwangshandlungen, die ja im allge-
meinen zu einem „asymptotischen“ Heilungsvorgang, zu einer
unendlichen Behandlungsdauer neigen, deren Analyse immer
in Gefahr ist, sehr viel zutage zu fördern und nichts zu
ändern. Es scheint mir wenig zweifelhaft, daß die richtige
Technik hier nur darin bestehen kann, abzuwarten, bis die
Kur selbst zum Zwang geworden ist, und dann mit diesem
Gegenzwang den Krankheitszwang gewaltsam zu unter-
drücken. Sie verstehen aber, daß ich Ihnen in diesen zwei
Fällen nur Proben der neuen Entwicklungen vorgelegt habe,
denen unsere Therapie entgegengeht.S.
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Und nun möchte ich zum Schlusse eine Situation ins Auge
fassen, die der Zukunft angehört, die vielen von ihnen phan-
tastisch erscheinen wird, die aber doch verdient, sollte ich
meinen, daß man sich auf sie in Gedanken vorbereitet. Sie
wissen, daß unsere therapeutische Wirksamkeit keine sehr
intensive ist. Wir sind nur eine Handvoll Leute, und jeder
von uns kann auch bei angestrengter Arbeit sich in einem
Jahr nur einer kleinen Anzahl von Kranken widmen. Gegen das
Übermaß von neurotischem Elend, das es in der Welt gibt
und vielleicht nicht zu geben braucht, kommt das, was wir
davon wegschaffen können, quantitativ kaum in Betracht.
Außerdem sind wir durch die Bedingungen unserer Existenz
auf die wohlhabenden Oberschichten der Gesellschaft ein-
geschränkt, die ihre Ärzte selbst zu wählen pflegen und bei
dieser Wahl durch alle Vorurteile von der Psychoanalyse
abgelenkt werden. Für die breiten Volksschichten, die unge-
heuer schwer unter den Neurosen leiden, können wir derzeit
nichts tun.Nun lassen Sie uns annehmen, durch irgend eine Organi-
sation gelänge es uns, unsere Zahl so weit zu vermehren, daß
wir zur Behandlung von größeren Menschenmassen ausreichen.
Anderseits läßt sich vorhersehen: Irgend einmal wird das
Gewissen der Gesellschaft erwachen und sie mahnen, daß der
Arme ein ebensolches Anrecht auf seelische Hilfeleistung hat
wie bereits jetzt auf lebensrettende chirurgische. Und daß die
Neurosen die Volksgesundheit nicht minder bedrohen als die
Tuberkulose und ebensowenig wie diese der ohnmächtigen
Fürsorge des Einzelnen aus dem Volke überlassen werden
können. Dann werden also Anstalten oder Ordinationsinstitute
errichtet werden, an denen psychoanalytisch ausgebildete Ärzte
angestellt sind, um die Männer, die sich sonst dem Trunk er-
geben würden, die Frauen, die unter der Last der Entsagungen
zusammenzubrechen drohen, die Kinder, denen nur die WahlS.
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zwischen Verwilderung und Neurose bevorsteht, durch Analyse
widerstands‑ und leistungsfähig zu erhalten. Diese Behandlun-
gen werden unentgeltliche sein. Es mag lange dauern, bis der
Staat diese Pflichten als dringende empfindet. Die gegen-
wärtigen Verhältnisse mögen den Termin noch länger hinaus-
schieben, es ist wahrscheinlich, daß private Wohltätigkeit mit
solchen Instituten den Anfang machen wird; aber irgend
einmal wird es dazu kommen müssen.Dann wird sich für uns die Aufgabe ergeben, unsere Technik
den neuen Bedingungen anzupassen. Ich zweifle nicht daran,
daß die Triftigkeit unserer psychologischen Annahmen auch
auf den Ungebildeten Eindruck machen wird, aber wir werden
den einfachsten und greifbarsten Ausdruck unserer theoreti-
schen Lehren suchen müssen. Wir werden wahrscheinlich die
Erfahrung machen, daß der Arme noch weniger zum Verzicht
auf seine Neurose bereit ist als der Reiche, weil das schwere
Leben, das auf ihn wartet, ihn nicht lockt, und das Kranksein
ihm einen Anspruch mehr auf soziale Hilfe bedeutet. Mög-
licherweise werden wir oft nur dann etwas leisten können,
wenn wir die seelische Hilfeleistung mit materieller Unter-
stützung nach Art des Kaiser Josef vereinigen können. Wir
werden auch sehr wahrscheinlich genötigt sein, in der Massen-
anwendung unserer Therapie das reine Gold der Analyse
reichlich mit dem Kupfer der direkten Suggestion zu legieren,
und auch die hypnotische Beeinflussung könnte dort wie bei
der Behandlung der Kriegsneurotiker wieder eine Stelle finden.
Aber wie immer sich auch diese Psychotherapie fürs Volk
gestalten, aus welchen Elementen sie sich zusammensetzen mag,
ihre wirksamsten und wichtigsten Bestandteile werden gewiß
die bleiben, die von der strengen, der tendenzlosen Psycho-
analyse entlehnt worden sind.
Rede auf dem V. Psychoanalyitschen Kongreß in Budapest, Sept. 1918
freud-1931-neurosenlehre
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